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PLANET/548: Merkur verschrumpelte wie ein alter Apfel (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 10/14 - Oktober 2014
Zeitschrift für Astronomie

KURZBERICHT
Merkur verschrumpelte wie ein alter Apfel

von Adrian Kaminski



Auswertungen von Messdaten der US-Raumsonde Messenger belegen, dass Merkur nach seiner Entstehung um bis zu 14 Kilometer geschrumpft ist. Dieses Ergebnis schließt endlich die Lücke zwischen Beobachtungen und theoretischen Modellen.


Seit rund 40 Jahren rätseln die Planetenforscher darüber, wie stark der Planet Merkur seit seiner Entstehung vor rund 4,5 Milliarden Jahren durch das Abkühlen seines Inneren geschrumpft ist. Die bisherigen Arbeiten gehen auf die Bilder der US-Raumsonde Mariner 10 zurück, Teil eines Programms der NASA zur Erkundung der erdähnlichen Planeten. Die Sonde passierte in den Jahren 1974 und 1975 den sonnennächsten Planeten dreimal in geringem Abstand. Auf den Bildern, die rund 45 Prozent der Oberfläche abdeckten, wurden breite, von Furchen durchzogene Höhenzüge sowie schluchtenartige Formen mit steilen Kanten und flachen Flanken entdeckt. Sie wurden als geologische Merkmale für eine Stauchung der Planetenkruste aufgefasst. Ihre Analyse ergab eine Schrumpfung des Merkurdurchmessers zwischen zwei und vier Kilometern.

Dies stand jedoch im Widerspruch zu theoretischen Modellen, welche die Temperaturentwicklung simulierten und eine Verdichtung des Planeten nahelegten. Damit war eine Schrumpfung des Durchmessers von mehr als zehn Kilometern verbunden. Nun zeigen neue Untersuchungen anhand der Messdaten und Aufnahmen der im Jahr 2004 gestarteten NASA-Raumsonde Messenger, die Merkur als erster künstlicher Satellit seit März 2011 umkreist, dass der Durchmesser des Planeten zwischen 10 und 14 Kilometern abgenommen hat.

Oberfläche als Spiegelbild der Geschichte

Obgleich die Entwicklung der Planeten im Sonnensystem noch nicht in allen Details verstanden ist, herrscht in einem Punkt schon lange Einigkeit innerhalb der Forschergemeinde: Seit der stürmischen Entstehung tendieren die Temperaturen im Inneren der Körper dazu, stetig abzunehmen, sofern keine wärmeerzeugenden Vorgänge jener Abkühlung wesentlich entgegenwirken.

Insbesondere erzeugen radioaktive Kernzerfälle Wärme, aber auch Gezeitenwirkungen können den Wärmehaushalt eines Planeten entscheidend beeinflussen. Das erschwert die Modellrechnungen zur Temperaturentwicklung, da das Ausmaß der Auswirkungen solcher Prozesse schwierig abzuschätzen ist. Auch deshalb wird nach beobachtbaren Anzeichen gesucht, die Hinweise auf vergangene Abläufe auf der Oberfläche und innerhalb von Planeten liefern können.

Auf dem Merkur, mit einem Durchmesser von rund 4880 Kilometern der kleinste Planet des Sonnensystems, spiegelt sich seine Entwicklungsgeschichte in besonderen geologischen Strukturen wider. Da im Allgemeinen mit einer signifikanten Abkühlung eine Materialverdichtung einhergeht, schlägt sie sich im Lauf der Zeit in einer Volumenabnahme und folglich in der Kontraktion des gesamten Planeten nieder. Selbst die Oberfläche bleibt von diesem Prozess nicht verschont und eignet sich daher dafür, Anzeichen auf Vorgänge im Inneren aufzuspüren.

Diese Vorgehensweise ist schon lange bekannt. Tatsächlich wurde noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein ein ähnliches Kontraktionsszenario zur Erklärung prominenter geologischer Erscheinungen auf der Erde herangezogen. Diese Deutung wurde jedoch schließlich verworfen, weil sie daran scheiterte, eine überzeugende Begründung für die Häufung charakteristischer Strukturen wie Gebirgszügen entlang der Ränder der Kontinentalplatten zu geben.

Dies ist dem globalen Kontraktionsmodell zufolge nicht zu erwarten. Tatsächlich sagt es faltenähnliche, tektonisch entstandene Oberflächenmerkmale voraus, die eher willkürlich, aber einheitlich über der Planetenoberfläche verteilt sind. Sie zeugen somit von einer in alle Richtung gleichmäßigen Stauchung. Dies gilt insbesondere dann, wenn die äußere Kruste des Körpers nur aus einer einzelnen zusammenhängenden Platte besteht, wie es bei Merkur der Fall ist. Somit ist er ein spannendes Untersuchungsobjekt.

Der Bote Messenger

Nun konnte das Team um Paul K. Byrne von der Carnegie Institution of Washington die jahrelang vorherrschenden Unstimmigkeiten zwischen den Beobachtungen und der Theorie auflösen. Für ihre Untersuchung verknüpften die Wissenschaftler im visuellen Spektralbereich aufgenommene Bilder von Messenger mit topografischen Daten, die mittels eines mitgeführten lasergestützten Höhenmessers ermittelt wurden. Mit Hilfe dieses Verfahrens kartierten sie rund 95 Prozent der Oberfläche mit einer zuvor nicht erreichten Genauigkeit. Im Anschluss durchsuchten sie die so erstellten Karten nach den oben genannten tektonischen Strukturmerkmalen, die auf eine Kontraktion des Körpers zurückgehen sollten.

