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INTERVIEW/010: Hommage an Mikis Theodorakis - Gerhard Folkerts zum künstlerischen Volkslied (SB)


"Die Geschichte wird zeigen, welche Fassung überlebt"

Interview mit Gerhard Folkerts am 3. April 2012 in Wedel (Teil 2)

Gerhard Folkerts - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gerhard Folkerts
Foto: © 2012 by Schattenblick

Im ersten Teil des Interviews mit dem Komponisten, Konzertpianisten und Theodorakis-Kenner Gerhard Folkerts hatte der Schattenblick gemeinsam mit ihm politische Aspekte seiner eigenen Vita und der Lebensgeschichte von Mikis Theodorakis beleuchtet. Schwerpunkte des zweiten Teils sind nun das beiderseitige musikalische Schaffen und dessen vielfältige Verknüpfungen.

Schattenblick: Wie haben Sie Mikis Theodorakis von der musikalischen Seite her für sich persönlich wiederentdeckt?

Gerhard Folkerts: Natürlich kannte ich aus der 68er Zeit viele seiner Lieder, und in meiner Generation kennt jeder den Film "Alexis Sorbas". Ich kannte "Canto General", aber "Axion Esti", aus dem wir vorgestern ein Lied vortrugen, war mir nicht bekannt, obwohl es in Griechenland viel populärer ist und in viel höherer Auflage vorliegt als "Alexis Sorbas". Bei mir war das so, daß ich in einer Athener Musikalienhandlung Kammermusik und klassische Musik von Theodorakis entdeckte. Eine geraume Zeit lagerte die Notensammlung unter meinem Flügel in diesem berühmten Haufen, wo man alles ablegt, was man sich später noch anschauen möchte. Schließlich habe ich das durchgespielt und gestaunt, was für eine wunderbare Musik es doch ist. Ich habe eine CD aufgenommen und sie Theodorakis geschickt. Seine Antwort bestand nur aus einem einzigen Satz: Wenn ich Pianist wäre, würde ich meine Sachen so spielen wie Sie.

Also habe ich zu meiner Frau gesagt, wir müssen jetzt unbedingt nach Athen reisen. Bei Theodorakis verhielt es sich so, daß er jeden Tag in einem Intervall von 20 Minuten Gäste aus der ganzen Welt empfing, Dirigenten, Politiker, Philosophen. Die Besuche sind also zeitlich genau abgestimmt. Meine Frau hatte für ihr Institut Veranstaltungen in Athen zu organisieren. Wir sind dann zusammen hingeflogen, und ich habe Theodorakis besucht. Er spricht die französische Sprache ja fließend, ich leider kein einziges Wort Französisch. Also haben wir uns beide in gebrochenem Englisch unterhalten. Wir haben uns dann immer gefreut, wenn wir gemeinsam nach Worten suchten. Heute geht das ganz locker. Aus seiner Zeit als Minister von 1981 bis 1991 hatte er noch einen Chauffeur und eine Sekretärin, eine Griechin, die fließend Deutsch, Englisch und Französisch spricht. Das war so ein Glücksfall. Sie saß zu Anfang mit uns zusammen und hat dann oft ins Griechische übersetzt. Als ich das zweite Mal bei ihm war, sagte er nach zehn Minuten zu ihr, sie solle kurz hinausgehen. Dann sagte er zu mir, daß Musiker in der Regel zu ihm kommen, um sich mit seinem Namen zu preisen und sonst kein anderes Interesse hätten. Sie stellten immer stilistische Fragen, warum manche Stücke so und nicht anders komponiert sind.

