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GESCHICHTE/072: Glaubenshüter und Paladine der Vernunft (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 7/09 - Juli 2009
Zeitschrift für Astronomie

Welt der Wissenschaft: Galilei-Serie, Teil 9
Glaubenshüter und Paladine der Vernunft
Der historiografische Streit um den Fall Galilei vom 17. bis zum 19. Jahrhundert

Von Elio Nenci


Nach der Verurteilung Galileis durch das Inquisitionstribunal von 1633 und seinem Tod im Januar 1642 entwickelte sich unter den Gelehrten, Kirchenmännern, Freidenkern und Publizisten in ganz Europa ein erbitterter Kampf um die Beziehung zwischen Wissenschaft und Glauben. Zwar wurde der Streit seitens der Kirche 1992 formal beigelegt, doch erregt er manche Gemüter noch heute.


Mit seiner Verurteilung am 22. Juni 1633 war der Kampf Galileis für das kopernikanische Weltbild definitiv beendet. Unverzügliche Folge jenes Ereignisses war eine einschneidende Beschränkung seiner persönlichen Freiheit, zuerst in Siena, im Palast des Erzbischofs Piccolomini, und bald darauf, bis zu seinem Tod am 8. Januar 1642, in der Villa Il Gioiello in Arcetri, auf den Hügeln bei Florenz (siehe Zusatzinformation 1).

Doch ist der Hausarrest, der in den ersten Jahren nach dem Prozess besonders streng war, nicht der wichtigste Aspekt dieser Angelegenheit. Hiermit wurde lediglich der Schlussteil des durch das Inquisitionstribunal verkündeten Urteils ausgeführt; der andere, weitaus bedeutendere Teil verbot Galileis Hauptwerk, den 1632 erschienenen »Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme«, und hielt die Fehlerhaftigkeit der beiden Sätze fest, nach denen die Sonne »Mittelpunkt des Weltalls und nicht der Ortsveränderung fähig«, und die Erde »nicht Mittelpunkt des Weltalls noch unbewegt« sei, sondern mit Erddrehung ausgestattet. Beide Sätze wurden für »abwegig und philosophisch falsch« erklärt, und man brandmarkte den ersten darüber hinaus als »formal betrachtet häretisch, weil ausdrücklich gegen die Heilige Schrift gerichtet«, während man beim zweiten nur so weit ging anzumerken, er werde seitens der Theologie als »zumindest falsch im Glauben« angesehen.

Im Zuge dieses Urteils kam es zum Widerruf Galileis, und am 30. Juni 1633 wurde der Befehl erlassen, sowohl diesen Widerruf, als auch die Urteilsverkündung in Florenz, Padua, Bologna und in allen Städten, wo die Nuntiaturen und das Inquisitionstribunal einen Sitz hatten, dem gesamten aktiven Klerus und insbesondere allen Professoren der Philosophie und Mathematik bekannt zu machen. Mit dieser Anordnung unterstrich die Kirche unmissverständlich ihr Recht, auf dem Gebiet der Forschung in Philosophie und Mathematik einzugreifen, und wies all jene, die mit solchen Studien befasst waren, darauf hin, dass sie von nun an die Forschungsergebnisse laufend überwachen würde.

Damit verlor die Wahrheit in allen Wissenschaften, auch in den exakten, ihre Unabhängigkeit von den Wahrheiten des Glaubens. Dieser Umstand war für jene, die in diesen Disziplinen tätig waren, von Anfang an offensichtlich, und es fehlte nicht an eklatanten Beispielen vorbeugender Selbstzensur, wie etwa im Fall Descartes', der darauf verzichtete, sein Werk mit dem Titel »Die Welt, oder Abhandlung über das Licht« zum Druck zu geben.

Die Auswirkung der Verurteilung von 1633 war also bedeutend. Nicht entscheidend gebremst werden konnte jedoch der Wachstumsprozess der modernen Wissenschaften, die sich rasch entwickelten und immer häufiger Anschauungen vertraten, die zum Wortlaut der Heiligen Schrift in offenem Widerspruch standen. Aus der hiermit ausgelösten, erbitterten Konfrontation zwischen Wissenschaft und Religion entstand und erwuchs in der Folgezeit die zunehmende Aufmerksamkeit für die Gestalt und das Schicksal Galileis.


Die Entwicklung des Streits im 17. und 18. Jahrhundert

Nach der Verkündung urbi et orbi des Urteils und des Widerrufs trat in der katholischen Welt eine scheinbare Ruhe ein. Tatsächlich hatte der gelehrte Pater Marin Mersenne bereits 1634 eine französische Übersetzung des aus Rom verschickten Urteils in seine Abhandlung »Theologische, physikalische, moralische und mathematische Fragen« aufgenommen, doch das unverzügliche Verbot einer Verbreitung der Einzelheiten des Prozesses bei schwerer Strafe trug dazu bei, das Aufkommen jeglicher Erwägungen zu den eben geschehenen Ereignissen zu unterbinden. Seitens Galileis und seiner Schüler bestand sicherlich die Notwendigkeit, ein so schmerzliches und gefährliches Kapitel möglichst nicht wieder aufzugreifen; und im Bereich der Kirche gab man sich vermutlich mit dem erteilten Signal zufrieden, ein Signal, das klar und deutlich genug war. Der Tod Galileis 1642 störte dieses prekäre Gleichgewicht und löste das allmähliche Aufkommen einer Diskussion über die Ereignisse aus, die zur Verurteilung von 1633 geführt hatten.

Die Kirche eröffnete den Schlagabtausch mit der Neuveröffentlichung der italienischen Fassung des Urteils und des Widerrufs im Rahmen eines Werks, das bereits im Titel den Wortlaut der verurteilten Sätze wiederaufnahm: »Katholischer Antikopernikus, oder Katholische Aussagen über die Unbewegtheit der Erde und die Bewegung der Sonne gegen das kopernikanische Weltbild«. Dies geschah 1644, im selben Jahr, als John Milton in seiner »Areopagitica«, einer an das englische Parlament gerichteten Rede zugunsten der Pressefreiheit, seinerseits von einem Besuch bei Galilei berichtete, den er eingesperrt von der Inquisition antreffen musste, »da er in der Astronomie auf andere Weise gedacht hat, als die Zensoren der Franziskaner und Dominikaner«. Der Gegensatz hätte krasser nicht ausfallen können. Aber diese erste Wiederaufnahme der Debatte über die kopernikanische Frage war gewiss nicht dazu bestimmt, für großes Aufsehen zu sorgen: Giorgio Polacco, der Autor des »Antikopernikus«, war kein Wissenschaftler, sondern ein zwielichtiger Vertreter des venezianischen Klerus.

