Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → ASTRONOMIE

GALAXIS/197: Projekt Gaia - Die sechsdimensionale Milchstraße, Teil 2 (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 6/13 - Juni 2013
Zeitschrift für Astronomie

Projekt Gaia: Die sechsdimensionale Milchstraße
Teil 2: Wo, wann und wie Gaia arbeiten soll

Von Ulrich Bastian



Die Aufgabe ist ehrgeizig: Die ESA-Mission Gaia soll die räumliche Struktur und die Dynamik des Milchstraßensystems aufklären. Dazu wird der Satellit sich selbstständig am Himmel orientieren und ebenso selbsttätig seine Messobjekte erkennen. Mit welchen Instrumenten und Methoden macht Gaia das?



IN KÜRZE

  • Gaia soll von 2014 bis 2019 viele Milliarden Positionen von Gestirnen mit bislang unerreichter Genauigkeit messen.
  • Damit der Satellit ungestört arbeiten kann, wird er 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt am Lagrangepunkt L2 stationiert.
  • Gaia wird sich selbstständig am Himmel orientieren und selbstständig seine Messobjekte erkennen.
  • Die Messungen müssen in komplizierter Weise auf der Erde miteinander verrechnet und kalibriert werden.


Wenn im September oder Oktober dieses Jahres die Sojus-Rakete mit dem Gaia-Satelliten vom europäischen Raumfahrtzentrum bei Kourou in Französisch-Guayana abhebt, dann haben die mehr als 1000 Ingenieure, Techniker und Manager, die in der europäischen Raumfahrtindustrie an Gaia arbeiteten, ihr Projekt praktisch abgeschlossen. Das gleiche gilt für die rund 100 Mitarbeiter der ESA, die über die letzten Jahre damit befasst waren. Nur ein kleiner Teil von ihnen wird noch drei oder vier weitere Monate mit der Inbetriebnahme, Feinjustierung und formellen Übergabe ihres technischen Meisterwerks zu tun haben. Danach wird sich die Industrie völlig von dem Projekt verabschieden, und bei der ESA wird nur noch eine überschaubare Anzahl Personen den überwiegenden Anteil der Arbeitszeit für Gaia aufwenden - jeweils rund 20 Leute bei der Bodenstation in Darmstadt und dem astronomischen Datenverarbeitungszentrum in Villafranca bei Madrid sowie eine Handvoll Mitarbeiter in der wissenschaftlichen Abteilung im holländischen Noordwijk.

Für die gut 400 Astronomen und Softwareentwickler im wissenschaftlichen Gaia-Konsortium hingegen wird dann erst Halbzeit sein. Der vornehmste Teil ihrer Arbeit beginnt nämlich mit der Ankunft der ersten Messwerte am Boden: Die instrumentellen Rohdaten müssen in astronomisch aussagekräftige Positionen, Eigenbewegungen, Parallaxen, Spektren, Helligkeiten und Farben umgewandelt werden, und zwar für eine Milliarde Sterne.

Ab Anfang 2014 soll Gaia für fünf Jahre wissenschaftlich arbeiten. Ein erster, noch unvollständiger Sternkatalog soll den Astronomen der Welt bereits 2016 übergeben werden. Die vollständig kalibrierten Endergebnisse werden der Forschergemeinde voraussichtlich drei Jahre nach Missionsende - also 2022 - zur Verfügung stehen.


Eine »Mission impossible«
Wer als Außenstehender beginnt, sich die Aufgabe genauer klarzumachen, die der Gaia-Satellit und die beteiligten Wissenschaftler erfüllen sollen, ist oft nach wenigen Schritten von der schieren Unmöglichkeit des Unterfangens überzeugt. Die Sternpositionen und ihre jährlichen Änderungen sollen auf 20 Mikrobogensekunden genau gemessen werden. Dieses Genauigkeitsziel entspricht im Bogenmaß einem Zehnmilliardstel - oder bildhaft ausgedrückt vier Zentimetern in der Entfernung des Mondes oder einem Atomdurchmesser (0,3 Nanometer) auf einer Distanz von drei Metern.