Es gibt dieses großartige Lied "Oropos" - Oropos ist ein Gefängnis oder Lager an der Grenze Athens, in dem auch Theodorakis während der Militärdiktatur inhaftiert war. Das habe ich einmal Hamburger Studenten bei einem Vortrag vorgespielt, die den Text nicht verstanden. "Vergiß nicht Oropos", heißt es im Text. Im Anschluß habe ich sie gefragt, welchen Eindruck sie hatten, und sie sagten, das wäre ein schönes Schunkellied. Dann habe ich ihnen den Text vorgelesen, und sie waren total betroffen. Ich habe Theodorakis dann nach dem Stück gefragt, und er sagte, ihr Deutschen habt ein ganz larmoyantes und trauriges Lied daraus gemacht. Spielten wir das bei uns auf diese Weise, würden mir alle rausrennen aus dem Konzert. Hier singen das alle mit, alle verfügen über diesen Text. Darüber sei eben ein anderer Bezug entstanden.

SB: Ich weiß nicht, ob es dafür anderswo überhaupt ein Beispiel gibt, aber Theodorakis hat ja die sogenannte Kunstmusik mit der Volksmusik auf erstaunliche Weise zusammengeführt, so daß die Lieder überall im Alltag wie ein Volkslied gesungen werden, die aber einen sehr künstlerischen und weitreichenden Hintergrund haben.

GF: Es gibt einen Terminus, den wir in Deutschland nicht haben, nämlich das künstlerische Volkslied, das Theodorakis eigentlich geschaffen hat und das mittlerweile auch in die Musikwissenschaften eingegangen ist. Er hat den melodiösen Kern wie in Volksliedern nachgeschaffen und dabei eben große Literatur vertont, also von den beiden Nobelpreisträgern Giorgos Seferis und Odysseas Elytis. Der dritte ist Jannis Ritsos, der jedoch keinen Nobelpreis bekommen hat, weil er in der kommunistischen Partei war. Eventuell wäre es heute anders. So singen die Menschen in den Tavernen und anderswo diese große Literatur. Das ist eines seiner großen Verdienste. Auf diese Weise hat er mehrere Wurzeln zusammengeführt.

Eigentlich kommt Theodorakis ganz stark von der byzantinischen Kirchenmusik her. Als Kind hatte er diese wunderbaren Hymnen von den Großeltern und Eltern immer wieder gehört. Er hat auch gesagt, daß die Griechen die Kirchen nicht aus dem Grund besuchen, daß sie tief gläubig sind, sondern daß die Kirche in den 400 Jahren Osmanischer Besetzung ein Hort des Widerstands war. Daher hat sie noch heute ihre Bedeutung, und die Mehrheit der griechischen Bevölkerung würde dies auch wissen und ebendaher diese Institution nach wie vor stützen. Für ihn sei es ein Vorteil gewesen, daß er eine der musikalischen Wurzeln im griechischen Liedgut, nämlich die byzantinische Musik, gleich mit aufgesogen habe.

Der andere Einfluß kam von der Volksmusik, was daran gelegen habe, daß sein Vater Beamter und sogar Staatssekretär beim ersten demokratisch gewählten Präsidenten gewesen war. Da die Regierungen permanent wechselten, erst kam die Monarchie wieder, dann die Demokratie, mußte sich der Vater mehrfach einen neuen Job als Jurist suchen. Er wurde immer wieder versetzt und ist so durch die verschiedensten Regionen Griechenlands gekommen, wo er die unterschiedlichen Volksmusiken kennengelernt hat. Epiros und Kreta sind Welten in der Musik. All das hat Theodorakis in sich aufgenommen und letzten Endes in seiner Musik verarbeitet. Er wußte bis 1958 noch nicht, wie er diese Kluft, über die ich vorhin bei Berg, Webern und Eisler sprach, auch in Griechenland musikalisch überwinden konnte.

Als er von 1954 bis 1959 in Paris bei Olivier Messiaen studierte, der als der große europäische Komponist galt, bei dem auch Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis lernten, hat er sich "Epitaphios" von Jannis Ritsos schicken lassen. Da sieht er eine Mutter über einem erschossenen Jungen von streikenden Tabbakarbeitern 1936‍ ‍in Thessaloniki, und ihm wird schlagartig bewußt, daß die Mutter im Grunde das große Symbol Griechenlands ist. Er verfaßte die "Ballade vom toten Bruder", in der es um eine Mutter geht, deren beiden Söhne im Bürgerkrieg auf entgegengesetzten Seiten kämpfen. Im Traum stechen sie ihre Messer in die Erde und versprechen ihrer Mutter am Totenbett, einander nicht länger zu bekriegen. Er instrumentierte den Zyklus mit den traditionellen volkstümlichen Instrumenten Bouzouki und Santouri und schickte es aus seinem Exil nach Griechenland.