Weitaus bedeutender war die Aufnahme des Urteils und des Widerrufs, in diesem Fall in lateinischer Übersetzung, ins »Almagestum Novum« des Jesuitenpaters Giovanni Battista Riccioli (siehe Bildunterschrift 2). In das vierzigste und letzte Kapitel einer ausgedehnten Widerlegung des kopernikanischen Systems eingesetzt, kommt diesem Text hier die Funktion einer letztgültigen Bestätigung der vornehmlich mathematisch-astronomisch und physikalisch geprägten Überlegungen der vorausgehenden 180 Seiten zu. Diese hoben ihrerseits schon die Vorteile der alten geozentrischen Vorstellung hervor, jedoch im Licht des von Tycho Brahe vorgelegten Modells; der genaue Vergleich mit den Stellen aus der Schrift und den Interpretationen der Kirchenväter lieferte schließlich die endgültige Bestätigung ihrer Wahrhaftigkeit.

Die Verträglichkeit von Wissenschaft und Heiliger Schrift, die dann entscheidend wurde, wenn zwei von demselben Wahrscheinlichkeitsgrad getragene Hypothesen zur Wahl standen (was beim Vergleich der Weltbilder von Kopernikus und Tycho Brahe allerdings nicht der Fall war), wäre seitens der Verteidiger des Kopernikus ohnehin nicht erfolgreich herzustellen gewesen. Da sie sich, um diesen Schritt zu versuchen, gezwungen sahen, vom Wortlaut der Heiligen Schrift abzuweichen, hätten sie sich ständig der Gefahr ausgesetzt, sich in fehlerhafte und gefährliche Erörterungen zu verstricken. Der Fall Galilei erwies sich in dieser Hinsicht als beispielhaft: Der Wortlaut des Urteils und des Widerrufs wurde, nach Abschluss langer Diskussionen, gleichsam zum Text der Inschrift für den Grabstein aller auf das Prinzip der Erdbewegung gestützten astronomischen Theorien.

Das von Riccioli zum Ausdruck gebrachte Verhältnis von Wissenschaft und Glauben war eindeutig: Erstere würde demnach niemals eine vollständige Autonomie beanspruchen dürfen. Das von Galilei angestrengte Unternehmen, den mittels der Sprache der Mathematik zugänglichen Bereich der Naturphilosophie von demjenigen der Interpretation der Heiligen Schrift zu trennen, richtete sich gegen diese Vorbedingung und war deshalb unzulässig. Diese Position ließ sich schwerlich umgehen, ohne die eben erläuterte Hierarchie der Wahrheit erneut in Frage zu stellen.

So muss es nicht Wunder nehmen, wenn die ersten Biografen, die sich in jenen Jahren ans Werk machten, es vorzogen, die ganze Angelegenheit des Prozesses in Schweigen zu hüllen. Für eine echte Neubewertung der Gestalt Galileis wäre ein radikaler Umsturz der beschriebenen Hierarchie der Wahrheiten erforderlich gewesen, der nur mittels einer entschlossenen Bejahung einer Sonderstellung der Vernunft in den Wissenschaften hätte gelingen können. Doch diese Aufgabe sollte dem 18. Jahrhundert vorbehalten bleiben.


Guter Astronom oder schlechter Theologe?

Im 18. Jahrhundert führte das neue kulturelle Klima der Aufklärung zu einem radikalen Wechsel der Perspektive: Nun wurde eben jene Urteilsverkündung gegen Galilei zum eindeutigen Beweis für das wissenschaftsfeindliche Vorgehen der Kirche, ein echtes »Denkmal für Grausamkeit und Unwissenheit«, wie es der Autor des Galilei gewidmeten Artikels im dritten Band des in Avignon herausgegebenen »Historischen, literarischen und kritischen Lexikon« aus dem Jahr 1759 formuliert.

Die meiste Empörung rief jedoch das gegen die beiden damals als unantastbare Wahrheiten anerkannten astronomischen Sätze geäußerte Urteil hervor, während die Person des Verurteilten weniger im Vordergrund stand: Er hatte schließlich widerrufen, und das bedeutete für all jene ein wenig konstruktives Beispiel, die sich bei der aktuellen Auseinandersetzung auf Seiten der »Vernunft« bemühten. Wie der bereits zitierte Artikel besagt: »Galilei legte die Schwäche an den Tag, dieses lächerliche Urteil über sich ergehen zu lassen, und er verzichtete auf eine physikalische Wahrheit, die nicht zum Gegenstand der Rechtsprechung seiner Richter gehörte, als widerriefe er eine ketzerische Ansicht«.

Hier wird die Unfähigkeit offensichtlich, die historische Lage, in der Galilei agierte, objektiv einzuordnen: Im 18. Jahrhundert rügt man ihn wie einen Zeitgenossen, einen Vertreter des Aufklärungszeitalters, wobei sein Verhalten im Grunde zweitrangig ist; was interessiert, ist vielmehr der von der Kirche vollzogene Übergriff gegen die Wissenschaft. Man war sich nunmehr einer tatsächlichen Unverträglichkeit von Glaube und Vernunft bewusst geworden, und die Ereignisse der Vergangenheit dienten lediglich zur Veranschaulichung dessen, was von jenen zu erwarten sein würde, welche die neuen wissenschaftlichen Wahrheiten nicht akzeptieren wollten. Die Diskussion um die Person Galileis nahm damit jene Züge an, die sie auch in den nachfolgenden Jahrhunderten begleiten würden.

Hatte das Urteil von 1633 als eine Verurteilung der Wissenschaft zu gelten? Zwar war man damals über die Bekanntgabe des Urteils an Philosophen und Mathematiker nicht unterrichtet, doch hätte allein das Lesen der Gliederung des Urteils ausreichen müssen, um diese Frage zu bejahen. »Abwegig und philosophisch falsch«, so die Verurteilung der beiden kopernikanischen Sätze. Und doch waren nicht alle bereit, diese Auffassung zu teilen. Überraschenderweise ging das neue Argument zur Rechtfertigung der von der Kirche ausgegangenen Handlungen damals nicht von der Seite des militanten Katholizismus aus, sondern von einem Vertreter der politischen Publizistik, dem Genfer Hugenotten Jacques Mallet du Pan (siehe Bildunterschrift 3).