Als wäre das nicht schon anspruchsvoll genug, so kommt eine weitere Erschwernis hinzu. Denn was der Gaia-Satellit tatsächlich beobachtet, das sind die Positionen von teleskopischen Sternbildchen auf den CCD-Sensoren seiner Kamera (siehe Kasten unten). Um diese in die realen Positionen der Sterne umzurechnen, muss die absolute Orientierung des drei Meter großen Satelliten im Weltraum auf etwa einen Atomdurchmesser genau bekannt sein - und zwar für jeden Zeitpunkt während der fünfjährigen Mission. Außerdem braucht man dafür mit vergleichbarer Genauigkeit die Anordnung der rund 100 CCDs auf der Brennebene sowie den gesamten Lichtweg durch die Optik - in gewissem Sinn also die Form, Lage und Ausrichtung aller zehn Teleskopspiegel zueinander und zur Brennebene.

Von Pixeln, »Fenstern« und Sternen
Einen Ausschnitt aus dem Datenstrom eines der 62 astrometrischen CCDs von Gaia zeigt das Bild unten. Die Kreuzform der hellen Sterne entsteht durch die rechteckige Form der Teleskopöffnungen. Alle Pixel, die nur dunklen Himmel oder Sterne schwächer als 20. Größenklasse enthalten, werden gar nicht erst ausgelesen, sondern automatisch direkt am Ausleseverstärker der CCDs weggeworfen. Nur die kleinen grünen Ausschnitte um Sterne oberhalb der festgelegten Helligkeitsschwelle (»Fenster« genannt) werden registriert, verstärkt, digitalisiert, verlustlos komprimiert und nach Zwischenspeicherung zur Bodenstation übertragen. Die Größe und genaue Form der Fenster hängen von der Helligkeit des jeweiligen Sterns ab. Die »Krümeligkeit« des Bildes entspricht dem realistisch simulierten Photonenrauschen.
Die gezeigte Simulation entspricht einem 1 Bogenminute x 0,5 Bogenminuten großen Himmelsfeld mit ziemlich hoher Sterndichte (250.000 Objekte heller als 20. Größenklasse pro Quadratgrad, das heißt das Zehnfache des Durchschnittswerts für Gaia). Das Feld ist in senkrechter Richtung um den Faktor drei komprimiert, so dass die eigentlich rechteckigen CCD-Pixel quadratisch dargestellt werden.


Es ist völlig unmöglich, die Geometrie der Instrumente mit einer solchen Präzision im Labor zu vermessen. Aber selbst wenn es gelänge: Die extremen mechanischen Belastungen beim Raketenstart, der Wegfall der Schwerkraft danach und die Abkühlung bis zur Betriebsbereitschaft um mehr als 100 Grad Celsius würden die Messungen vollkommen wertlos machen. Wie kann die Mission also überhaupt funktionieren?


Selbstkalibration
Das einzige, womit sich die Gaia-Instrumente kalibrieren lassen, sind ihre eigenen Messungen am Himmel. Und schon steht man vor dem nächsten Problem: Es gibt am Himmel keinerlei Fixpunkte, an denen man sich dafür festhalten könnte. Alles bewegt sich, nichts steht an der Himmelskugel fest - bei Gaia-Genauigkeit noch nicht einmal die unfassbar weit entfernten Quasare. Und keine einzige Koordinate am Himmel ist auch nur annähernd mit der Genauigkeit bekannt, die man für eine Eichquelle benötigen würde.

Das bedeutet, dass die Gaia-Spezialisten die Messungen vorher derart planen und nachher in komplizierter Weise derart untereinander verrechnen müssen, dass gleichzeitig die Instrumenteneigenschaften und die eigentlich gesuchten astronomischen Größen herauskommen können. In der Fachsprache heißt das Selbstkalibration. Und im Gegensatz zu Baron von Münchhausens »am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen« ist die Selbstkalibration kein Lügenmärchen, sondern kann tatsächlich funktionieren. Immerhin haben die beteiligten Astronomen es geschafft, der ESA rund 700 Millionen Euro für den Bau, Start und Betrieb dieser Mission abzuringen und einem guten Dutzend nationaler Raumfahrtagenturen nochmals gut 100 Millionen Euro für die Datenauswertung. Dafür mussten sie selbstverständlich die Machbarkeit des Verfahrens überzeugend darstellen.

Es würde den Rahmen dieser Zeitschrift sprengen, wollte ich erklären, wie die Selbstkalibration von Gaia im Einzelnen funktioniert. Für mathematisch besonders interessierte Leser sei lediglich gesagt, dass sie auf eine nicht segmentierbare Ausgleichsrechnung nach der Methode der kleinsten Quadrate mit 700 Millionen Unbekannten und 500 Milliarden Messungen hinausläuft. Sie ist eine gigantische Rechenaufgabe, die nur lösbar ist, wenn eine Vielfalt schlauer mathematischer Tricks angewandt wird und wenn Gaia selbst einige sehr strikte Bedingungen erfüllt.