Dort arrangierte der Komponist Manos Hadjidakis, der unter anderem die Filmmusik für "Sonntags nie" mit dem bekannten Lied "Ein Schiff wird kommen" geschrieben hat, den Zyklus jedoch auf die herkömmliche Weise westlicher Musik. Theodorakis war furchtbar wütend und erklärte, genau so habe er sich das nicht vorgestellt. Ritsos gab zu bedenken, man könne doch diese große Literatur nicht mit den Volksmusikinstrumenten aufführen. Als Hadjidakis auf seiner Auffassung bestand und mit Nana Mouskouri bereits eine LP eingespielt hatte, war Theodorakis vollends außer sich. Er instrumenierte den Zyklus mit dem Volkssänger Grigoris Bithikotsis auf seine eigene Weise und sagte den schönen Satz, die Geschichte werde zeigen, welche Fassung überlebt. Das Ergebnis ist bekannt, und seitdem mag Nana Mouskouri ihn nicht leiden und singt Theodorakis nicht mehr. Ich persönlich finde das auch garnicht schlimm, weil es Maria Farantouri, Julia Schilinski und andere Sängerinnen gibt, die ein klares Bewußtsein haben und nicht immer Tulpen nach Amsterdam tragen müssen.

Gerhard Folkerts beim Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Es steckt viel mehr in der klassischen Musik ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Auf der Vietnam-Veranstaltung in der Hamburger Universität haben Sie, obgleich Sie eine klassische Ausbildung genossen hatten, ein musikalisches Theodorakis-Motiv in gewisser Weise in einer Art Kunstform zu einer politischen Aussage gebracht, obwohl man das normalerweise nicht miteinander verbinden würde. Kennen Sie dafür auch eine vergleichbare Entwicklung hier in Deutschland?

GF: Ja, aber ich denke, daß diese Verbindung eigentlich immer vorhanden war. Wenn ich mir die Biographie Beethovens ansehe oder Mozarts Fidelio, der die Ideale gleicher freier Brüderlichkeit im Wien Metternichs durch die Oper durchzusetzen versuchte, obwohl es ihn hätte den Kopf kosten können, und die Oper zweimal von der Zensur verboten wurde, was die meisten Menschen gar nicht wissen, so daß er den Text immer wieder überarbeiten mußte, bis sein Stück endlich aufgeführt werden konnte, läßt sich erkennen, daß ihre Haltung eine eindeutige Richtung hatte. Das ist ja gerade das Faszinierende daran, und das müßte viel stärker in den klassischen Konzerten vermittelt werden und nicht mehr nur die absolute Musik. Es steckt viel mehr an Inhalten in dieser absoluten Musik, und wenn das nicht transparent wird, dann geht es auch mit der klassischen Musik bergab. Wenn das einzige Ziel darin besteht, sie nur zu vermarkten und einen Starrummel aufzuführen, dann ist das Ende der klassischen Musik gekommen. Bartók hat gesagt, wenn das nationalsozialistische Regime Ungarn besetzt, dann gehe ich. Und er hat sofort nach der Machtergreifung in ungarischen Zeitungen ganz klar gegen das Hitler-Regime Stellung bezogen und auch dargestellt, welche Folgen das für die Kultur haben würde. Tatsächlich ist er dann auch in die USA gegangen. Ich denke, man müßte viel mehr über solche Biographien vermitteln. Dann wird auch die Musik viel schöner werden.