In einem Artikel mit der Überschrift »Gedruckte Lügen über Galileis Verfolgung«, erschienen im »Mercure de France« vom Juli 1784, unternahm dieser Autor einen frontalen Angriff auf die hier erläuterte Position, bezeichnete sie als »einen Roman« und schrieb: »Galilei ist gar nicht als guter Astronom verfolgt worden, sondern als schlechter Theologe. Man hätte ihn seelenruhig die Erde bewegen lassen, hätte er sich nicht in die Bibelauslegung eingemischt.«

Hier kam, wenige Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution, eine neue Sichtweise des Prozesses gegen Galilei zum Vorschein, die sowohl Berichte der florentinischen Gesandten aus Rom berücksichtigte, als auch die allgemeine allgemeine politische Lage zum Zeitpunkt des Urteils. Während die ersten offenlegten, wie die angebliche Verfolgung sich unter weitgehend harmlosen Umständen vollzogen hatte, bezeugte die zweite Galileis taktischen Fehler, der nach seiner ersten Verurteilung von 1616 versuchte, die Diskussion um das kopernikanische System neu zu entfachen, also zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. So hatte sein unüberlegtes Vorgehen die Intervention des Inquisitionstribunals ausgelöst. Zu sehr auf seine Fähigkeit vertrauend, seine Gesprächspartner überzeugen zu können, »wünschte er sich, die Inquisition teile seine Meinung über bestimmte Stellen der Heiligen Schrift«, und das war es, was die heftige Reaktion der Kirche hervorrief.

Der Hintergrund, vor dem sich die dramatischen Ereignisse abspielten, hatte sich radikal verändert - es ging nicht mehr um die epische Auseinandersetzung zwischen zwei unterschiedlichen Ansichten der Wahrheit, sondern es stritten die gewohnten Zentren politischer Macht, innerhalb derer man sich mit Umsicht und Klugheit zu bewegen hatte. Doch trotz dieser bedeutenden Veränderung in der Darstellung, erschien die Gestalt Galileis einmal mehr in einem negativen Licht. Hatte man ihn zuvor dafür kritisiert, die Wissenschaft nicht bis zur äußersten Konsequenz gegenüber der Religion verteidigt zu haben, so tadelte man ihn nun aufgrund seiner maßlosen persönlichen Ruhmsucht.

Der Beitrag Mallet du Pans stützte sich teilweise auf neue Dokumente, und erhielt ein bedeutendes Echo. Von nun an würden sich auch die Gegenstimmen zunächst ein genaueres Bild von den Quellen machen müssen, und dabei in erster Linie versuchen, direkt Einblick in die Prozessakten, oder zumindest in vergleichbare, damals durch das Inquisitionstribunal verhandelte Prozesse, zu erhalten. Doch die notwendigen Dokumente befanden sich wohl verwahrt in den Archiven, und die Kirche war nicht gewillt, sie öffentlich zugänglich zu machen. Die mit der Revolution von 1789 ausgelösten Turbulenzen brachten auch in diesem Bereich bedeutende Veränderungen mit sich.


Ein Märtyrer der Wissenschaft: Die Figur Galileis zu Anfang des 19. Jahrhunderts

Im Jahr 1808 war die französische Revolutionsarmee in Rom eingezogen, und nur ein Jahr später war es zur Abschaffung der weltlichen Herrschaft des Papsttums gekommen. Unter diesen Umständen erließ die französische Regierung am 2. Februar 1810 das Dekret zur Besetzung der Archive des Heiligen Stuhls. Infolge dieses Erlasses wurden mehr als 3200 Kisten voller Dokumente auf den Weg nach Paris gebracht. Darunter befanden sich auch solche aus dem Archiv des Inquisitionstribunals, nicht jedoch die Prozessakten zum Fall Galilei. Diese wurden separat nach Paris übersandt und dem kaiserlichen Bibliothekar Antoine Alexandre Barbier übergeben, der den Auftrag erhielt, ihre Übersetzung und Publikation vorzubereiten.

Endlich zeichnete sich die Möglichkeit ab, den gesamten Prozessverlauf in all seinen Details nachzuverfolgen, doch leider kam es nicht dazu. Einigen Gelehrten gelang es zwar, die wertvollen Dokumente zu sichten, ein Teil von ihnen wurde übersetzt und Manuskripte wurden herumgereicht, doch was in den daraus resultierenden Darstellungen ans Licht trat, war sehr fragmentarisch und konnte für die Diskussion kaum neue Anhaltspunkte beisteuern.

Die Auseinandersetzung zwischen den Paladinen der Vernunft und den Glaubenshütern verharrte also nach wie vor in einem ideologisch begründeten Schlagabtausch, und dies mindestens bis in die 1860er Jahre, als die Prozessunterlagen zu Galilei schließlich doch noch zum unerlässlichen Anhaltspunkt für jede ernstzunehmende Studie wurden.

Tatsächlich waren die Papiere, mit der ausdrücklichen Auflage der Veröffentlichung, bereits 1846 von Paris an den Heiligen Stuhl zurückgegeben worden, doch die erste Ausgabe, 1850 durch Marino Marini, den Präfekten des Geheimen Vatikanischen Archivs besorgt, wurde den Erwartungen keineswegs gerecht. Entscheidend und einseitig zugunsten der Kirche manipuliert, trug sie eher dazu bei, die Gemüter zu erhitzen als sie zu beruhigen, so dass sich die beiden streitenden Parteien auf ihre jeweilige Position versteiften - auf einer Seite die Ankläger der Gewalt durch das Kirchentribunal, das den alten Wissenschaftler mittels der Folter zum Widerruf seiner wissenschaftlichen Überzeugungen genötigt haben sollte, auf der anderen die Verteidiger der Kirche, die ihrerseits eine wahre Hetzkampagne gegen die Religion beklagten.

Zwar hatte der dem Barnabitenorden angehörige Naturforscher Paolo Frisi bereits 1775 in seinem »Elogio di Galileo« ansatzweise die Frage nach der angeblichen Folter Galileis aufgeworfen, sie jedoch aufgrund eines direkten Vergleichs mit zeitgenössischen Quellen sogleich für unwahrscheinlich eingeschätzt. Bei der Untersuchung des Wortlauts des Urteils von 1633 hatte Frisi angemerkt, dass die Worte »wir befanden es für notwendig, eine rigorose Prüfung gegen dich einzuleiten«, eigentlich »bei jedem Tribunal eine Prüfung mit Folter« bedeuten müssten; doch später hatte er, aufgrund von Aufzeichnungen des florentinischen Gesandten Niccolini über den Prozessverlauf, diese Deutung im Fall Galileis faktisch ausschließen können.