Die zahlreichen Funde wurden ihrer Form nach in Klassen unterteilt, gezählt und ihre Längen bestimmt. Ihre größte Aufmerksamkeit schenkte die Arbeitsgruppe Strukturen wie breiten Höhenzügen sowie prägnanten Steilhängen. Sie treten zwar zahlenmäßig überproportional häufig in den früher vulkanisch aktiven Regionen der nördlichen Hemisphäre auf, lassen sich aber auf der gesamten Planetenoberfläche finden.

Drastische Stauchung

Ihre abschließenden Schlussfolgerungen ziehen die Beteiligten der Studie aus insgesamt 5934 dieser geologischen Formationen. Ihre Längen betragen zwischen 9 und 900 Kilometer und zusammen erstrecken sie sich über 416.000 Kilometer. Sie sind eindeutige Belege für eine drastische Stauchung der Oberfläche seit die Planetenkruste erstarrte. Insgesamt muss der Durchmesser des Planeten um 10 bis 14 Kilometer geschrumpft sein. Die absolute Genauigkeit dieses Ergebnisses lässt sich nicht exakt bestimmen, da die Unsicherheiten der angewandten Methode nur schwer abzuschätzen sind. Offenbar unterschätzten die vorangegangenen Untersuchungen anhand der Daten von Mariner 10 das wahre Ausmaß der Merkurkontraktion. Somit ist die aktuelle, annähernd komplette Kartierung des Planeten ein beträchtlicher Fortschritt.

Da sich die neuen Ergebnisse mit den Modellrechnungen zur Temperaturentwicklung im Planeteninneren decken, lässt es sich heute als gesichert ansehen, dass Merkur auf geologischen Zeitskalen temperaturbedingt schrumpfte. Um jedoch die in der Vergangenheit und Gegenwart wirkenden Abkühlungsmechanismen im Detail zu verstehen, müssen noch einige offene Fragen beantwortet werden: Unter anderem nach den Vorkommen an radioaktiven Elementen und dem aktuellen Zustand des im Vergleich zur Erde enorm großen metallischen Planetenkerns. Erkenntnisse darüber sind nicht nur maßgeblich für unser Verständnis der geologischen Entwicklung von Merkur, sondern der erdähnlichen Planeten und Exoplaneten insgesamt. Die Messenger-Daten werden dafür auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Adrian Kaminski hat an der Landessternwarte Königstuhl in Heidelberg promoviert. Seine Interessensgebiete sind Exoplaneten und die Entwicklung protoplanetarer Scheiben.


Literaturhinweise

Byrne, P.K. et al.: Mercury's Global Contraction Much Greater than Earlier Estimates. In: Nature Geoscience 7, S. 301-307, 2014

Dana, J.D.: On Some Results of the Earth's Contraction from Cooling, Including a Discussion of the Origin of Mountains and the Nature of the Earth's Interior. In: American Journal of Science 5, S. 423-443, 1873

Wilson, J.T.: Hypothesis of Earth's Behaviour. In: Nature 198, S. 925-929, 1963

Strom, R.G. et al.: Tectonism and Volcanism on Mercury. In: Journal of Geophysical Research 80, S. 2478-2507, 1975

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Der WIS-Beitrag »Fernerkundung und Kartografie im Sonnensystem« passt zum Artikel »Merkur verschrumpelte wie ein alter Apfel«: Der sonnennächste Planet Merkur war bislang nur wenig erforscht. Das hat sich geändert, denn im März 2011 erreichte die NASA-Raumsonde Messenger den sonnennächsten Planeten. Dieser WIS-Beitrag erlaubt es Schülern, nachzuvollziehen, wie eine solche Sonde einen Planeten kartiert.
(ID-Nummer_1069119)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 20:
Dieses Bild von Merkur nahm Messenger mit seiner Weitwinkelkamera WAC am 2. Oktober 2013 auf. Der Krater nahe der Bildmitte hat einen Durchmesser von 120 Kilometern.

Abb. S. 21:
Ein rund 1700 Kilometer langes System von Verwerfungen lässt auf eine Stauchung der Merkuroberfläche schließen. Der linke Teil der Grafik zeigt ein Landschaftsprofil, bei dem die Höhenunterschiede farblich gekennzeichnet sind. Rechts daneben ist die Struktur der Erhöhungen abgebildet. Die kleinen Pfeile (farbige Dreiecke) weisen in die im Höhenprofil abfallende Richtung, Krater sind durch weiße Kreise markiert.


Der Artikel ist als PDF-Datei mit Abbildungen abrufbar unter:
http://www.spektrum.de/alias/pdf/suw-2014-10-s020-pdf/1307153

© 2014 Adrian Kaminski, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Sterne und Weltraum 10/14 - Oktober 2014, Seite 20 - 22
URL: http://www.spektrum.de/alias/pdf/suw-2014-10-s020-pdf/1307153
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2014