SB: Als Laie hat man von der klassischen Musik den Eindruck, es handle sich um eine bürgerliche Hochkultur. In den Medien wird das auch so gehandhabt, indem es spezielle Klassiksender gibt, die dann ausschließlich auf diese Weise darauf referenzieren. Sehen Sie in der Musik von Beethoven oder Mozart auch Spuren einer Volks- oder widerständigen Kultur, die man geltend machen könnte?

GF: Bei uns wird immer verdrängt, daß diese Komponisten, und Beethoven vor allem, auch große Volksliedsammler waren. Diese Art der Musik hört man ja kaum noch, also spanische oder schottische Volksmusik. Da gibt es wunderbare Originalkompositionen für Klavier, Geige und Stimme. Aber das wird nie aufgeführt. Meine These ist, daß es keine klassische Musik oder Hochkultur ohne diese Volksmusik gibt. Die bürgerliche Hochkultur ist für mich eigentlich auch nichts Negatives, weil sie in ihrer historischen Zeit und in ihrem Kontext revolutionäres Potential in sich trug. Das ist eigentlich das Entscheidende, nur daß man es heute nicht so verbalisieren kann, sonst wird man gleich in eine Ecke gestellt. Aber das ist die Wahrheit.

SB: Kann man das so verstehen, daß der eigentlich sehr starke sakrale oder von der Kirche dominierte Charakter der Musik mit der der bürgerlichen Komponisten, die sich dann später davon emanzipierten, heutzutage mehr oder weniger in einen Topf geworfen wird?

GF: Nein. Man verkennt dabei vor allem die historische Entwicklung. So stellt auch die Sakralmusik nicht einen Topf dar, sondern in ihr waren, wie wenn verschiedene aristokratische Herrscher wechseln, völlig unterschiedliche Ansätze vorhanden, die auch in Richtung 1789 führten, was sich im Musikwesen, aber gerade anhand der Oper gut aufzeigen läßt. Da gibt es ein unglaubliches Potential, was der Musik auch zu einer großen Lebendigkeit verhelfen würde.

Bei Theodorakis ist das natürlich so, daß die griechische Geschichte praktisch erst Mitte des 19. Jahrhunderts und die Musikkultur eigentlich erst nach dem Ende des Bürgerkrieges beginnt. Bis dahin hat man in Griechenland keine eigene nationale Schule und Musikkultur gehabt. Sie haben mit Nikos Skalkottas einen großen Komponisten. Er war der Lieblingsschüler von Arnold Schönberg, von dem man noch gesagt hatte, daß auch er nur die Musik kannte. Er hat in Berlin studiert, und da hat man ihm geraten, Deutschland schleunigst zu verlassen. Er ist dann 1932 nach Athen zurückgegangen und konnte nirgendwo anknüpfen. Die Griechen haben ihn gar nicht verstanden, und wenn er nicht so ein hervorragender Geiger gewesen wäre und im einzigen staatlichen Orchester noch zweite Geige hätte spielen dürfen, wäre er untergegangen.

Der Großteil von Theodorakis' und Hadjidakis' Werk ist klassische Musik. Mit Hadjidakis war Theodorakis bis zur Militärdiktatur befreundet. Beide haben in ihrer Jugend viel zusammengemacht und gemeinsam Werke erarbeitet. Theodorakis hat gesagt, daß Hadjidakis ihn gefördert habe, aber dann hat er mit der Militärdiktatur sympathisiert. Das war das Ende ihrer Freundschaft. Es gibt noch immer keine eigene griechische Musikkultur, und wenn man sich die Konzertpläne anschaut oder auch mit griechischen Interpreten arbeitet, dann wollen sie am liebsten nur klassisches, romantisches Repertoire. Für mich hat das den Hintergrund, daß sie ihre eigene politische Geschichte, wie wir das auch in der Bundesrepublik kannten und wie ich es selbst erlebt habe, noch verdrängen und nicht aufgearbeitet haben. Und erst wenn dieser Moment kommt, werden sie sich auch bewußt werden, was die Komponisten in den 60er, 70er und 80er Jahren geschaffen haben.