Während die Ausübung der Folter seitens der Inquisition mit eben diesen Argumenten in einer der bedeutendsten Galilei-Biografien ausgeschlossen wurde, hielt der exilierte florentinische Mathematiker Guglielmo Libri, Autor einer grundlegenden »Geschichte der mathematischen Wissenschaften in Italien« mit Entschlossenheit daran fest. In einem 1841 in der »Revue des deux Mondes« erschienenen und unverzüglich ins Italienische sowie ins Deutsche übersetzten Artikel äußerte Libri die Ansicht, der Verweis auf die »rigorose Prüfung« sei durchaus wörtlich zu nehmen, und stehe ganz und gar im Einklang mit der üblichen Praxis des Inquisitionstribunals.

Als Beweis dafür wurden Akten eines 1705 in Novara erfolgten Prozesses gegen eine Frau, die bezichtigt wurde, sich mit einer anderen Frau verheiratet zu haben, angeführt, und ferner Passagen aus dem »Sacro Arsenale«, einem Lehrbuch der Prozessführung aus demselben Tribunal. Aus beiden Quellen ging hervor, wie die im Urteil verwandte Formel an eine besondere Phase des Prozesses gebunden sei, nämlich an jene, die darauf abzielt, die mögliche Schuld als vorsätzlich nachzuweisen. In dem Fall aus Novara waren auch die Vernehmungsprotokolle des unter Anwendung der Folter durchgeführten Verhörs nachzulesen, und entsprechend den juristischen Vorgaben führten diese alle Klagen und Schreie der Befragten detailliert mit auf.

Nun ergaben sich mehrere Fragen: Erlaubte die Tatsache, dass bezüglich Galilei in diesem Punkt nichts bekannt war, den Schluss, dass ein solches Verhör nicht stattgefunden hatte? Oder sollte man nicht eher annehmen, dass auch in diesem Fall die Feststellung der Schuld in Bezug auf die Absicht mit denselben Mitteln durchgeführt worden war? Wie aber war dann das Schweigen der Dokumente zu erklären? Doch sicherlich mit dem Interesse der Kirche, diesen Akt äußerster Grausamkeit nicht ans Licht kommen zu lassen, der aber nach Offenlegung aller Akten ohnehin einsichtig geworden wäre.


1864: Zum 300. Geburtstag Galileis

Eine solche Anklage war freilich darauf aus, die Gemüter der Leser heftig zu erregen, doch blieb die Polemik nicht allein darauf beschränkt. Die Ereignisse von 1848, die Einigung Italiens 1861, die Infragestellung der weltlichen Herrschaft des Papsttums: All das trug dazu bei, die Auseinandersetzung mitten in die politische Arena zu verlegen. Anlässlich der Feierlichkeiten zum dreihundertsten Jahrestag der Geburt Galileis wurde diese neue Lage sichtbar.

Zum 18. Februar 1864, dem Geburtstag Galileis, hatte Pisa, seine Geburtsstadt, einen großen Festtag angesagt, die höchsten Autoritäten aus Politik und Kultur hatten die Feierlichkeiten gemeinsam vorbereitet. Erstmals seit der Verurteilung von 1633 war es nun möglich, des großen Wissenschaftlers in gebührenden Ehren zu gedenken. Eine ganze Flut von Zeitungsartikeln, Sonetten, Epigrammen und wichtigen noch unveröffentlichten Dokumenten wurde damals zum Druck gegeben. Schulen jeder Art und jeden Standes, Universitäten und wissenschaftliche Akademien in ganz Europa beteiligten sich an der Initiative und schickten Telegramme und Repräsentanten (Bildunterschrift 4).

Der legendäre Slogan »...und sie bewegt sich doch!«, der zu Ende des 18. Jahrhunderts in historiografischen Darstellungen aufgekommen war, wurde nun gewissermaßen zum Motto der Veranstaltungen. Auf die zahlreichen, im Innenhof der Pisaner Universität aufgestellten Schilder geschrieben oder als Bestandteil der für das Ereignis entstandenen poetischen Ergüsse (siehe Zusatzinformation 2), trug es heftig dazu bei, eine mit der Gestalt Galileis verbundene Mythologie entstehen zu lassen. Gleichzeitig boten diese Bekundungen auch die Gelegenheit, vergangene wie gegenwärtige Einmischungen der Kirche in Bereiche, die außerhalb ihrer spezifischen Kompetenzen lagen, zu verurteilen.

Die antiklerikale Stimmung der Veranstaltungen war so ausgeprägt, dass auch das am Morgen in der Taufkirche Galileis angestimmte Te Deum so manchen Protest der Teilnehmer auslöste: Wie die Florentiner Tageszeitung »La Nazione« am 22. Februar bemerkte, war die Sache »nicht für alle ganz in Ordnung«, und insbesondere für jene nicht, »die keine rationale Verbindung zwischen dem Wunsch, dem Gedächtnis Galileis gerecht zu werden und der Beteiligung jener Kirche herstellen konnten, in deren Namen er verfolgt und an der Suche nach der Wahrheit gehindert worden war«. Andererseits war das allgemeine Empfinden derer, die an den Feierlichkeiten teilnahmen, in der durch Silvestro Centofanti, den Rektor der Universität Pisa, vorgetragenen Rede trefflich zum Ausdruck gekommen. Bei dieser Angelegenheit war der Verrat, den die katholische Kirche am wahrhaftigen Geist des Christentums verübt hatte, mit Händen zu greifen, hatte sie doch »die Religion der Liebe, der weltverbindenden Brüderlichkeit und Erlösung des Menschen« in ein »Instrument törichter Verfolgungen und ungerechter Verurteilungen« verwandelt.

Angesichts dieser harten Attacken reagierte die katholische Presse mit entsprechender Vehemenz, meistens jedoch ohne auf die einzelnen Behauptungen einzugehen, die möglicherweise mit auf den Prozessakten basierenden Argumenten hätten widerlegt werden können und müssen; vielmehr zog man es von kirchlicher Seite vor, alle Veranstaltungen als Bestandteile eines religionsfeindlichen Gesamtplans abzustempeln, der so gut wie nichts mit der Gestalt Galileis zu tun hatte. Der Wissenschaftler war als Vorwand benutzt worden, um zu einem Schlag gegen die Kirche auszuholen, und die Urheber dieses perfiden Unternehmens waren die üblichen bekannten Gesichter - »die Schreiberlein der jüdischen Zeitung 'Opinione'«, eines liberalen Turiner Blattes, »und andere Publizisten unter den Freimaurern, die stets nur gegen die Religion wettern müssen«.


