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NACHLESE/019: 50 Jahre später ... Die Internationalen Essener Songtage 1968 (SB)



Und der Dichter, der poetisch
protestiert in seinem Lied,
bringt den Herrschenden ein Ständchen
und erhöht ihren und seinen Profit.
Und genau das ist nicht richtig,
und genau das ist nicht wichtig.
Protestieren ist bloß Krampf im Klassenkampf.

Franz Josef Degenhardt - Zwischentöne sind bloß Krampf [1]

Jeden Sommer rotiert der Zirkus der Open Air Festivals aufs Neue, treten Tausende von Bands und MusikerInnen auf den in Stadien und Freizeitparks errichteten Bühnen der Bundesrepublik auf. Dennoch gehen von diesen Veranstaltungen wie vom ganzjährige Konzertgeschehen über den individuellen Unterhaltungswert hinaus nur wenige Impulse für eine künstlerische Entwicklung aus, die nicht den ausgefahrenen Bahnen kulturindustrieller Verwertung folgte. Am ehesten fungieren kleine, nichtkommerzielle Musikfestivals irgendwo auf dem Land, wo einige hundert Leute zusammenkommen und häufig auch politische Inhalte thematisiert werden, als Träger einer rudimentären Bewegung, die mehr von Musik erwartet als Wohlgefühl und Unterhaltung.

Die Internationalen Essener Songtage 1968 waren ein Ergebnis des Vorhabens, die widerständige Musikkultur auf breitere Füße zu stellen. Es entstand auf den Festivals für politische Folklore auf Burg Waldeck im Hunsrück, wo sich seit 1964 alljährlich im Sommer ein immer größeres, links gesinntes und bewegtes Publikum einfand [2]. Was allerdings inmitten der Ruhrmetropole Essen vom 25. bis 29. September 1968 veranstaltet wurde, war schon von der fünftägigen Dauer des Festivals her einzigartig. Mehr als 200 MusikerInnen aus zehn Ländern, die vor einem Publikum aus insgesamt 40.000 Menschen auftraten, haben die Internationalen Essener Songtage (IEST) zu einem Meilenstein nicht nur der deutschen Musikszene, sondern der europäischen Popkultur gemacht.

Zwar wurden für die 40 Konzerte, die an vielen Orten der Stadt abgehalten wurden, Eintrittspreise zwischen drei und fünf Mark verlangt. Nichtkommerziell war das Festival dennoch, weil das Geld nicht in die Taschen einer professionellen Konzertagentur floß. Es wurde weitgehend für die Songtage selbst eingesetzt, die von der Stadt Essen mit der damals sehr hohen Summe von 300.000 DM bezuschußt worden waren. Die Stadt versprach sich davon eine Aufwertung ihres kulturellen Renomees und ließ den Veranstaltern um Impresario Rolf-Ulrich Kaiser und Geschäftsführer Bernd Witthüser weitgehend freie Hand. Der auch auf den Festivals auf Burg Waldeck involvierte Kaiser war der wesentliche Initiator der Idee, eine öffentliche Plattform zu schaffen, auf der die sozialen Widersprüche der Gesellschaft mit künstlerischen und popmusikalischen Mitteln bearbeitet werden.

Dabei sollte nicht hauptsächlich diskutiert werden, was dann in Burg Waldeck 1969 zum Eklat und Ende der damaligen Veranstaltungsreihe führte. Den vielen Bands und MusikerInnen mit spezifisch politischer Botschaft wurde ein ambitioniertes Nebenprogramm aus Kunsthappening, Liederwettbewerb und Vorträgen an die Seite gestellt, mit dem versucht wurde, die verlangte und erwünschte Reflexionsebene zu realisieren. Zudem fand eine Art Underground-Messe statt, auf der zahlreiche Büchertische, Posterstände und mit einschlägigen Parolen bedruckte T-Shirts den ideologischen wie ästhetischen Stand der gegenkulturellen Entwicklung zwischen Hippietum und linker Bewegung markierten. Kaiser selbst gab eine täglich erscheinende Festivalzeitung namens Songmagazin heraus, für die neben ihm vor allem der Presseverantwortliche des Festivals, Henryk M. Broder, Texte verfaßte. Sie schuf die Grundlage für die späteren Schriften zur internationalen Jugend-, Musik- und Gegenkultur, mit der die zentrale Figur der deutschen Popkultur der 1960er Jahre den Ton des avancierten Popdiskurses angab, bevor sie mit den Kosmischen Kurieren vollends abhob und in den Nebelschwaden innerer Welten verschwand.