SB: Gibt es bei Mikis Theodorakis auch eine Bezugnahme zur griechischen Antike, zum Beispiel zur Musik der Sphären oder zum mathematisch-künstlerischen Zusammenspiel?

GF: Ja, aber das empfinde ich so als Spielerei, weil es keinen konkreten mathematischen oder physikalischen Hintergrund gibt. Wenn ich mich auf Pythagoras berufe, kann ich das zwar noch mit Stimmung bringen, aber schon bei der Sphärenharmonie fängt es für mich an, keinen Sinn mehr zu ergeben. Theodorakis spricht zwar immer von Licht und Schatten, Gut und Böse, aber er konkretisiert es zum Glück und bleibt nicht im Abstrakten.

Gerhard Folkerts beim Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

"Der Fingerabdruck des Komponisten ist die Melodie"
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Wenn man Musik von Theodorakis hört, ist sie im wesentlichen harmonisch, und gleichzeitig gibt es diesen Kontakt zu Schönberg und der Zwölftonmusik.

GF: Als Schüler Schönbergs durfte man erst Zwölftonmusik komponieren, wenn man alle anderen Stile anwenden konnte. Übrigens hatte ich auch einen Lehrer hier in Hamburg an der Hochschule, der nach dieser These von Schönberg vorging. Damit besaß man ein umfangreiches Handwerkszeug. Der Fingerabdruck des Komponisten ist die Melodie. Für die Griechen ist Melodie erst einmal alles und sie singen dazu. Für sie bilden Melodie, Tanz und Instrumentalmusik eine unverbrüchliche Einheit. Am Sonntag hat man gesehen, daß Herr Rondholz plötzlich hinter mir getanzt hat. Ich hätte es gerne gesehen, aber ich konnte mich beim Spielen ja nicht umdrehen. Jedenfalls hat Eisler nur in der Frühphase Zwölftonmusik komponiert, danach nicht mehr. Später kommt ja dieses schreckliche Exil in den USA, und in dieser Not und Verzweiflung schreibt er wieder Zwölftonstücke, aber mit dem Zusammenbruch kippt das sofort wieder. Eigentlich schreibt er im Exil nur für sich, auch wenn er Professor in Los Angeles an der Musikhochschule war. Das war Ausdruck seiner eigenen Verzweiflung. Nachher, als er in der DDR lebt, schreibt er nicht mehr nur für sich, sondern auch für andere. Auch bei Theodorakis gibt es solche Momente. Für mich ist Makronissos der Klang der Massenfolterung. Er hat solche Massenfolterungen erlebt, und wenn man die erste Symphonie hört - ich schreibe gerade eine Dissertation über die musikalische Poetik des Theodorakis und da spielt die erste Symphonie eine wesentliche Rolle - , kommen da atonale Klänge vor, die aber dennoch eine Bedeutung oder Funktion haben. Und das versuche ich auch zu sagen, man darf das nicht als absolutes Werk sehen, sondern muß auch den Kontext kennen. Kein reines Instrumentalstück erschließt sich nur über die Töne. Das hat aber meines Erachtens nichts mit Bildungsbürgertum zu tun.

SB: Früher gab es noch die ganz strenge Trennung zwischen E- und U-Musik, während heutzutage die Übergänge viel fließender sind. Die Veranstaltung am Sonntag war im Grunde auch ein Gesangsvortrag, sehr mitreißend und eingehend, aber normalerweise würde man sagen, das ist keine verwertungsfähige Populärkultur. Wie sehen Sie dieses Verhältnis, zumal es Ihnen nicht unwesentlich darum geht, Musik gerade im Zusammenhang mit Text als gesellschaftliches Vermittlungsmodul zu nutzen? Inwieweit würden Sie sich populären Formen annähern?