Die Hierarchie der Wahrheiten

Mit der hier beschriebenen herben Polemik hatten sich die Streitigkeiten über die Gestalt Galileis und die Bedeutung seiner Verurteilung auf die Straßen und Plätze verlagert. Von diesem Zeitpunkt an sollte es sich als unmöglich erweisen, sie in die abgeschotteten Kreise der Historiker und Literaten zurückzuverlegen. Damit hatte eine beachtliche Vereinfachung der von den Vertretern beider Parteien eingenommenen Positionen stattgefunden - eine Folge der damaligen erbitterten politischen Auseinandersetzungen. In Italien war der Streit zwischen Staat und Kirche besonders heftig entbrannt - ein solches Klima bot keinesfalls die besten Voraussetzungen zur Ausarbeitung stringenter und unparteiischer historischer Rekonstruktionen der Prozessumstände. Für diese müssen wir uns deshalb den in anderen Ländern, von Forschern mit mehr Abstand und größerer Aufmerksamkeit für alle Nuancen der verfügbaren Dokumente, angefertigten Untersuchungen zuwenden.

Doch auch hier weichen die Bewertungen im Fall Galilei weiterhin voneinander ab, zumal da in vielen dieser Arbeiten ein grundlegender Widerspruch bestehen blieb, der ohne eine klare Trennung zwischen den Wirkungsfeldern des Glaubens und der Vernunft nicht zu lösen war: ein unannehmbarer Schritt für die Verteidiger der kirchlichen Interessen, die zwar ohne Weiteres bereit waren, eine wohlüberlegte Revision einiger in der Vergangenheit durch die Kirche ausgesprochener Urteile vorzunehmen, die jedoch die oben genannte Trennung niemals hätten hinnehmen können.

Von diesem Standpunkt aus ließen sich die von Galilei selbst in seinen zwei berühmten Briefen an Benedetto Castelli und an die Großherzogin Christine von Lothringen hierzu entwickelten Ideen noch immer nicht umsetzen. Und wenn es darum ging, die Wahrheit einer Behauptung zu prüfen, die irgendwie in den Kompetenzbereich der Religion fiel - der auch damals schon bedeutenden Schwankungen ausgesetzt war - hätte die Wissenschaft ihre untergeordnete Stellung nach wie vor akzeptieren müssen. Denn die Hierarchie der Wahrheiten war unmissverständlich: Die Wahrheit des Glaubens stand über derjenigen der Wissenschaft, und wenn jeder Versuch einer Angleichung beider sich als vergeblich herausstellen musste, blieb der wissenschaftlichen Wahrheit nichts anderes übrig, als ihren Wahrheitsanspruch zurückzunehmen.

Wenn auch nicht ganz so endgültig ausgedrückt, so war dies doch die Position, die sich um die sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts in einigen auf direkten Quellenstudien der im Vatikanischen Archiv aufbewahrten Prozessakten beruhenden Studien niederschlug. Ein einziges Beispiel mag veranschaulichen, wie damals versucht wurde, das Urteil von 1633 zu rechtfertigen.


Die katholische Sicht: Der Prozessverlauf nach Henry de L'Epinois

Nachdem der Präfekt des Geheimen Vatikanischen Archivs Marino Marini die Prozessakten 1850 mit beachtlichen Auslassungen herausgegeben hatte, publizierte sie Henry de L'Epinois 1867, unter erstmaliger Berücksichtigung der Dokumentation über die Verurteilung des Kopernikanismus von 1616, mit großer Sorgfalt in der »Revue des Questions Historiques«, als Anhang seines Artikels »Galilée, son procès, sa condamnation d'après des documents inédits«.

Die hier gebotene Interpretation der Vorfälle um Galilei waren nicht neu, wohl aber die Argumentation, und die durchgängigen Verweise auf die Prozessakten verliehen ihr jetzt einen Anschein der Zuverlässigkeit, der zuvor noch gefehlt hatte. Diese Interpretation basierte zwar auf einer noch unvollständigen Ausgabe der Quellen, dennoch wurde sie für etwa zehn Jahre zum Anhaltspunkt jeder weiteren Erörterung; an ihr lässt sich die gemeinsame Sichtweise aller Autoren veranschaulichen, die den Anforderungen des Glaubens nahestanden.

Wesentliche Ausgangspunkte der gesamten Argumentation waren einmal mehr die Leugnung, es habe damals eine direkte Intervention der Kirche in Fragen der Wissenschaft gegeben, und die Behauptung, der gesamte Umstand des Prozesses erkläre sich aus Galileis Versuch, eine neue Lesart der Heiligen Schrift vorzuschlagen. Eine Grenzübertretung also, zu welcher sich der Wissenschaftler durch die üblichen Feinde der Wissenschaft und der Religion hatte verleiten lassen, jene Peripatetiker, die ihm eine Falle gestellt hatten, in die er dann aufgrund seines kompromisslosen Charakters getappt war.

Demnach wäre der Prozess, seitens des Inquisitionstribunals, gleichsam ein notwendiger und unvermeidlicher Akt gewesen. Im Übrigen sei das Tribunal, wie es die Prozessakten dokumentierten, ohne die gewohnte Härte gegen ihn vorgegangen, ganz anders also, als es in vielerlei historischen Darstellungen geschrieben steht: Die Autoren dieser Schriften hatten die Figur Galileis stets instrumentalisiert, um die Kirche als Gegner der neuen Entdeckungen der Wissenschaft erscheinen zu lassen, doch die Realität war eine andere. Wie bereits unterstrichen, und angesichts des Fehlens jeglicher Nennung der am Teleskop durchgeführten astronomischen Beobachtungen nicht ohne jede Arglist, wurde Galilei nicht für seine Untersuchungen auf dem Gebiet der Mechanik verurteilt, die einzigen (nach Meinung des französischen Gelehrten) wirklich innovativen, sondern für seine Verteidigung einer nicht neuen astronomischen Doktrin - einer Doktrin, die keinen sicheren Beweis ihrer Gültigkeit bieten konnte, und die Galilei selbst für absolut wahr hielt. Daher führte ihn diese Überzeugung zu der Forderung, die Kirche müsse die Interpretation der Heiligen Schrift nach dem Wortsinn verlassen, doch konnte dies nicht bloß auf der Grundlage einer einfachen Hypothese geschehen. Darin also hatte die Schuld Galileis bestanden.

