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NACHLESE/017: 50 Jahre später ... The Who - Tommy (SB)



Listening to you, I get the music
Gazing at you, I get the heat
Following you, I climb the mountain
I get excitement at your feet

The Who - We're Not Gonna Take It

Als die Aufnahmen zur Rockoper Tommy am 19. September 1968 in den Londoner IBC Studios begannen, hatte Pete Townshend die Handlung der Geschichte bereits in einem Interview mit dem Rolling Stone so detailliert geschildert, daß er sich später ärgerte, zu sehr an diese Vorgabe gebunden zu sein. Auch die meisten Songs des Werkes, das mit einer Oper im klassischen Sinne nur den zusammenhängenden Plot und dessen musikalische Ausgestaltung gemeinsam hat, stammen aus seiner Feder. Schon seit zwei Jahren schwebte dem 23jährigen Gitarristen, der gerade das fürs Komponieren wichtige Klavierspielen erlernt hatte, vor, für The Who ein inhaltlich wie musikalisch konsistentes Konzeptalbum zu produzieren.

Es spricht für den kollektiven Geist der vier britischen Musiker, daß sie Townshend die künstlerische Leitung des Projektes überließen, das ihren Abschied von einer jugendlichen Rockgruppe einläutete, die vor allem Hitsingles produzierte. Keith Moon, John Entwhistle und Roger Daltrey waren in den bis zum 9. März 1969 währenden Aufnahmesessions so intensiv bei der Sache, daß sie häufig bis zum frühen Morgen des nächsten Tages arbeiteten. Tatsächlich war das Einkommen der damals schon berühmten Rockgruppe so gering, daß The Who an den Wochenenden Konzerttermine wahrnehmen mußten, um die Studiogebühren bezahlen zu können.

Die von nachdenklichen Momenten und ausufernden Instrumentalparts geprägten Songs von Tommy zeigten The Who auch musikalisch von einer neuen Seite, was zweifellos mit der von den drei anderen Bandmitgliedern zwar akzeptierten, aber nicht mitvollzogenen spirituellen Wandlung Townshends zu tun hatte. Als neuer Anhänger des in Indien lebenden und 1969 dort verstorbenen spirituellen Meisters Meher Baba hatte Townshend den für ihn als bekennenden Befürworter psychedelischer Drogen wesentlichen Schritt der Abkehr von ihrer Einnahme vollzogen, womit er als einer der ersten prominenten Rockmusiker seinem Leben eine solche unerwartete Wendung gab. Nachdem er im April 1968 öffentlich bekanntgegeben hatte, sich diesem vor allem in hinduistischer und sufistischer Tradition stehenden Guru angeschlossen zu haben, waren dem Einfluß seiner Lehren auf das Album Tommy keine Grenzen gesetzt. Paradoxerweise war die sogenannte Rockoper ein authentisches Abbild der Hochphase bewußtseinserweiternder Drogen, die auch bei anderen Menschen spirituelle Konsequenzen und die Abkehr von ihrem Konsum zeitigten.

Während die Handlung Tommys um die traumatischen Erlebnisse eines Jungen kreist, dem die grausame Welt der Erwachsenen so sehr zusetzt, daß er die sinnlichen Verbindungen zu ihrer Welt kappt und sich auf seine haptische Wahrnehmung und sein motorisches Vermögen beschränkt, sind die darin verarbeiteten Themen stark von Townshends neuentdeckter Religiosität geprägt. Der selbstgewählten Zuflucht einer Innerlichkeit, in der Tommy sinnliche Qualitäten entdeckt, die ihm zuvor verborgen waren, gegenüber erscheint die soziale Umwelt als Tableau merkwürdiger Begegnungen, die den Kampf des Jungen um die Bewältigung seiner Traumata letztendlich zum Erfolg führen.

Das Bild des Zauberers am Flipper sprach vor 50 Jahren vor allem ein proletarisches Publikum an, standen diese grobmechanischen Vorläufer heutiger Computerspiele doch vor allem in Kneipen und Spielhallen, also eher weniger glamourösen Umgebungen. Zu einem Held am Flipper zu werden ist aus heutiger Sicht noch abwegiger, als es damals schon war, strahlt aber gerade deshalb den Charme einer Jugend aus, die in The Who verbündete Helden ihrer eigenen Klassenzugehörigkeit erkannten. Selbsterkenntnis im Spiegel, dessen Bruch befreiend wirkt, die eigene Entwicklung zum neuen Heiligen, dessen AnhängerInnen allerdings schon bald enttäuscht das Weite suchen, und immer wieder die Ode an die heilende und verbindende Kraft des Fühlens und Berührens verströmten einen damals noch naiven Geist des Strebens nach Selbstverwirklichung und Gemeinschaft, der noch nicht auf die Signaturen konsumistischer Zugehörigkeit reduziert war.

Das Doppelalbum Tommy anzuhören konnte das Gefühl auslösen, sich auf einer Reise zu befinden, die nirgendwoanders hinführte als zum unauslotbaren Reservoir einer Innerlichkeit, als deren zentrales Merkmal die Möglichkeit erschien, aus ihr auszubrechen. Die Einkapselung Tommys in einer als dunkel und fremd imaginierten Welt evozierte das Motiv der Befreiung wie von selbst, so daß es in vielen Songs manifest wurde, auch wenn sie außerhalb des Kontextes des Konzeptalbums gehört wurden. Das von einem Meher-Baba-Schüler entworfenen Cover faßte diese Anmutung ins Bild eines blauen Netzes, durch dessen Lücken die Schwärze eines unbekannten Universums zu erkennen war. Wiewohl das Publikum kaum etwas über die spirituelle Motivation Townshends wußte, ließ dieser damit einen Hang zu neuer Innerlichkeit erkennen, der inmitten des Aufbruches gegen Thron und Altar, gegen Staat und Kirche nur reaktionär wirken konnte.

Da The Who keine explizit politisch agierende Band waren, erschien das Imaginäre des Albums als ästhetischer Kunstgriff zur Bebilderung einer Musik, die allerdings das ganze kreative Vermögen der 1964 gegründeten Band zum Vorschein brachte. Im Unterschied zu späteren Versuchen, mit rockmusikalischen Mitteln in das Terrain der sogenannten Hochkultur einzudringen und sich dabei in überladenen Adaptionen der klassischen Vorläufer zu verlaufen, ist Tommy ein Rockalbum sehr gediegener und überzeugender Art. Seine initiale Qualität zeigte sich auch daran, daß weder die orchestrale Version mit dem London Symphony Orchestra noch die Verfilmung durch Regisseur Ken Russell mit neuem Soundtrack oder die Aufführung als Broadway Musical dem originären Werk viel hinzufügen konnte. Tommy ist heute einer der großen Klassiker der 1960er Jahre und kann auch ein halbes Jahrhundert später mit frischen Sinnen genossen werden.

19. September 2018


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