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FORSCHUNG/1033: Vielfalt der Organe - Wann aus einem Reh ein Mensch wird (idw)


Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen - 06.02.2017

Vielfalt der Organe: Wann aus einem Reh ein Mensch wird


Tübingen, den 06.02.2017. Ein internationales Team rund um den Senckenberg-Wissenschaftler Dr. Ingmar Werneburg hat die evolutionäre Organentwicklung bei Säugetieren untersucht. Anhand der Stammbäume verschiedener Säugetiere kommen sie zu dem Schluss, dass eine Veränderung im zeitlichen Auftreten von Merkmalen - ein früheres oder späteres Erscheinen - in größeren oder kleineren Organen resultiert. Darüber hinaus ziehen die Wissenschaftler Rückschlüsse auf die Entwicklung der ersten Plazenta-Tiere sowie die frühe Lebensgeschichte des letzten gemeinsamen Vorfahrens aller ans Land angepassten Landwirbeltiere.


Spitzmaus, Elefant, Delfin, Fledermaus und Mensch - heutige Säugetiere weisen eine große Vielzahl von Körperformen auf. "Bereits lange vor der Geburt zeigen Säugetiere eine charakteristische Körperform, welche im Embryo ausgebildet wird", erklärt Dr. Ingmar Werneburg vom Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment (HEP) an der Universität Tübingen und fährt fort: "Obwohl beispielsweise ein neugeborener Mensch sich in seiner Körperform sehr von einem Erwachsenen unterscheidet, können wir den Säugling dennoch eindeutig der menschlichen Gattung zuordnen." Ein internationales Forscherteam rund um den Tübinger Wissenschaftler hat es sich nun zur Aufgabe gemacht die Organentwicklung einer Reihe Säugetieren zu vergleichen und daraus Rückschlüsse auf die evolutionäre Entwicklung von Säugetieren zu ziehen. Hierfür haben sie den weltweit umfangreichsten Datensatz zur embryonalen Entwicklung von Säugetieren zusammengetragen.

Anhand dieser Stammbäume ist es möglich, die Entwicklung verschiedener Organe und die generelle Anatomie bei einer Vielzahl verschiedener Säugetierarten zu vergleichen. "Wir haben beispielsweise die frühe Entwicklung von Rehen, Menschen und Kaninchen untersucht", erläutert Werneburg und ergänzt: "In unserer Studie haben wir dokumentiert, wann und in welcher Reihenfolge bestimmte Embryonalmerkmale auftreten." Zu diesen Merkmalen zählen die Gliedmaßen - Arme und Beine -, das Herz, Auge, Ohr und die Schnauzenentwicklung, aber auch "Urwirbel" (Somiten) und Kiemenbögen. Eine Veränderung im zeitlichen Auftreten dieser Merkmale - ein früheres oder späteres Erscheinen - resultiert in größeren oder kleineren Organen.

Werneburg hierzu: "Jede Tierart ist durch eine ganz eigene Embryonalsequenz charakterisiert. Bei fortschreitender Entwicklung nehmen die Unterschiede zwischen Rehen, Menschen und Kaninchen immer weiter zu."

Doch nicht nur heutige Säugetiere haben die Wissenschaftler aus Tübingen, Paris, Tokio und Zürich unter die Lupe genommen: Anhand des Vergleichs vieler verschiedener Säugetierarten rekonstruierten sie die Organentwicklung des letzten gemeinsamen Vorfahrens aller plazentalen Säugetiere. "Diese Vorfahren lebten zu einer Zeit als noch die Dinosaurier die Erde beherrschten. Wir gehen davon aus, dass die frühen Säugetiere nach einer Tragzeit von vier Monaten geboren und bis zur Entwöhnung vom Muttertier mehrere Wochen brauchten", erläutert Werneburg.

In einem zweiten Schritt verglich das Wissenschaftlerteam die Organentwicklung von Säugetieren mit der von Reptilien, Beutel- und Kloakentieren. "Alle diese vollständig an das Land angepassten Tieren haben gemeinsam, dass die Jungtiere erst nach der Geburt oder dem Schlüpfen ihre Augen öffnen können", fügt Werneburg hinzu. Die Forscher vermuten daher, dass der Vorfahre aller echten Landwirbeltiere - die Amnioten - zwar Eier legte, die Jungen aber blind zur Welt kamen und von den Eltern gefüttert und beschützt werden mussten.

Begleitende Studien erschienen kürzlich in den Fachjournalen "Evolution: Education and Outreach" und "Evolution & Development" sowie im "Handbook of Zoology".


Publikationen

Werneburg, I., Laurin, M., Koyabu, D. and Sánchez-Villagra, M. R. (2016),
Evolution of organogenesis and the origin of altriciality in mammals.
Evolution & Development, 18: 229-244.
doi:10.1111/ede.12194

Sánchez-Villagra and Werneburg
Evo Edu Outreach (2016) 9:11
DOI 10.1186/s12052-016-0062-y

Handbook of Zoology/
Editor-in-Chief: Schmidt-Rhaesa, Andreas. Hrsg. v. Beutel, Rolf G. / Kristensen, Niels Peder / Leschen, Richard / Purschke, Günter / Westheide, Wilfried / Zachos, Frank


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen - 06.02.2017
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2017

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