Wissenschaft und Religion waren einander nicht unbedingt Feind, wie viele es glauben machen wollten, und die Geschichte der Philosophie des Mittelalters war der leuchtendste Beweis für diese Wahrheit. Die Philosophie des Aristoteles, oder wenigstens jener Teil, der sich nicht auf die in der Heiligen Schrift vorkommenden Wahrheiten beschränken ließ, war bereits durch die großen christlichen Philosophen des Mittelalters bekämpft worden, und diese konnten ohne Weiteres als diejenigen gelten, die den Weg für die späteren Errungenschaften des wissenschaftlichen Denkens frei gemacht hatten.


Nur gegen Unbewiesenes...

Darüber hinaus hatte die Kirche vor dem Prozess gegen Galilei in der Diskussion über die Weltsysteme stets die größtmögliche Freiheit zugestanden, wie die Beispiele des Cusanus und des Kopernikus zeigen - Kleriker, die ihre Werke den höchsten Amtsträgern der Christenheit gewidmet hatten. Die Kirche war also nicht gegen die wissenschaftlichen Wahrheiten, sondern gegen die nicht bewiesenen, als Wahrheiten präsentierten Schlüsse. Wie die Vorfälle im Laufe des 19. Jahrhunderts belegten, hatte die Kirche, sobald sichere Beweise für die kopernikanische Anschauung vorlagen, überhaupt keine Schwierigkeiten damit, die vorausgegangene Verurteilung zurückzunehmen und das Lehrverbot dieser astronomischen Doktrin aufzuheben.

Diese historische Rekonstruktion bringt dieses zutiefst ambivalente Verhältnis von Wissenschaft und Religion ans Licht. Welche Bedeutung hätte diese »kirchliche Supervision« damals für die gegenwärtige und zukünftige Forschung gehabt? Galt diese nur im Hinblick auf etwaige Änderungen, die innerhalb der Doktrin der Kirche durchzusetzen waren? Oder hatte sie immer auch die Gültigkeit der wissenschaftlichen Untersuchungen zu bestimmen? Und gesetzt diesen letzten Fall: Hätte dieses Urteil nur mit den der Wissenschaft zugehörigen Instrumenten erfolgen dürfen? Oder hatten die religiösen Werte, und folglich auch die auf ihnen begründeten ethischen Werte, stets bei der Definition dessen mitzuwirken, was als wissenschaftliche Wahrheit anzuerkennen erlaubt ist? Konnte die Wissenschaft in letzter Instanz von der Religion unabhängig sein? Das sind äußerst wichtige Fragen, die sich bei der Lektüre der Arbeit des französischen Historikers beinahe spontan auftun, die in seinem Buch jedoch gänzlich verschwiegen wurden.

Ein in einer neuen, 1878 erschienenen erweiterten Fassung seiner Untersuchungen »La Question de Galilée, les faits et leurs conséquences« eingefügtes Beispiel zeigt allerdings deutlich, wie L'Epinois die Wissenschaft und ihre Ergebnisse einschätzte. Indem er das volle Recht der Kirchentribunale anführt, gegen die neue, von Galilei dargelegte Auslegung der Heiligen Schrift vorzugehen, stellt er klar, dass die Kirche sich in diesem Fall nicht anders als sonst üblich verhalten hatte. Bei »analogen Fällen«, zum Beispiel wenn es darum ging, gemäß der Kirchenlehre festzustellen, ob im Inneren eines Grabes die Gegenwart einer mit Blut gefüllten Vase neben dem Leichnam ein hinreichendes Zeichen zur Feststellung eines Märtyrertums sei, waren die Tribunale analog vorgegangen, nämlich die absolute Wahrheit dieser Schlussfolgerung bestätigend, und im Gegenzug alle verurteilend, die sie zur Entscheidung der Frage für nicht ausschlaggebend hielten. Auch hier hatte die zuständige Kongregation »ein Prinzip reiner Wissenschaft bekräftigt und einen archäologischen Regelfall festgestellt«, nicht um eine wissenschaftliche Frage zu entscheiden, sondern um den Glauben zu verteidigen und die schwerwiegenden Konsequenzen zu unterbinden, die ein Verlust der gewohnten Doktrin im Heiligenkult bewirken konnte.

Dem französischen Historiker zufolge unterschied sich die Naturwissenschaft und insbesondere die Astronomie ihrem Status nach also nicht von der christlichen Archäologie, und angesichts der Erfordernisse der Religion hätte sie ganz bestimmt keine andere Behandlung erfahren können als diejenige, welche ihr tatsächlich zuteil wurde. In dieser Sichtweise wurde die angebliche Universalität der wissenschaftlichen Wahrheit gänzlich ihrer Bedeutung entleert, und mit ihr vollzog sich der Untergang der reinen Möglichkeit einer von jeder äußeren Bedingtheit freien wissenschaftlichen Forschung. Zwischen den Zeilen der unparteiischen historischen Rekonstruktion und auf der Grundlage der Analyse des dokumentarischen Quellenmaterials ergab sich schließlich eine mit den Prinzipien der Wissenschaft radikal kontrastierende Position, während sich die Wissenschaft in diesen Jahren mehr und mehr als die einzig wahre Trägerin eines universalen, auf der Wahrheit begründeten Wissens präsentierte.

Den aus dem Bereich der engagierten Wissenschaft stammenden Gelehrten kam die vorausgegangene Analogie zwischen dem Fall Galilei und den Fragen des Heiligenkults völlig sinnlos vor - ihnen kam es dagegen wesentlich darauf an, jedes einzelne Element der Ereigniskette zu verstehen, die mit der Verurteilung von 1633 endete. Die Erforschung der Prozessdokumente wurde so der bevorzugte Weg zur Bestimmung der in der Vergangenheit gegen die Wissenschaft eingesetzten Mittel - daraus ergab sich für letztere die Notwendigkeit, ihre eigenen Wahrheitskriterien selbst zu bestimmen, um so jede mögliche Einmischung von außen zu verhindern. Die von diesen Historikern errungenen Ergebnisse führten natürlich zu einer neuen Aufteilung der Verantwortung zwischen den Protagonisten der Ereignisse von 1633 und ließen dadurch nicht wenige Zweifel hinsichtlich der formellen Korrektheit des gegen Galilei angestrengten juristischen Verfahrens aufkommen.


