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NACHLESE/025: 50 Jahre später ... The Incredible String Band - Wee Tam and the Big Huge (SB)


Breathing, all creatures are
Brighter than that brightest star
You are by far
You come right inside of me
Close as you can be
You kiss my blood
And my blood kiss me

The Incredible String Band - Air


Die heile Welt ist ein Mythos, ein Kindertraum, so unschuldig und unberührt, daß nicht erst die Hippies vor 50 Jahren ihrer visionären Anziehungskraft erlagen. Die Geschichte utopischer Gesellschaftsentwürfe ist von einer idealistischen Naturvorstellung durchzogen, die heute desto mehr in die Unerreichbarkeit entrückt, als die Realität weltumspannender Zerstörung den Menschen ganz unmittelbar auf den Leib rückt. In den 1960er Jahren war, was heute oft vergessen wird, das Thema Umweltzerstörung als Ausdruck eines alle stofflichen Grenzen überschreitenden Industrialismus längst in aller Munde. Was staatliche Gewalt durch die permanente Bedrohung nuklearer Vernichtung an Existenzangst freisetzte, wurde durch einen kapitalgetriebenen Konsumismus, dessen Abfälle die Landschaften verunstalteten, dessen Abgase das Atmen schwer machten und dessen Gifte Trinkwasser und Nahrung vergifteten, nicht besser.

Empfindsamere Gemüter erlebten die häßliche und lebensfeindliche Verunstaltung der Natur wie die Vertreibung aus einer Landschaft, in der Zeit und Raum keine Bedeutung hatten, weil Schmerz und Not weder Pflanzen noch Tiere und Menschen plagten. In diesem Land, in dem unerfüllte Sehnsuchten zur Ruhe kamen, bedurfte es keiner Fluchten in andere Welten, war der Traum doch in sich erfüllt. Die gelebte Utopie des besiegten Todes, des Aufgehens in Farben, Formen, Klängen, Gerüchen, Bewegungen und Berührungen mag für die Hippie-Generation ein momentanes, zumal neurochemisch evoziertes Ereignis gewesen sein. Die urtümliche Schönheit und das organische Fließen dieses luftigen und aus sich heraus leuchtenden Traumes war jedoch so universal, daß die daraus entstandene Kultur keiner Abnutzung durch die Langeweile verbrauchsintensiven Konsums ausgesetzt war und mit der Patina des Alters nur dazugewonnen hat.

Aus heutiger Sicht ist schwer vorstellbar, daß eine als Kommune auf dem Land lebende Musikgruppe wie die Incredible String Band mit ihren folkseligen und weltmusikalischen Klängen nicht nur große Konzertsäle füllte, sondern sogar in die Hitparade gelangte. Die Multinistrumentalisten Robin Williamson und Mike Heron fanden 1965 in Glasgow zueinander, wo sie, damals noch mit Clive Palmer, in dessen Incredible Folk Club als Hausband auftraten. The Incredible String Band nahm das erste Album als Trio auf, doch Clive, der die beiden zusammengebracht hatte, zog es bald darauf nach Indien und Afghanistan. Heron und Williamson traten nun als Duo auf, betreut von ihrem US-amerikanischen Manager Joe Boyd. Dieser hatte erstklassige Kontakte zur Folk-Szene jenseits des Atlantiks und verschaffte ihnen 1967 einen Auftritt auf dem Newport Folk Festival, wo auch Leonard Cohen und Joni Mitchell auftraten. Die junge kanadische Folksängerin, so Boyd, soll von den beiden schottischen Musikern sehr beeindruckt gewesen sein, wie sie auch beim anspruchsvollen Publikum des legendären Folk Festivals gut ankamen.

In diesem Jahr veröffentlichten die beiden Ausnahmemusiker mit dem unorthodoxen Gesangsstil ihr zweites Album The 5000 Spirits or the Layers of the Onion. Seine neuartige Klangwelt aus schottischer Folklore, indischen Sitarklängen und nordafrikanischen Flöten kam so gut an, daß es auf Platz 25 der britischen Album-Charts gelangte. Williamson hatte von einer Reise nach Marokko verschiedenste orientalische und afrikanische Instrumente mitgebracht, die auf dem Album zur Geltung gelangten, zudem war mit Nazir Ali Jairazbhoy ein klassisch ausgebildeter Sitarspieler an den Aufnahmen beteiligt, dessen Fähigkeiten die Experimente der Beatles und Rolling Stones mit diesem schwierig zu spielenden Instrument in den Schatten stellte.

Mit The Hangman's Beautiful Daughter vom März 1968 gelangten Heron und Williamson, verstärkt durch die Freundinnen Licorice McKechnie und Rose Simpson, bis auf Platz 5 in den britischen Album Charts und unter die ersten 30 der US-Charts. Robert Plant schrieb dem Werk maßgeblichen Einfluß auf die Produktion des ersten Led Zeppelin-Albums zu, und Paul McCartney hielt es für das beste Album dieses mit viel guter Musik reich beschenkten Jahres. Heute ist The Hangman's Beautiful Daughter in den meisten Bestenlisten für unvergängliche Alben der Popgeschichte enthalten. Lange bevor das Genre der Weltmusik entstand, hatten Heron und Williamson, die die Songs für die Band jeweils individuell verfaßten, musikalisch so diverse Formen wie Walzer, Blues, Country, Folk und Raga zu einem harmonischen Ganzen vereint. Die Vielfalt der Liedtexte reichte von verspielten Reimen ohne besonderen Sinn bis zu philosophischen Betrachtungen über das Leben als Amöbe im 13minütigen A Very Cellular Song.