Im Unterschied zum Monterey International Pop Music Festival, das im Juni 1967 die bis dahin hauptsächlich auf Folk und Jazz orientierten Open Air Festivals der USA um Pop- und Rockmusik erweiterte, als auch das Woodstock Music & Art Festival im August 1969 wurde in Essen die ganze Bandbreite aktueller musikalischer Positionsbestimmungen präsentiert. Deutsche Liedermacher wie Franz-Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader und Hanns Dieter Hüsch verliehen dem kritischen Ton der neuen Linken Ausdruck, Avantgardebands wie The Fugs und The Mothers of Invention zeigten dem Publikum, zu welch drastischen Mitteln die musikalische Politsatire aus den USA griff, innovative britische Bands wie Julie Driscoll, Brian Auger & The Trinity oder Family warteten mit Tönen auf, die noch lange Zeit an vorderster Front der popmusikalischen Entwicklung stehen sollten, und die dem politischen Kabarett verpflichtete Gruppe Floh des Cologne übte sich darin, die Grenzen des bürgerlichen Anstandes weit zu überschreiten.

Zugleich traten in Essen die wichtigsten Exponenten der in der BRD gespielten psychedelischen Musik wie Guru Guru, Amon Düül oder Tangerine Dream auf und wurden auch international beachtet, weshalb die IEST als die Geburtsstunde des sogenannten Kraut Rock gelten. Der später zu weltweiter Berühmtheit gelangende Jazzgitarrist John McLaughlin spielte im Ensemble des Free Jazzers Gunter Hampel, der 1975 verstorbene Ausnahmesänger Tim Buckley absolvierte in Essen eines seiner wenigen Konzerte außerhalb der USA, und die deutsche Folkrockband Die City Preachers trat mit der Sängerin Inga Rumpf auf, bevor die Gruppe unter dem Namen Frumpy Karriere machen sollte.

Zu den auch später noch als bemerkenswert erachteten Ereignissen der IEST gehörte der Eklat um den Empfang, den die Stadt Essen für die KünstlerInnen und Organisatoren des Festivals gab. Er wurde von uneingeladenen BesucherInnen des Festivals, die nicht einsahen, daß es ein Treffen der Auserwählten sein sollte, zur spontanen und konfrontativen Diskussion umfunktioniert, was zur ohnehin geringen Akzeptanz des Ereignisse beim Essener Bürgertum erschwerend hinzukam. Am Samstagabend wurde in der Grugahalle ein zehnstündiges Multimedia-Spektakel zelebriert, bei dem der sogenannte Underground alle Register an Ordnungsverstößen und Grenzüberschreitungen zog. Take A Trip To Hashnidi - unter diesem Motto fanden sich 13.000 Menschen zu einem Happening ein, bei dem zehn Stunden lang zu Lightshows, Filmaufführungen und auf zwei Bühnen inszenierter Musik alles getan wurde, was üblicherweise nicht in der Öffentlichkeit geschieht. Da es dort auch zu körperlichen Entblößungen und reichlichem Konsum von Cannabis kam, setzte diese Veranstaltung dem Entsetzen der Essener Bevölkerung über den Einfall Zehntausender jugendlicher RebellInnen in ihre Stadt die Krone der Empörung auf.

Einer der Initiatoren des Festivals, Thomas Schröder, verfaßte zu diesem Teil der Songtage ein paar Zeilen im damals üblichen Sprachduktus:

Wir machen, weil wir die auf der Waldeck gestellte Frage (,`Sollen wir nicht den ganzen Laden sofort schließen, da er nur Zeit verschwendet für die Revolution?") vorerst verneinen, IEST und in ihrem Rahmen den Trip to Hashnidi. In dem Wort steckt Asnidi (= Essen) drin und Hasch. Ursprünglich sollte die Reise "Happenanny" heißen, ein Fest mit den Söhnlein vom Söhnlein von Söhnlein, mit Cornelia Froboes und einem Polizeiblasorchester, mit Micky Maus und Glas zersingenden Hunden undsoweiter. Dieses Konzept, wie manch anderes, fiel, weil wir ja, Lernprozeß, zugunsten von Do-it-yourself die reinen Bühnendarbietungen knapp halten wollen. In der zeitlich nicht begrenzten Veranstaltung werden also zu Musik, psychodelischen Effekten, Filmen, Living und Lyrischem Theater hinzukommen: Podiumsdiskussionen, Tanz, Mikrofon-für-jedermann-Freigaben, Umzüge, JeKaMi-Konzerte solo und kollektiv. [3]

"Jeder kann mitmachen" (JeKaMi) und andere Ansätze zur Demokratisierung der Kultur waren Ergebnis der in Essen vieldiskutierten Frage um das Verhältnis von Kunst und Politik. Der naheliegende Verdacht, daß die Massenunterhaltung psychedelischer Art, zumal mit neurowirksamen Stimulantien dynamisiert, nicht anders als die bürgerliche Schlager- und Fernsehunterhaltung entpolitisierende, die den herrschenden Gewaltverhältnissen zuarbeitende Wirkung zeitigt, verfehlt auch 50 Jahre später nicht sein Ziel, traf aber auch damals nicht wirklich ins Schwarze. Was in der digitalisierten Rundumanimation plus per Rezept verordnetem Neuroenhancement als Soma für die Massen kaum noch steigerbar erscheint, wies damals noch Entwicklungsmöglichkeiten emanzipatorischer und revolutionärer Art auf, die im kognitiven Panorama des informationstechnisch agitierten Marktsubjekts bestenfalls als Signatur einer vom Mythos der 68er-Bewegung zehrenden Produktwerbung aufscheint.