GF: Ich denke, daß zunächst die Frage zu klären wäre, was denn populäre Musik ist. Für mich war die Veranstaltung am Sonntag eigentlich populär. Die andere Frage ist, ob ich die Generation, von der wir hier sprechen, mit ihren Mitteln abholen muß. Das glaube ich aber nicht, denn auch diese Generation wird älter und und damit verändert sich auch ihr Bewußtsein. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Die Jüngeren haben mir vor zehn Jahren gesagt, das ist nicht meine Musik, aber heute sagen sie plötzlich, ich habe die Sachen jetzt ganz anders wahrgenommen. Die eigentliche Frage ist doch, was in meinem Spektrum drin ist. Ich könnte zum Beispiel nicht Heavy Metall spielen, weil ich da einfach nicht herkomme. Ich kann eigentlich nur das machen, was mein Handwerkszeug hergibt.

SB: Nach meinem persönlichen Eindruck war das am Sonntag eine gut verständliche Musik, ohne daß man jetzt ein besonders geschultes Ohr bräuchte, um Spaß daran zu finden. Gleichzeitig ist sie natürlich nicht so gefällig, wie es der Konsum im Mainstream normalerweise vorschreibt. Mag sein, daß das Besondere darin besteht, es direkt zu erleben. Man würde vielleicht anders darauf reagieren, wenn man es nur im Radio hören würde.

GF: Ich denke, daß man ein wirklich gutes Musikwerk, wenn ich jetzt einmal das absolute Werk nehme, dreimal oder viermal hören muß und nicht gleich beim ersten Mal sagen könnte, nein, das ist nichts für mich. Dann kann ich jede andere Kultur ausschalten. Ich bin ja nun öfter in Asien gewesen und auch in afrikanischen Ländern, aber in Asien häufiger, wo man erst gar keinen Zugang hat. Wenn man aber eine Woche oder vierzehn Tage da ist und sich wirklich öffnet, dann erschließen sich einem plötzlich viele Dinge. So liegen die Wurzeln der klassischen Musik in ganz Westeuropa in der Volksmusik. Und natürlich wird sich auch die klassische Musik weiterentwickeln, je mehr die Kulturen aufeinander zugehen. Das haben wir teilweise schon mit Ravi Shankar und anderen Künstlern aus fremden Kulturkreisen erlebt. Es gibt immer mehr Verbindungen dieser Art, und in der Jazz-Szene oder der Verbindung von Volksmusik und Jazzmusik in Südamerika ist es ja auch ganz stark ausgeprägt. Meiner Meinung nach wird es dahin gehen, und dadurch wird auch die Lebendigkeit wachsen, weil es viel mehr Menschen erreicht.

Theodorakis hat stets unter der mangelnden Rezeption seines gesamten Werks hierzulande gelitten. Als er 85 Jahre alt wurde, führte man in einer großen Musikhalle in Athen an zwei Tagen als konzertante Darstellung Arien aus fünf seiner Opern auf. Anschließend lud er Guy Wagner und meine Frau und mich zum Essen in ein Restaurant unterhalb der Akropolis ein. Dabei habe ich dann den Riesenfehler gemacht anzudeuten, welche Probleme es immer noch mit seinem Werk bei den Komponisten in Deutschland gibt. Da wurde er so böse, als sei das meine eigene These gewesen. Der Guy Wagner hat mich immer unterm Tisch getreten, daß ich aufhören sollte. Aber das versteht Theodorakis eben nicht.

Anläßlich dieses Geburtstags wurde zudem im Lycabettus-Theater in Athen draußen von 22 bis nachts um 2 Uhr ein großes Konzert gegeben, bei dem ich als einziger Ausländer die Eröffnung machen durfte und eine Viertelstunde vorweg solo spielte. Dann kamen die 30 Vocalsolisten, und es war eine wunderbare Nacht. Man sah über die ganze Stadt hinweg. Dann hat Theodorakis am Ende um 2 Uhr ums Mikrophon gebeten. Er konnte nun wirklich nicht laufen, aber dann stand er doch auf und schaffte es bis auf die Bühne. Er hat dann, begleitet vom Orchester, noch gesungen. Ich möchte noch etwas erwähnen. Anders als bei uns stehen, wenn die Tore geöffnet werden und die Proben eine halbe Stunde vorher beginnen, schon 2000 Leute auf dem Konzertgelände. Tatsächlich lassen die Griechen die alten Leute vorgehen. Das habe ich vorher noch nie erlebt. Das war etwas Bewegendes, bevor das Konzert überhaupt anfing. Die Alten konnten sich dann vorne hinsetzen.