So muss etwa die Geometrie des Instruments über den Zeitraum eines Tages auf wenige Atomdurchmesser konstant sein. Das verlangt, dass die gesamte Optik und ihre Montierung aus einem einzigen Material bestehen müssen und dass die Temperatur des gesamten Instrumententeils über den Zeitraum eines ganzen Tages nur um weit weniger als ein tausendstel Grad Celsius variieren darf.

Da sich die Temperatur an Bord gar nicht auf diese Genauigkeit messen - geschweige denn regeln - lässt, bedeutet dies extreme Anforderungen an die Wärmeisolierung und an die Konstanz der Wärmeflüsse. Deshalb muss zum Beispiel die elektrische Leistungsaufnahme der CCDs und der Ausleseelektronik auf 0,2 Prozent konstant sein. Ebenso muss der aufgeklappte Sonnenschirm, der die Strahlung der Sonne und der Erde abschirmt, auf 1 Grad genau plan sein, und seine Neigung zum einfallenden Sonnenlicht darf im Lauf der Himmelsabtastung nur um weniger als 1 Grad variieren. Die wechselnde Wärmeeinstrahlung von der Erde wäre selbst auf einer geostationären Umlaufbahn (36.000 Kilometer vom Erdboden entfernt) unerträglich. Deshalb muss Gaia in 1,5 Millionen Kilometern Entfernung stationiert werden.

Zur Messung absoluter Positionen und Parallaxen ist es weiterhin unerlässlich, dass Gaia zu jeder Zeit simultan Sterne an weit auseinanderliegenden Stellen der Himmelskugel beobachtet. An Bord darf es keinerlei bewegte Teile geben, weil bereits Rüttelbewegungen im Nanometerbereich die Messungen beeinträchtigen würden. Das bedeutet zum Beispiel: keine Schwungräder zur Lageregelung, keine Kreisel zur Lagemessung, keine drehbare Richtantenne für die Datenübertragung zur Erde. Diese und viele weitere harte Anforderungen haben zu der im Folgenden beschriebenen Konstruktion von Satellit und Messverfahren geführt.


Zwei Teleskope, eine Fokalebene
An Bord befinden sich zwei gleichartige Spiegelteleskope mit rechteckigen Hauptspiegeln von jeweils 145 Zentimeter mal 50 Zentimeter Öffnung und 35 Meter Brennweite, die zwei 106,5 Grad am Himmel voneinander entfernte Gesichtsfelder abbilden (siehe Kasten unten). Die Felder sind etwa 0,7 Grad mal 1,5 Grad groß und werden durch einen geteilten Planspiegel auf den gleichen CCD-Detektoren abgebildet, also überlagert. Dadurch lassen sich Winkel zwischen Sternen, die 106 bis 107 Grad voneinander entfernt sind, direkt auf ein und demselben CCD-Chip messen.

Himmelsabtastung
Aus Gründen der thermischen Stabilität ist die Rotationsachse von Gaia stets um 45 Grad zur Sonne geneigt. Damit kann der in jeweils sechs Stunden von den beiden Teleskopen abgetastete Großkreis am Himmel bis auf 45 Grad an die Richtung zur Sonne heranreichen, ohne dass aber das Licht und die Wärme der Sonne die Teleskope erreichen können. Deshalb ist Gaias Sonnenschirm so groß. Energetisch und thermisch wäre es noch günstiger, die Achse direkt zur Sonne zeigen zu lassen (so arbeiteten die Missionen Planck und WMAP). Aber dann könnte Gaia keine absoluten Parallaxen messen, wie detaillierte geometrische Überlegungen zeigen.
Um den gesamten Himmel möglichst gleichmäßig zu überdecken, um sowohl Parallaxen als auch zweidimensionale Positionen und Bewegungen messen zu können und um die im Text beschriebene Selbstkalibration zu ermöglichen, lässt man die Rotationsachse von Gaia in jeweils gut zwei Monaten einen Kreis um die Richtung zur Sonne beschreiben. Da letztere sich einmal im Jahr um den ganzen Himmel bewegt, entsteht eine Schleifenbahn der Achse entlang der Ekliptik. Eine Animation der Himmelsüberdeckung gibt es auf den Gaia-Internetseiten der ESA unter www.rssd.esa.int/SA/GAIA/images/ image_gallery/Gaia_scanLaw_movie.mov (siehe QR-Code am Ende des Kastens).
Die Abbildung unten illustriert das Endergebnis nach fünf Jahren. Jeder Punkt am Himmel wird zwischen 50-mal (blau) und 250-mal (rot) von einem der beiden Gaia-Gesichtsfelder erfasst. Im Durchschnitt erhält jeder Stern in 80 Durchgängen rund 800 astrometrische, knapp 1000 fotometrische und 140 spektroskopische Messungen. Das Bild zeigt eine Karte des gesamten Himmels in äquatorialen Koordinaten. Das geschwungene blaue Band liegt entlang der Ekliptik. Die hohe Zahl von Beobachtungen bei ±45 Grad ekliptikaler Breite ist für die Fotometrie und Spektroskopie sehr hilfreich, hat aber für die Astrometrie nur relativ geringe Bedeutung. Die astrometrisch günstigste Messgeometrie wird im weiteren Umfeld der ekliptikalen Pole erzielt (rechts oben und links unten).