Aus der Rückschau auf eine radikale Linke, deren führende VertreterInnen, wenn sie nicht im professionalisierten Politikbetrieb der Linkspartei oder Grünen Platz genommen haben, zum Teil ins Lager der Neuen Rechten gewechselt oder auf den Schwingen des deutschen Imperialismus bis in die höchsten Etagen des Politikbetriebs geflogen sind, erscheint die bloße Diffamierung der Hippiebewegung als reaktionär heute nicht produktiver als damals. So gab es nicht wenige jugendliche Verweigerer, die mit langen Haaren, bunten Klamotten, die Parole Turn On, Tune In, Drop Out im Sinn, auf ihre Weise revolutionäre Schritte vollzogen, indem sie die Eigentumsfrage stellten und Kollektive gründeten, in denen die Aufhebung des Privateigentums bis in das persönlichen Lehen der Familie und Zweierbeziehung reichte.

Der damals erhobene Vorwurf, die Konsumgesellschaft versetze der solidarischen Unterstützung antikolonialer Befreiungsbewegungen in den Ländern des Südens den Todesstoß, findet sein Echo heute in der Erkenntnis, daß sozialökologische Zerstörung und menschliches Elend unlösbar miteinander verbunden sind. Zulasten des anderen Menschen wie der Natur zu überleben bleibt ein ungelöster Widerspruch jedes Protestes, der sich nicht um eine entschiedene Gegenposition in Theorie und Praxis bemüht. Diesen Anspruch auf eine Massenbasis zu stellen war schon vor 50 Jahren sehr hoch gehängt, wie die Diskussionen in Essen über die Notwendigkeit, den sogenannten Underground nicht zur befriedenden Ware verkommen zu lassen, ein halbes Jahrhundert später zeigen.

Heute stehen KünstlerInnen vor einem Kulturbetrieb, der den ernstzunehmenden Bruch mit seinem Verbrauchs- und Entfremdungscharakter weit im Vorfeld möglicher Interventionen abwehrt. In der reichen BRD bestand in den 1960er Jahren niemals eine vorrevolutionäre Situation, und der neoliberale Rollback der letzten 40 Jahre hat die Chancen für linksradikale Politik nicht vergrößert. Daß ein so wichtiges kulturgeschichtliches Ereignis wie die Essener Songtage zum 50. Jahrestag kaum Beachtung findet und bestenfalls Zeitzeugen bekannt sein dürfte, ist nicht nur der besinnungslosen Rotation medialer Informationsware geschuldet, die das Gestern auf morgen verlegt, weil die Scheinrelevanz des Neuen keine Luft zum Atmen, geschweige den Freiheit zum kritischen Denken läßt. Es finden sich kaum noch Verbindungspunkte zu einem Kunstverständnis, das sich der Befreiung unter allen Umständen verschrieben hat und dementsprechend unverdaulich für einen Kunstbetrieb ist, dessen Exponate, wenn sie nicht ohnehin schon im Schaffensprozeß als Wertanlagen für vermögende Investoren konzipiert wurden, sich den Gefälligkeitskonventionen öffentlicher Finanzierung zu beugen hat.

Die Internationalen Essener Songtage standen trotz der dort zumindest am Rande aufgeworfenen Frage nach der revolutionären Bedeutung von Kunst nicht am Beginn, sondern am Ende einer künstlerischen Emanzipationsbewegung, deren Protagonisten glaubten, dem Kapitalismus Möglichkeiten nichtentfremdeten Lebens und Arbeitens abringen zu können. Was Musik und Lieder dennoch an Momenten des Innehaltens und Mut zum Kämpfens hervorbringen bleibt bis auf weiteres auf die persönliche Positionierung in dieser Auseinandersetzung beschränkt, bevor überhaupt an kollektive Praxis zu denken wäre.


Fußnoten:

[1] Zwischen Pop und Politik, Bayerischer Rundfunk 1968
https://www.youtube.com/watch?v=zCICD3zVzAU

[2] BERICHT/013: Eine Burg und linke Lieder - wie alles kam (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0013.html

[3] http://www.detlev-mahnert.de/Hashnidi.html

30. September 2018


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