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GENETIK/132: Gene und Proteine erklären nicht alles (idw)


Eberhard Karls Universität Tübingen - 09.11.2009

Gene und Proteine erklären nicht alles

Neue Tübinger Erkenntnisse verändern die Sicht der klassischen Genetik


Andreas Wachter, seit 2009 Emmy Noether-Forschungsgruppenleiter am Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen (ZMBP) der Universität Tübingen, untersucht molekulare Regulationsmechanismen in zentralen biologischen Prozessen. Er überträgt neueste Erkenntnisse aus der Forschung an Bakterien erstmals auf Pflanzenzellen und betont die Bedeutung der Ribonukleinsäure (RNA) bei diesen lebenswichtigen Prozessen.

Wachter untersucht die RNA an einem klassischen Mechanismus, dem sogenannten "Spleißen", bei dem bestimmte Abschnitte aus den RNA-Molekülen ausgeschnitten und die Informationen komprimiert werden. Bisher wurde angenommen, dass die komplexe und überlebenswichtige Aufgabe der Regulation des Spleißens nur von speziellen Proteinen geleistet werden kann. Wachter stellt diese klassische Interpretation in Frage: "Eine sehr elegante Lösung wäre es, wenn die RNA den Prozess des Spleißens direkt beeinflussen kann, ohne erst den Umweg über Proteine zu gehen." Als Postdoc erforschte Wachter diesen Prozess des "Alternativen Spleißen" in der auf dem Gebiet sogenannter RNA-Schalter weltweit führenden Arbeitsgruppe von Ronald Breaker an der renommierten Yale University in Connecticut, USA.

RNA-Schalter auch in Pflanzen

Wachter ist einer der ersten, der diese an Bakterien erforschten Mechanismen auf höhere Organismen überträgt und in Pflanzenzellen untersucht. Dabei konnte er bereits zwei neue Klassen von RNA-Schaltern beschreiben. "Die Rolle der RNA für die Lebensprozesse in der Zelle wurde lange Zeit völlig unterschätzt! Es werden vermutlich sehr viel mehr Prozesse als wir bisher ahnen von der RNA selbst gesteuert." Die für eine Erforschung der komplexen Strukturen erforderlichen Techniken hat sich Wachter in Amerika angeeignet und kann diese nun in Tübingen einsetzen. Dabei setzt er auf die Zusammenarbeit mit anderen Arbeitsgruppen am Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen (ZMBP) und dem benachbarten Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie.

Viele Wissenschaftler betrachten die RNA nur als einen notwendigen Zwischenschritt, um die Erbinformation der DNA aus dem Zellkern zu übersetzen in Proteine, die in der Zelle alle lebenswichtigen Funktionen erfüllen. Viel mehr als eine solche Matrizenfunktion hat man der RNA lange nicht zugetraut, zumal sie mit ihren vier Bausteinen in einem Einzelstrang geradezu primitiv erscheint gegenüber den hochkomplexen und spezialisierten Strukturen, in denen Proteine in der Zelle vorkommen.

Wachter betrachtet die RNA nicht nur in ihrer eindimensionalen Abfolge der Basen auf einem Einzelstrang, sondern untersucht auch deren Struktur in der zweiten und dritten Dimension. Und in dieser räumlichen Betrachtung entpuppt sich der vermeintliche Nachteil der RNA, die im Gegensatz zur Doppelhelix der DNA nur aus einem einzelnen Strang besteht, plötzlich als enormer Vorteil: Die Ausbildung von räumlichen Strukturen ist im Einzelstrang sehr viel einfacher möglich. Und diese Faltungen der RNA vervielfachen die Möglichkeiten für Interaktionen mit anderen Molekülen - und mit sich selbst.

Durch die Faltung der RNA in dreidimensionale Strukturen wird ein effizienter Regulationsmechanismus in vielen Auf- und Abbauprozessen der Zelle möglich: Die RNA muss nicht auf Proteine warten, sondern kann die Prozesse durch spezielle Faltungen selbst regulieren und über unterschiedliche Strukturen verschiedene Reaktionsabläufe in der Zelle selbst steuern. Wachter sagt für die Zukunft voraus: "Die bisherigen Arbeiten wiesen das enorme Potenzial von RNA in vielen zellulären Prozessen nach. Ich bin mir sicher, dass dieses Potenzial in allen Lebewesen sehr viel stärker genutzt wird, als bisher angenommen."

Entwicklung von Antibiotika

Der Einfluss der RNA-Struktur auf die Steuerung von Prozessen in den Zellen wird weltweit intensiv erforscht, da man neben dem grundlegenden Verständnis biologischer Prozesse auch das große Potential zur Entwicklung neuer Antibiotika erkannt hat: Ein Mechanismus, der so effizient die Regulation von lebenswichtigen Prozessen steuert, kann, so erwarten die Forscher, gezielt verändert und gegen zunehmend resistente Bakterienstämme eingesetzt werden.


Über Dr. Andreas Wachter
Andreas Wachter studierte Biologie mit einem Fokus auf Molekularbiologie, Botanik und Ökologie an der Universität Heidelberg. Nach einer Promotion auf dem Gebiet der molekularen Pflanzenwissenschaften in Heidelberg im Jahr 2004 folgten ein dreimonatiges Forschungsprojekt an der Harbin Universität in China sowie zwei Jahre als Postdoc an der Yale Universität, USA. Ab Sommer 2007 führte Wachter seine Forschung am Heidelberger Institut für Pflanzenwissenschaften fort und leitet seit 2009 eine Emmy Noether-Forschungsgruppe zum Thema "Alternatives Spleißen in Pflanzen" am Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen an der Universität Tübingen.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Michael Seifert, 09.11.2009
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E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2009