Während des Messbetriebs rotiert Gaia langsam (mit 60 Bogensekunden pro Sekunde) um eine Achse senkrecht zu den beiden Blickrichtungen, so dass ständig Sterne von einer Seite in die Gesichtsfelder der Teleskope hinein- und zur anderen Seite wieder hinauswandern. Nach sechs Stunden hat Gaia auf diese Weise einen Großkreis von 360 Grad am Himmel mit beiden Teleskopen abgetastet. Durch allmähliche Verlagerung der Rotationsachse im Raum wird in jeweils einem halben Jahr der gesamte Himmel erfasst, wobei die meisten Himmelsareale bereits mehrfach beobachtet werden (siehe Kasten »Himmelsabtastung«).

In jedem Gesichtsfeld beobachtet Gaia im Durchschnitt 250 Sterne pro Sekunde. Jedes Mal, wenn ein Stern in eines der beiden Felder eintritt, nimmt der Satellit vollautomatisch neun astrometrische Einzelmessungen und zwei fotometrische Vielfarbmessungen vor. Für die hellsten zehn Prozent der Sterne werden meist noch drei Spektren aufgenommen (siehe Kasten »CCD-Kamera und Messvorgang«).

CCD-Kamera und Messvorgang
Mit einer Milliarde Pixeln enthält Gaia die bei Weitem größte CCD-Kamera, die je für den Einsatz im Weltraum gebaut wurde (siehe Schemazeichnung und tatsächliche Ansicht rechts). Geometrisch ist sie sogar etwas größer als die 1,4-Gigapixel-Kamera des PanSTARRS-Teleskops auf Hawaii (siehe SuW 1/2013, S. 36).
Die Sternbildchen wandern von links nach rechts von CCD zu CCD durch das Gesichtsfeld. Auf rein elektronischem Weg werden die von ihnen erzeugten Fotoelektronen mit der gleichen Geschwindigkeit über die CCDs geführt und jeweils am rechten Rand ausgelesen und gemessen. Die CCDs der ersten beiden Spalten (Sky Mapper CCDs, graublau) werden nur von jeweils einem Teleskop beleuchtet. Ihre Daten werden komplett ausgelesen und vom Bordcomputer sofort nach Sternbildchen abgesucht. Aus deren Lage und der präzisen Kenntnis der momentanen Rotationsrate von Gaia wird sodann die Lage der Bildchen in den Datenströmen der anderen CCDs vorausberechnet, und die im Bild auf S. 50 gezeigten »Fenster« werden ausgeschnitten. So werden zunächst neun astrometrische Einzelmessungen auf den hellgrau gezeichneten CCDs gewonnen. Aus den gleichen Daten werden quasi nebenbei präzise Helligkeitsmessungen gewonnen.
Unmittelbar über den nachfolgenden CCDs der beiden Fotometer (blau und rot) sind Prismen und Farbfilter montiert. Die Sternbildchen werden dadurch in Bewegungsrichtung zu kurzen Spektren auseinandergezogen, was Helligkeits- und Farbmessungen in etwa zehn relativ breiten, überlappenden Wellenlängenbereichen ermöglicht. Wie zuvor für die astrometrischen Bilder wird auch die Lage dieser Mini-Spektren vorausberechnet und damit das Auslesen von etwas längeren »Fenstern« gesteuert.
Über den CCDs des Radialgeschwindigkeitsspektrometers (grün) ist ein Gitterspektrograf montiert, der relativ hoch aufgelöste Spektren in einem schmalen Wellenlängenbereich (etwa 850 bis 875 Nanometer) im nahen Infrarot erzeugt. Die entsprechenden »Fenster« sind 1000 Pixel lang. Die spektrale Auflösung liegt bei 0,07 Nanometern. Die vier noch nicht genannten CCDs tragen Spezialoptiken und dienen technischen Zwecken: der Fokussierung der Teleskope zu Missionsbeginn (violett) und der interferometrischen Überwachung des Winkels zwischen den beiden Gesichtsfeldern während der Mission (orange).