Die Antwort der Wissenschaftler und die analytische Erforschung der Prozessakten

Der Chemiker Emil Wohlwill war mit Sicherheit einer der scharfsinnigsten Erforscher von Galileis Kampf zugunsten des kopernikanischen Systems. Im Jahr 1835 in Hamburg geboren, meldete er sich im Meinungsstreit über Galileis Verurteilung erstmals 1870 zu Wort, indem er eine äußerst genaue Analyse der bis dahin veröffentlichten Dokumente vorstellte. In seinem Werk »Der Inquisitionsprocess des Galileo Galilei« konzentrierte sich Wohlwill insbesondere auf das bedeutende Dokument vom 16. Februar 1616, in dem man Galilei nahelegte, in keiner Weise jene Meinung zu vertreten, zu lehren und irgendwie zu verbreiten, weder im geschriebenen noch im gesprochenen Wort, nach der die Unbewegtheit und die Mittelstellung der Sonne, sowie die daraus resultierende Erdbewegung behauptet wurden. Dies war die Akte, welche die nachfolgende Verurteilung von 1633 erst ermöglichen sollte und die Galilei, dem Tribunal zufolge, absichtlich verschwiegen hätte, als er das Imprimatur zur Veröffentlichung seines »Dialogs« einholte. In seinen Verhören aber hatte Galilei stets angegeben, nicht über die in diesem Dokument explizierte Verbotsklausel unterrichtet gewesen zu sein, und sich vielmehr stets auf einen von Robert Bellarmin an ihn gerichteten Brief bezogen zu haben, der keine Spur eines derartigen umfassenden Verbots enthielt.

Auf welcher Seite lag die Wahrheit? Welche der beiden Positionen entsprach dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse des Jahres 1616? Offensichtlich ist dieser Punkt von zentraler Bedeutung. Der Schluss, zu dem der deutsche Chemiker gelangte, war überzeugend: Das Dokument besaß alle Eigenschaften einer nicht im fraglichen Zeitraum, sondern nachträglich erstellten Akte. Es handelte sich aller Wahrscheinlichkeit nach um ein künstlich angefertigtes, also gefälschtes Dokument, das der nachfolgenden Verurteilung einen legalen Anstrich verleihen sollte.

Diese erste Arbeit Wohlwills trug bereits wesentlich dazu bei, die Schwerpunkte der Diskussion entscheidend zu verlagern und in den Fachzeitschriften eine weitläufige Debatte auszulösen, aber erst sein zweiter Beitrag sorgte für den größten Wirbel. Mit seinem Buch »Ist Galilei gefoltert worden?« von 1877 kam der Hamburger Wissenschaftler auf die viel diskutierte Frage nach der »rigorosen Prüfung« zurück, die damals seit der vollständigen Veröffentlichung der Prozessakten weitgehend in Vergessenheit geraten war.

Die gesamte Dokumentation wurde nun erneut in Betracht gezogen und, soweit damals bekannt, mit dem umfangreichen Material verglichen, das zur Tätigkeit des Inquisitionstribunals überliefert ist - in Dublin aufbewahrte Akten von Prozessen, die sich zeitlich unmittelbar an die Verurteilung Galileis anschlossen, das bereits von Libri zitierte »Sacro Arsenale« (hier jedoch in mehreren Ausgaben konsultiert), dazu neue strafrechtliche Traktate, die mit den üblicherweise in jenem Tribunal verhandelten Fällen in Verbindung standen. Durch einen aufmerksamen Vergleich der Prozessakten mit dieser umfangreichen Literatur versuchte Wohlwill zu zeigen, dass sich der Einsatz der Folter keinesfalls ausschließen lasse, mindestens in Form der »territio realis«, also der Verlegung des Angeklagten in die Folterkammer und der darauffolgenden Aufforderung, die an ihn gerichteten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten; nicht einfach eine Drohung mit Worten, wie viele Historiker behauptet hatten, sondern die erste Phase der eigentlichen Durchführung der Folter.

Freilich blieb die Frage auf Grundlage der im Vatikanischen Archiv vorhandenen Dokumente unentschieden, doch dem üblichen Vorgehen dieses Tribunals nach stellte sich die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Gewaltanwendung durchaus als begründet dar. Obschon im Fall Galilei keine Entscheidung möglich war, hatte die Untersuchung des deutschen Chemikers jedenfalls eine von der Kirche regelmäßig gegen wehrlose Opfer eingesetzte Praxis in all ihren Facetten des Grauens dargestellt - ein sekundäres Ergebnis der durchgeführten Untersuchung, aber zugleich eine grelle Ausleuchtung der im Namen der Religion getätigten Missbräuche.

Mit dem Werk Wohlwills erreichte die Erkundung der Prozessakten ihre maximale Vertiefung. Von nun an sollte es sehr schwierig sein, auf diesem Gebiet etwas Neues herauszufinden. Doch in denselben Jahren, als die Arbeit mit dem wertvollen Material begonnen wurde, hatte sich auch eine neue Front aufgetan, die umgehend die Besorgnis der Religionswächter hervorrufen musste: François Ponsard hatte ein Theaterstück mit dem Titel »Galilée« verfasst. Mit dessen Erstaufführung, die am 7. März 1867 in Paris stattfand, verlagerte sich die Auseinandersetzung zwischen Glauben und Vernunft gleichsam auf die Bretter, die die Welt bedeuten. So nahm eine neue Epoche ihren Anfang, die auch im 20. Jahrhundert einen Großteil der Diskussion um die Gestalt Galileis charakterisieren würde. Nicht mehr als der Mann, der im 17. Jahrhundert gelebt hatte, wurde er gesehen, sondern als Symbol eines ewigen Kampfes zwischen zwei entgegengesetzten Weltsichten: Ein ideales Sujet also für Theater und Spielfilm.

Aus dem Italienischen von Antonio Staude


Elio Nenci forscht am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und an der Staatlichen Universität Mailand. Er beschäftigt sich vorwiegend mit der Geschichte der Mechanik in der Renaissance und im 17. Jahrhundert.


Literaturhinweis

Næss, A.: Als die Welt still stand. Galileo Galilei - verraten, verkannt, verehrt. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg 2006.


ZUSATZINFORMATION:

Zusatzinformation 1:
Die letzten Jahre

Dieser Blick in den Innenhof zeigt die Villa Il Gioiello in Arcetri bei Florenz nach ihrer kürzlich vollendeten Instandsetzung. Hier verbrachte Galilei im Hausarrest die letzten Jahre seines Lebens, vom Dezember 1633 bis zu seinem Tode am 8. Januar 1642. Und hier konnte er, obwohl fast erblindet, sein zweites Hauptwerk »Discorsi e dimostrazioni matematiche« vollenden. Es ist nicht, wie der »Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme« der Astronomie und Kosmologie gewidmet, vielmehr begründet es gänzlich neue Disziplinen der modernen Physik: Materialwissenschaft, Mechanik und Bewegungslehre. Im Einflussbereich der Kirche konnte das Buch nicht erscheinen: Es wurde von seinen Schülern außer Landes gebracht und zunächst 1635 in Straßburg in lateinischer Übersetzung gedruckt. In italienischer Sprache erschien es 1638 bei dem holländischen Verleger und persönlichen Freund Galileis, Louis Elsevier in Leiden.