Gerhard Folkerts und SB-Redakteur - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gerhard Folkerts und SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Wir haben am Sonntag auch diese Art von Resonanz, die von den anwesenden Griechen kam, bemerkt. Das ist etwas, was man als Deutscher in dem Maße nicht kennt. Die Leute sind viel verhaltener hier, vielleicht auch, weil sie darauf bedacht sind, nicht aufzufallen. Jedenfalls hat es mir gut gefallen, daß die Leute auch in ihren Mitteilungen so eine Art Selbstverständlichkeit ausstrahlten. Entgegen der deutschen Steifheit wurde sogar auf dem Empfang gesungen und man rief einander zu. Es war zu merken, daß das Lieder sind, die alle kennen.

GF: Da Sie die Begeisterung im Publikum und die doch etwas andere und offenere Mentalität ansprechen, komme ich jetzt darauf, daß man mich zu Beginn des Geburtstagskonzerts gebeten hatte, als Vertreter der klassischen Musik eine kleine Probe zu geben, damit die Leute wissen, daß es das auch noch gibt. Da habe ich bei mir gedacht, wenn sechs- bis achttausend Leute kommen, wollen sie keine klassische Musik hören, sondern mitsingen und so fort. Ich habe dann erst einmal zwei klassische Sätze gespielt, die ich vor zwei Jahren auch gespielt hatte, um auch einmal die andere Seite zu zeigen. Ich habe dann doch eine gewisse Unruhe im Publikum registriert, weil die Leute etwas anderes erwartet hatten, aber ich hatte das korrekt kalkuliert. Es gibt da ein Lied mit dem Titel "Wenn sie die Fäuste ballen". Es geht auf einen Ritsos-Text zurück und stieg zur geheimen Hymne auf, nachdem diese Musik verboten wurde. Also habe ich dann aus dem klassischen Satz improvisatorisch übergeleitet mit verschiedenen Tremoli. Die Leute wußten nicht, was los war, und haben nur irgendwie gefragt, will der jetzt nicht mehr klassisch spielen. Dann bin ich langsam, Ton für Ton, an diese Hymne herangegangen. Den ersten Ton der Melodie habe ich laut angeschlagen und bin dann in ein doppelt so schnelles Tempo gegangen. Meine Rechnung ging voll auf.

Dann habe ich mehrere der bekannten Lieder aus der Zeit gespielt. Es gibt viele große Sänger in Griechenland, aber bekannt sind vor allem zwei, weil sie von Anfang an mit Mikis zusammen waren. Maria Farantouri und der Bariton Bass Petros Pandis. Die beiden haben die Uraufführung von Canto General gesungen. Pandis sagte hinterher zu mir, jetzt höre ich Sie die Hymne spielen, die ich gleich singen sollte. Zuerst habe ich gedacht, um Gottes Willen, aber dann haben Sie das Stück ganz anders gepielt. Denn ich hatte ja alles viel schneller gespielt. Pandis erzählte mir vor zwei Monaten eine Geschichte. Als Pablo Neruda chilenischer Botschafter in Paris war, hatte Mikis im Pariser Exil schon mit dem Canto angefangen. Nachdem Neruda davon erfahren hatte, ließ er Mikis durch sein Botschaftspersonal mitteilen, er wollte gerne etwas von ihm hören. Mikis hat dann einen Ballettsaal mit tausend Spiegeln gemietet, weil er auch nicht wußte, woher man so schnell einen vernünftigen Raum bekommen sollte. Pandis und Farantouri waren ebenfalls in Paris. Beide noch blutjung. Mikis hat zu ihnen gesagt, ich setze mich ans Klavier und wir spielen dem großen Neruda etwas vor. Pandis zufolge waren alle ganz aufgeregt, aber das legte sich dann bei der Vorführung. Von Neruda kam jedoch kein Kommentar. Dann haben sie sich zu ihm umgedreht, und da stand er wie versteinert und ihm liefen die Tränen herunter. Mikis Theodorakis hat in den nächsten drei Wochen drei Teile vom Canto General komponiert. Insgesamt sind es dreizehn Teile. Nach dem Tod Nerudas hat Mikis den Zyklus um das Requiem erweitert.