Jedes der 106 CCDs besitzt 4500 x 1966 lichtempfindliche Pixel von 10 Mikrometer x 30 Mikrometer Größe, entsprechend 0,06 Bogensekunden (horizontal) x 0,18 Bogensekunden (vertikal). Die Belichtungszeit beträgt normalerweise 4,4 Sekunden; sie ist durch die Dauer des Durchgangs eines Sterns durch ein CCD bestimmt. Sterne, die heller sind als 12. Größenklasse würden auf den astrometrischen CCDs überbelichtet. Deshalb wird ihre Belichtungszeit auf rein elektronischem Weg verkürzt (durch so genannte electronic gates).
Der Zwang zur Selbstkalibration von Gaia führt übrigens dazu, dass fast nur die Positionsmessung entlang der Bewegungsrichtung zur astrometrischen Gesamtlösung beiträgt, während die Messung quer dazu vergleichsweise wertlos ist. Dieser Unterschied ist so stark ausgeprägt, dass man für rund 98 Prozent aller »Fenster« von vornherein auf eine der beiden Dimensionen der Sternbildchen verzichtet, indem man quer zur Bewegungsrichtung die jeweils 12 Pixelwerte einer Auslesezeile (das heißt in senkrechter Richtung auf den Abbildungen) schon auf dem CCD-Chip zu einer einzigen Zahl zusammenfasst. Auch dies trägt zu der im Text erwähnten Datenverminderung um den Faktor 300 bei.
Damit die Sternbildchen infolge der Rotation von Gaia nicht verschmiert werden - und damit die Vorausberechnung der »Fenster«-Positionen gelingt - muss die Drehrate schon an Bord sehr fein autonom gemessen und geregelt werden. Sie darf im Mittel nur um knapp eine Millibogensekunde pro Zeitsekunde variieren. Bei 60 Bogensekunden pro Sekunde ist das nur rund ein Hunderttausendstel. Diese Lageregelung ist eine der zentralen technischen Meisterleistungen bei der Konstruktion von Gaia. Ihre fantastischen Anforderungen können nur dadurch erfüllt werden, dass der Bordcomputer direkt die hochgenauen Messungen des wissenschaftlichen Instruments benutzt. Dafür muss er aber die Brennweite von Gaia und die Anordnung der CCDs auf die entsprechende Genauigkeit bereits kennen, die wiederum erst durch aufwändige Auswertung genau derselben Messungen am Boden erzielt werden kann.
Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.


Die Farbmessungen sind sowohl für die korrekte Auswertung der astrometrischen Daten nötig als auch für die astrophysikalische Charakterisierung der Objekte. Die Spektren erlauben die Messung der Radialgeschwindigkeit und eine feinere Charakterisierung für all diejenigen Sterne, die heller als die 17. Größenklasse sind. Beispiele dafür, wie die Gaia-Spektren für helle Sterne aussehen können, sind im Bild S. 53 der Druckausgabe unten gezeigt.

Aus der Entfernung von 1,5 Millionen Kilometern können mit der verfügbaren Sendeleistung von Gaias Richtantenne je nach Wetterbedingungen auf der Erde bis zu 8 Megabit pro Sekunde (Mb/s) zu einer der drei 35-Meter-Empfangsantennen der ESA übertragen werden. Die drei Bodenstationen können interplanetare Missionen ohne Unterbrechung verfolgen. Pro Tag wird Gaia im Allgemeinen eine Antenne für je 8 Stunden zur Verfügung haben. Das entspricht einer mittleren Datenrate von 2 bis 3 Mb/s.