Ob Naturmystik oder Drogentraum, ob Hexenflug oder Elementetanz, die Lieder von The Incredible String Band strömten einen Optimismus aus, dessen Zauber sich auch gestandene Rockfans nicht entziehen können. Zugleich bedarf es einer gewissen Besinnlichkeit, um in ihre Musik einzutauchen, wie der Auftritt der Band 1969 beim Musikfestival Woodstock zeigte, wo sie zwischen mehreren Rock-Acts spielten und regelrecht in Unsichtbarkeit versank. Als genuines Phänomen der Hippie-Ära für das aufgeregte Popgeschäft zu versponnen und dem Spektakel urbaner Rocksensationen durch die von fremdartigen Instrumenten, Räucherstäbchenduft, orientalischen Ornamenten und lässiger bis nachlässiger Bekleidung geprägte Ästhetik eher fremd, schaffte die Band es 1968 dennoch, als Hauptact im Fillmore East in New York vor ausverkauftem Haus zu spielen. In England füllten sie die ersten Häuser der Metropolen von der London Royal Festival Hall bis zur Liverpool Philharmonic Arena. Indem sich ihnen auch die Tempel der klassischen Musik öffneten, taten sie, ähnlich wie die Beatles, viel dafür, die neue populäre Musik vom anrüchigen Image profanen Amüsements zu befreien.

Daß sie tatsächlich überaus unterhaltsam war, konnte nur verstehen, wer in diese von halluzinogenen Substanzen aufgeschlossene Welt am Urgrund der Elemente und Naturkräfte eintauchte. Sicherlich haben die Kinder sie fliegen gesehen, an stillen Orten, wo grünes Moos wächst. Bunte Muscheln schlagen aneinander, der Wind ist kalt, das Jahr ist alt, die Bäume flüstern krumm in den Wind gelehnt - im Song Witches Hat fliegen die Hexen, die nur Kinderaugen sehen können, weil die Erwachsenen das Sehen verlernt haben. Mike Heron und Robin Williamson waren als Bewohner schottischer Landschaften eng mit der Natur und ihren unsichtbaren Wesen verbunden, die ihre Lieder bevölkern. Derartige Lyrik kam vor 50 Jahren bei vielen Menschen gut an, war ihre Vorstellungskraft noch unbeeinträchtigt von den Bildern und Formen eines informationstechnisch hochgerüsteteten Fantasy-Genres, dessen Filme und Games keinen Wunsch, aber auch keinen Platz mehr offenlassen.

Während viele The Hangman's Beautiful Daughter für den Höhepunkt des künstlerischen Schaffens der Gruppe halten, ist das im November 1968 veröffentlichte Doppelalbum Wee Tam and the Big Huge doch ein ebenso signifikantes Beispiel für den psychedelischen Folk der Hippieszene im United Kingdom. Eingespielt wurde es ohne GastmusikerInnen von der vierköpfigen Band, bei der insbesondere Heron und Williamson dafür zuständig waren, den Klang der 15 von ihnen eingesetzten Instrumente zu einem organische Ganzen zusammenzuflechten. Rose Simpson und Licorice McKechnie sangen und bedienten verschiedene Perkussionsinstrumente, Rose spielte zudem Violine und Licorice zupfte die Irische Harfe.

Optimismus und Lebensfreude prägten die Stimmung der Musik, und in den Songtexten wurde nicht nur das Naturschöne besungen, es wurden auch weiterreichende Gedanken und Fragen entwickelt. Heron und Williamson hatten sich mit Buddhismus und anderen spirituellen Lehren auseinandergesetzt, wie im Song Maya deutlich wird, in dem die schönen und finsteren, die freudvollen und schmerzhaften Seiten des Lebens im Tanz der Existenz auseinanderdriften und zusammenkommen. Die Lieder der beiden schottischen Hippies ignorierten bei aller positiven Energie nicht die dunklen und grausamen Dinge, die im buddhistischen Glaubenssatz von der Totalität des Leidens hervortreten, nicht um harmonistisch ausbalanciert, sondern final überwunden zu werden, was nicht als Jenseitsglaube verstanden werden muß.

Daß dies mitten im Leben geschieht, ist auch den Nachfahren der Hippiegeneration klar, wie in dieser Ära verwurzelte zivilisationskritische und radikalökologische Bewegungen in Nordamerika und Westeuropa belegen. Mit ihrem kämpferischen Aktivismus und ihrer antikapitalistischen Positionierung vollziehen sie, was ihre Eltern und Großeltern in dem Glauben, mit individueller Selbstverwirklichung den Tanz der Existenz bestehen zu können, allzu leichtfertig offengelassen hatten. John Lennon hat 1970 in dem Song The Dream Is Over die harmonistischen und spirituellen Ideale der Hippiebewegung auf seine Weise beantwortet. "God is a concept, by which we measure our pain" - mit einer langen Liste von Dingen vor allem mystisch-religiöser Art, die mit den Worten "I don't believe in ..." negiert werden, erteilte er der Jugendbewegung, an deren Aufbruch die Beatles teilhatten und deren alternativen Lebensstil The Incredible String Band in besonderer Weise verkörperte, eine Absage. 50 Jahre später kann der Mensch kaum nüchtern und streitbar genug werden, um diejenigen Aufgaben anzugehen, die sich stellen, wenn er nicht sehenden Auges untergehen will.

15. Dezember 2018


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