GF: Ich müßte vielleicht noch ein Wort zu meiner Dissertation sagen, die ich nicht wegen des damit verbundenen akademischen Titel mache. Es gibt keine musikwissenschaftliche Publikation über Theodorakis an deutschen Hochschulen oder Instituten, weil er als Komponist nicht ernst genommen wird. Es ist mein Anliegen, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, daß sich das ändert. In Griechenland gibt es mittlerweile diverse Dissertationen, jedoch keine zu der von mir gewählten Thematik. Es gibt beispeilsweise spezielle Untersuchungen über den Einfluß Strawinskys auf Theodorakis. Mein Ansatz ist es zu untersuchen, wie es sich historisch und stilistisch bei Theodorakis entwickelt und verändert hat. Als er den vorhin erwähnten Text von Ritsos bekam, leitete dies einen großen Umbruch ein. Bis dahin hatte er nur klassische Musik komponiert, doch nun wurde ihm klar, wie er das Volk erreichen konnte, nämlich mit der Volksmusik und der byzantinischen Musik. In dieser Phase seines Schaffens schrieb er über 1000‍ ‍Lieder, worauf ein erneuter Umbruch folgte und er Symphonien schrieb. Ganz am Ende - er nennt das immer die Ehe von Vokal- und Instrumentalmusik, schrieb er dann die Opern, die großen mythologischen Stoffe, Elektra, Medea, Antigone und Lysistrata sowie noch eine fünfte Oper über einen griechischer Dichter, der in seiner politischen Not keinen Ausweg mehr sieht und Freitod verübt. Das sind diese fünf Opern, die im Grunde sein Schaffen abschließen. Hin und wieder folgten danach noch Liedkompositionen, aber sein Lebenswerk ist im Grunde abgerundet.

SB: Mich hat beeindruckt, wie Ihr Klavierspiel mit dem Gesang Julia Schilinskis harmonierte und beispielsweise in dem Lied "Anaconda" aus "Algunas Bestias" rhythmisch kulminierte. Sie haben mit ihrem Instrument den gesamten Raum gefüllt, wie man das heutzutage wohl nicht mehr für selbstverständlich hält.

GF: Ja, daß die Zuhörer nicht nach der Hälfte des Konzerts rausgegangen sind und gesagt haben: Was, nur ein Instrument, da sind wir doch etwas ganz anderes gewohnt!

SB: Wir bedanken uns sehr für dieses ausführliche Gespräch und freuen uns, daß wir unseren Lesern auf diese Weise Mikis Theodorakis auf authentische Weise näherbringen können.

Fußnoten:

[1]‍ ‍BERICHT/005: Hommage an Mikis Theodorakis - "Du bist Griechenland" (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0005.html

INTERVIEW/006: Hommage an Mikis Theodorakis - Griechenlandkenner Eberhard Rondholz im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0006.html

INTERVIEW/007: Hommage an Mikis Theodorakis - Konstantin Paraskevaidis, Auslandsgrieche und Publizist (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0007.html

INTERVIEW/008: Hommage an Mikis Theodorakis - Klaus und Heike Kruse, Freunde Griechenlands (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0008.html

INTERVIEW/009: Hommage an Mikis Theodorakis - Gerhard Folkerts, in Freundschaft verbunden (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0009.html

Manolis Glezos und Gerhard Folkerts - Foto: © 2008 by Sotiri Chamakiotis

Aus der Fotosammlung ... Manolis Glezos und Gerhard Folkerts Foto: © 2008 by Sotiri Chamakiotis

27.‍ ‍April 2012