Würden alle Pixel der CCDs ausgelesen, dann hätte der Bordcomputer eine Datenflut von 3 Gigabit pro Sekunde zu bewältigen, die selbst nach einer sorgfältigen Datenkompression noch etwa 1 Gb/s groß wäre, also um den Faktor 300 zu groß. Dies könnte nicht nur der Computer, sondern offenbar vor allem die Antenne nicht verkraften. Außerdem würde das sehr schnelle Auslesen der Pixel zu einem unangenehm hohen elektronischen Rauschen führen.

All diese Probleme werden durch eine so genannte Fenster-Technik gelöst (siehe Kasten weiter oben »Von Pixeln, Fenstern und Sternen«): Alle Pixel, die nur dunklen Himmel enthalten, werden schon auf der Fokalebene entsorgt. Die dafür notwendige, vollkommen autonome Bild- und Objekterkennung an Bord bringt noch einen weiteren wichtigen Vorteil: Gaia braucht kein vorgefertigtes Messprogramm und kann somit eine völlig unvoreingenommene Bestandsaufnahme des gesamten Himmels bis zur 20. Größenklasse durchführen, und zwar mit einer Winkelauflösung von 0,1 Bogensekunden, wie sie für erdgebundene Durchmusterungsteleskope (wie zum Beispiel PanSTARRS, siehe SuW 1/2013, S. 39) unerreichbar ist.

Der Satellit weiß nicht, welche Objekte seine beiden Teleskope gerade beobachten. Er liest einfach alles aus, was ihm vor die »Linsen« kommt. Er orientiert sich lediglich grob am Himmel mittels eines winzigen Sucherfernrohrs (dem »Star Tracker«) mit eingebautem kleinem Sternkatalog und Navigationssoftware, um die korrekte Himmelsüberdeckung zu gewährleisten. Er überlässt es den Astronomen des Datenauswerte-Konsortiums, nachträglich die Sterne - und die Kleinplaneten, Galaxien, Quasare und anderen Objekte - zu identifizieren und alle CCD-Bilder aus dem großen Datenstrom zusammenzutragen, die zu jeweils demselben Objekt gehören. Bei rund 900 Milliarden Bildern ist das keine kleine Aufgabe. Aber es ist genau dieser Aspekt der Mission, der Gaia neben einem höchst präzisen Messinstrument auch zu einer sehr leistungsfähigen Entdeckungsmaschine machen soll.


Die irdische Seite des Missionsbetriebs
Die jeweils aktive Empfangsantenne der ESA überträgt die Gaia-Messdaten an das Europäische Raumfahrt-Betriebszentrum ESOC in Darmstadt. Dort werden lediglich die technischen Zustandsberichte (die »housekeep data«) ausgepackt und ausgewertet. Zusammen mit den noch unangetasteten astronomischen Messdaten werden sie nach Villafranca weitergeleitet, wo die ersten Schritte der wissenschaftlichen Datenauswertung ablaufen.

Insgesamt 432 Mitglieder gehörten im Januar 2013 dem Konsortium DPAC (Gaia Data Processing and Analysis Consortium) an, das von der ESA mit der Auswertung und Kalibration der Daten beauftragt wurde (siehe Bild S. 55 oben der Druckausgabe). In sechs über Europa verteilten Datenverarbeitungszentren laufen die daten- und rechenintensiven Prozesse ab; ihre Ergebnisse werden von den DPAC-Wissenschaftlern in ihren Heimatinstituten analysiert, interpretiert und - sobald der zyklische Prozess der Selbstkalibration ein zufriedenstellendes Stadium erreicht hat - für die Übergabe an die Forschergemeinde aufbereitet.

Während bei den meisten astronomischen Weltraummissionen die beteiligten Forscher bereits mit den erhaltenen Daten arbeiten dürfen, bevor die übrigen Astronomen der Welt darauf zugreifen können, gilt dies bei Gaia nicht. Das ist der Preis dafür, dass die ESA - ebenso wie bei Hipparcos vor drei Jahrzehnten - nicht nur das Raumfahrzeug, den Start und den Betrieb, sondern auch die wissenschaftlichen Instrumente finanziert. Normalerweise müssen die Astronomen dafür selbst aufkommen, also die nötigen Mittel aus nationalen Geldquellen auftreiben. Der tiefere Grund für die Sonderregelung liegt allerdings darin, dass im Fall einer astrometrischen Mission das Raumfahrzeug und die Instrumente besonders eng miteinander verzahnt sind (siehe Kasten CCD-Kamera und Messvorgang).