Gegen Ende seines Lebens zogen Galileis später berühmt gewordene florentiner Schüler, die Mathematiker Vincenzo Viviani und Evangelista Torricelli, zu ihrem verehrten Lehrer in das schöne Haus: Viviani bewohnte seit 1639 den Raum im Erdgeschoss rechts, Torricelli zog im Oktober 1641, drei Monate vor Galileis Tod, in den Raum im Erdgeschoss links.

Die Villa Il Gioiello kann man seit April 2009 besichtigen. Der oben geschilderte Streit zwischen Glaubenshütern und Paladinen der Vernunft wurde formal im November 1992 beigelegt, als Papst Johannes Paul II. Galilei rehabilitierte und den gegen ihn geführten Inquisitionsprozess für gegenstandslos erklärte. Schon eine kurze Recherche im Internet zeigt allerdings, dass der »Fall Galilei« noch heute manche Gemüter heftig bewegt.


Zusatzinformation 2:
Dieses Gedicht aus Berthold Auerbachs »Volks-Kalender auf das Jahr 1864« wurde zusammen mit einer italienischen Nachdichtung anlässlich der Pisaner Feierlichkeiten von 1864 gedruckt.

Galileo

Nato in Pisa il 18 Febbraio 1564

Un libretto che si pubblica in Germania sotto il modesto titolo die Calendario Popolare (*) e che registra un fatto importante per ogni mese, pone al Febbrario del corrente anno la nascita die GALILEO e vi aggiune una breve poesia.

Tale scelta, fra i tanti fatti che potevansi citare è cosi caratteristica per dimostrare in qual conto si tenga in Germania quel grand'uomo; la poesia è cosi bella, chei Promotori della Festa deliberarono farla riprodurre nell'originale colla traduzione a fronte, e distribuirla il giorno die quel fausto anniversario quale attestato die stima e riconoscenza per coloro che si bene ricordarono alla Germania la ricorrenza della nascita del grande nostro connazionale.

(*) (Berthold Auerbach's Volks-Kalender 1864 - Leipzig, Keil - in 8.).


Er ging in finstern Zeiten
Zuerst des Lichtes Spur,
Sein Leben war ein Streiten
Für Licht und Wahrheit nur;
Er sprengte ihre Hülle,
Die Wahrheit leuchtet noch:
"Die Erde steht nicht stille,
"Und sie bewegt sich doch!".

Sie suchten ihn zu schwächen
Durch Qual und Kerkerhaft,
Doch nimmer liess sich brechen
Des Geistes hohe Kraft;
Ob sie mit Hass und Grimme
Ihn beugten unter's Joch,
Laut ruft der Wahrheit Stimme:
"Und sie bewegt sich doch!".

Nun glänzt sein Geist bewundert,
Und leuchtet fort und fort;
Nun hallt durch manch Jahrhundert
Sein weltbefreiend Wort;
Die Nebel müssen fallen!
Die fernste Zukunft noch
Wird siegreich wiederhallen:
"Und sie bewegt sich doch!".


Egli primo in tempi tenebrosi si mosse
in traccia della luce, e la sua vita altro
non fu che una lotta per la luce e pel
vero. Egli strappò il loro velo, e lumi-
nosa splende la verità:

Non immobile stassi la terra, ma
ancor si muove!

I tristi tentarono debilitarlo col carcere e
coi tormenti; ma la sublime vigoria del
suo spirito non mai lasciossi fiaccare;
E benchè l'odio e il furore lo sforzassero
a piegar sotto al giogo, pur da lui sorse
potente la voce del vero:

"Eppur si muove!".

Ora ammirato risplende il suo Genio, nè
più si estinguerà la sua luce; Ora echeg-
gia di secolo in secolo la sua parola
emancipatrice del mondo. Svanisca ogni
nebbia! Il più remoto avvenire ripeterà
trionfante:

"Eppur si muove!".

E.M.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1:
Diese Fantasiedarstellung zeigt den Inquisitionsprozess gegen Galilei nach einer Zeichnung von Albert Chereau aus dem Jahr 1865.

Bildunterschrift 2:
Dieses Titelkupfer zum »Almagestum Novum« des Giovanni Battista Riccioli zeigt anschaulich, welches der beiden astronomischen Weltsysteme von Tycho Brahe und Kopernikus das größere »Gewicht« hat.

Bildunterschrift 3:
Der Publizist Jacques Mallet du Pan (1749 - 1800), ein vehementer Bekämpfer der republikanischen Ideen, gilt als Pionier des politischen Journalismus.

Bildunterschrift 4:
Anlässlich der Pisaner Feierlichkeiten am 18. Februar 1864 erwiesen achtzehn Mitglieder der Berliner Akademie der Wissenschaften dem Andenken Galileis telegrafisch ihre Reverenz. Das Bild zeigt die Transkription des Telegramms aus Berlin an Seine Excellenz, den Präfekten von Pisa.

Bildunterschrift 5:
Anlässlich der Pisaner Feierlichkeiten von 1864 zu Galileis 300. Geburtstag wurde auf dem Arno eine Regatta abgehalten. Aus einer Nummer der Zeitschrift »Emporio pittorico« jenes Jahres.

Bildunterschrift 6:
Unter den Dokumenten zum Prozess Galileis, die heute auf der Website des Geheimen Vatikanischen Archivs zu sehen sind, befindet sich dieser am 17. Dezember 1633 bereits in Arcetri verfasste Dankesbrief Galileis an den Papst, der ihm zugestanden hatte, seinen Wohnsitz in die Villa Il Gioiello zu verlegen.


© 2009 Elio Nenci, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 und 8 der Serie finden Sie im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Naturwissenschaften -> Astronomie ->
GESCHICHTE/064: Galileis Revolution und die Transformation des Wissens (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/065: Wie entstehen neue Weltbilder? (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/066: Die Ursprünge des Teleskops (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/067: Galileis astronomische Werkstatt (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/068: Das Rot der Augen - Die Erforschung der Sonne zur Zeit Galileis (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/069: Wie auf Erden, so im Himmel. Zwei Welten - eine Physik (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/070: Astronomie vor Galilei (Sterne und Weltraum)
GESCHICHTE/071: Der Fall Galilei (Sterne und Weltraum)


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Quelle:
Sterne und Weltraum 7/09 - Juli 2009, Seite 50 - 59
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
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Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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Internet: www.astronomie-heute.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2009