Die deutsche Beteiligung an Gaia konzentriert sich auf vier Institute: das Astronomische Rechen-Institut (ARI) am Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg, das Lohrmann-Observatorium der Technischen Universität Dresden (TUD), das Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA) in Heidelberg und das Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam (AIP). Die Unterstützung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) für deren Arbeit beläuft sich auf bisher acht Millionen Euro.

Die größte deutsche Gaia-Gruppe arbeitet am ARI. Dort liegt unter anderem die Leitung des DPAC-Projektbüros und des mit 104 Mitgliedern größten DPAC-Unterkonsortiums. Letzteres ist für die gesamte Reduktionskette von den Rohdaten bis zur astrometrischen Gesamtlösung, für die Konstruktion der Objektliste und die Zuordnung der 900 Milliarden Einzelmessungen zu den erwarteten 1,2 Milliarden Objekten zuständig. Zudem obliegt ihm die laufende, schnelle und tiefgehende Diagnostizierung und Optimierung des Zustands von Raumfahrzeug und Instrumenten. Alleine für die letztere Aufgabe, den so genannten First Look, haben acht Mitarbeiter am ARI seit 2006 ein Softwaresystem von mehr als 350.000 Java-Programmzeilen erstellt.

Am MPIA liegt die Leitung des europaweiten Unterkonsortiums für die astrophysikalische Charakterisierung der Objekte. Zwei Softwarepakete klassifizieren die Objekte in qualitative Gruppen (Stern, Quasar, Galaxie, Kleinplanet und so weiter) und ermitteln quantitative Parameter wie Temperatur, chemische Zusammensetzung und Leuchtkraft.

Die Gruppen am AIP und an der TUD bearbeiten Aufgaben der spektroskopischen Datenauswertung und der korrekten Modellierung der Gaia-Messungen mit Hilfe der allgemeinen Relativitätstheorie. Des Weiteren tragen AIP, ARI und MPIA zur Gaia-Ergebnisdatenbank und ihrer öffentlichen Bereitstellung bei. An einigen weiteren deutschen Instituten arbeiten einzelne Wissenschaftler an Gaia, zum Beispiel in den Unterkonsortien für veränderliche Sterne, für Doppelsterne und ebenfalls für die Ergebnisdatenbank.


Zu guter Letzt: Der Name Gaia
Der Name des Projekts war ursprünglich GAIA (mit Großbuchstaben), als Akronym für »Global Astrometric Interferometer for Astrophysics«, sinngemäß »Astrometrisches Ganzhimmels-Interferometer für die Astrophysik«. Damals, 1993 bis etwa 1998, war ein interferometrisches Teleskop vorgesehen, weil man damit im Prinzip bei vorgegebenem Durchmesser eine etwas höhere astrometrische Genauigkeit erzielen kann. Aber aus praktischen Gründen (nicht zuletzt, um die Datenrate zu senken) wurde diese Idee zugunsten der jetzigen rechteckigen Teleskopöffnung verworfen. Um keine Verwirrung bezüglich der Projektidentität zu schaffen, behielt man den Namen bei, schrieb ihn nun aber mit Kleinbuchstaben, weil er kein Akronym mehr ist. So kam es zu dem Paradoxon, dass diese Mission den griechischen Namen der Erde beziehungsweise der antiken Erdgottheit trägt. Dabei hat sie doch mit der guten Mutter Erde wissenschaftlich absolut nichts im Sinn - und kann sogar deren Nähe so wenig ertragen, dass sie über eine Million Kilometer Abstand von ihr halten muss.


Ulrich Bastian ist seit 1982 am Astronomischen Rechen-Institut tätig, einem Teilinstitut des Zentrums für Astronomie der Universität Heidelberg. Er war wesentlich an der Auswertung der Hipparcos-Messdaten beteiligt. Seit 1994 bereitet er mit Kollegen aus Forschung und Industrie den Nachfolgesatelliten Gaia vor.



Thema »Gaia«
Teil 1: Warum und wozu Gaia gebaut wird - Mai 2013
Teil 2: Wo, wann und wie Gaia arbeiten soll - Juni 2013



Weblinks zum Thema finden Sie unter
www.sterne-und-weltraum.de/artikel/1192762

*


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 49:
Ein Testaufbau in einer Montagehalle demonstriert die Abmessungen des kompletten Gaia-Raumfahrzeugs. Die Höhe und der Durchmesser des eigentlichen Satellitenkörpers liegen bei rund drei Metern, der Durchmesser des aufgeklappten Sonnenschirms (unten) bei elf Metern. Er trägt auf seiner Unterseite die Solarzellen für die Stromversorgung und die Richtantenne für die Datenübertragung. Im Oberteil des Satelliten blickt man durch die beiden großen Teleskopöffnungen auf die Hallenwand im Hintergrund. Die Einbuchtung links unten ist lediglich eine Montieröffnung. Der zylindrische Körper enthält oben die -150 Grad Celsius kalten Teleskope und die -110 Grad Celsius kalte CCD-Kamera. Unten, zur Sonne hin, liegen die etwa zimmerwarmen Versorgungs- und Steuereinheiten sowie der Hauptteil der Geräteelektronik.

Abb. S. 51 oben:
Gaia wird in der Nähe des Lagrange-Punkts L2 des Erde-Sonne-Systems stationiert, rund 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt (links). Dort wird er auf eine Schleifenbahn um diesen Punkt dirigiert (rechts). Die Bahn ist in der Ebene senkrecht zur Blickrichtung eines Beobachters auf der Erde dargestellt, der stets zum L2 schaut, sich also in einem Jahr langsam um 360 Grad dreht. Die Ebene der Ekliptik verläuft dabei horizontal durch die Bildmitte. Die rote Fläche ist der Bereich, in dem die Erde eine - außen partielle, im Zentrum totale - Sonnenfinsternis erzeugt. Mit der gewählten Schleifenbahn lässt sich ein Abschatten der Solarzellen vermeiden.

Abb. S. 51 unten:
Die Teleskope und Fokalebene von Gaia während der Montage. Alle Spiegel und Montierungsteile einschließlich des großen horizontalen Torus bestehen aus Siliziumkarbid (SiC). Im Vordergrund sind der Primär- (oben) und der Tertiärspiegel des einen Teleskops zu erkennen, links oben der andere Primärspiegel, links unten zwei Faltspiegel und rechts unten die Fokalebene mit den blau schimmernden CCDs. Drei so genannte Zweibeine verbinden die Teleskope verspannungsfrei mit dem Rest des Raumfahrzeugs. Im Betriebszustand werden noch wesentlich mehr Teile von der silbergrau schimmernden Wärmeisolierung umhüllt sein, und der Innenraum wird von diversen schwarzen Streulichtschutzplatten abgeteilt sein. Der große Planspiegel rechts außen dient der Justage und Vermessung der Optik.

Abb. S. 53 unten:
Spektren verschiedener Sterne in dem Wellenlängenbereich, der von Gaias Spektrografen abgedeckt wird: Ein kühler Stern (etwa 3500 Kelvin heiß), ein heißer Stern (rund 9000 Kelvin) und die Gasscheibe eines Röntgen-Doppelsterns erzeugen ganz unterschiedliche Spektrallinien. Einige der zugehörigen Elemente sind mit ihren chemischen Symbolen angegeben, wobei »P« allerdings nicht Phosphor, sondern die so genannten Paschenlinien der Wasserstoffatome bezeichnet. Die Spektren wurden mit dem 1,82-Meter-Teleskop der Sternwarte Asiago aufgenommen.

Abb. S. 55 oben:
Die Mitglieder des Gaia-Datenauswertekonsortiums DPAC sind über mehrere Länder verteilt. Es ist jeweils die Gesamtzahl der Astronomen und Softwareentwickler angegeben, die bei Institutionen der einzelnen Länder beziehungsweise der ESA an Aufgaben des Konsortiums arbeiten. Der technische Missionsbetrieb und die Projektverwaltung sind hier ausgenommen. Die sechs Datenverarbeitungszentren des Konsortiums befinden sich in Villafranca, Barcelona, Toulouse, Genf, Turin und Cambridge (rote Punkte).


© 2013 Ulrich Bastian, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

*

Quelle:
Sterne und Weltraum 6/13 - Juni 2013, Seite 48 - 55
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/528 150, Fax: 06221/528 377
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69117 Heidelberg
Tel.: 06221/9126 600, Fax: 06221/9126 751
Internet: www.astronomie-heute.de
 
Sterne und Weltraum erscheint monatlich (12 Hefte pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 85,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2013