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MELDUNG/143: Alle Tier- und Pflanzenarten in 50 Jahren beschreiben - das geht! (idw)


Museum für Naturkunde - Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin - 03.04.2012

Alle Tier- und Pflanzenarten in 50 Jahren beschreiben - das geht!



Die gesamte biologische Vielfalt unseres Planeten kann in weniger als 50‍ ‍Jahren beschrieben werden! Mit dieser provokanten These treten 39 Wissenschaftler an die Öffentlichkeit, darunter Johannes Vogel, der neue Generaldirektor des Museums für Naturkunde in Berlin. Die für diese große Aufgabe benötigten naturkundlichen Sammlungen, Experten und Technologien seien alle bereits vorhanden. Diesem ganz wesentlichen Schritt zum Schutz der weltweiten biologischen Vielfalt stehe daher eigentlich nichts im Wege.

In der März-Ausgabe des wissenschaftlichen Journals "Systematics and Biodiversity", herausgegeben vom Londoner Naturkundemuseum, beschrieben die 39 Autoren, unter ihnen auch berühmte Persönlichkeiten wie der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson, wie das ambitionierte Projekt der vollständigen Erfassung der lebenden Tier- und Pflanzenwelt in weniger als 50 Jahren realisiert werden könne. Bei geschätzt 12 Millionen Arten, von denen erst rund zwei Millionen bekannt und beschrieben sind, geht es um die Beschreibung von geschätzten zehn Millionen Arten. "Dies wird nicht funktionieren, wenn wir weiter vorgehen wie bisher." betont Johannes Vogel. Quentin Wheeler, Entomologe an der Arizona State University und Hauptautor der Publikation, beschreibt die Situation so: "Vom 18. Jahrhundert bis zu unserer heutigen Einschätzung der Geschwindigkeit, mit der wir Biodiversität verlieren, schien es so, als könnten wir damit leben, nur einen Teil der Arten auf der Erde zu kennen. Nun ist es offenkundig, dass dies eine tragische Fehleinschätzung war." Prognosen sagen voraus, dass allein 30 Prozent aller heutigen Arten noch in diesem Jahrhundert aussterben werden.

"Die Zeit ist reif für eine flächendeckende Mission zur Erkundung und Dokumentation der auf der Erde lebenden Arte. Die Registrierung der Biosphäre ist eine ungemein komplexe Aufgabe. Allerdings kann der hierfür notwendige Sachverstand zusammengebracht werden durch Partnerschaften mit Ingenieuren, Informatikern, Soziologen, Klimaforschern, Naturschutzexperten, Projektmanagern aus der Industrie, Experten für die Beschreibung neuer Arten und anderen Fachleuten", schreiben die Autoren. Johannes Vogel betont: "Im Jahr 2012‍ ‍sehen wir uns einer beispiellosen Krise gegenüber und haben zugleich beispiellose Möglichkeiten. Die Welt ist in einer Aussterbekrise und gleichzeitig haben wir alle intellektuellen und technologischen Fähigkeiten für eine schnelle Erschließung der Biodiversität - durch Verknüpfung der Möglichkeiten von Wissenschaft, Industrie und Gesellschaft für ein überragende Aufgabe: den Planeten, auf dem wir leben, zu entdecken und zu verstehen." Vogel sieht Deutschland als besonders geeignet, hier eine wichtige Rolle zu übernehmen: "Wir haben in Deutschland nicht nur hervorragende technische und finanzielle Voraussetzungen, sondern mit der Leibniz-Gemeinschaft, insbesondere mit dem Leibniz-Verbund Biodiversität, auch hervorragende wissenschaftliche Expertise." Zum Leibniz-Verbund Biodiversität gehören neben dem Museum für Naturkunde Berlin auch das Senckenberg-Naturmuseum (Frankfurt/M.) und das Forschungsmuseum Alexander Koenig (Bonn).

Als konkretes Ziel nennen die Autoren: "jede Art kennen und für jede Art verstehen, was sie einmalig macht, von ihrem Aussehen bis zu ihrer genetischen Ausstattung, ihrem Verhalten, ihrer Ökologie, ihrer geografischen und jahreszeitlichen Verbreitung und ihren Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Arten." Neben dem Einsatz modernster Technologien schlagen die Autoren hierfür die Gründung einer schlagkräftigen Arbeitsgemeinschaft von Biodiversitätsforschern und der breiten Öffentlichkeit vor. Diese soll ungehinderten Zugang zu wissenschaftlichen Ressourcen erhalten, beispielsweise zu den geschätzt drei Milliarden naturkundlicher Sammlungsobjekte in den Botanischen Gärten, Naturkundemuseen und Universitäten.

Die Veröffentlichung belässt es aber nicht bei allgemeinen Vorschlägen, sondern listet konkreter Schritte auf. Darunter finden sich Empfehlungen für die Zusammenarbeit von Laienwissenschaftlern und Berufswissenschaftlern sowie für die Modernisierung der Forschungsinfrastruktur durch hochinnovative digitale Technologien. Die Autoren geben Tipps, wie die Geschwindigkeit der Entdeckung und Beschreibung neuer Arten erhöht werden kann und wie eine intensivere Zusammenarbeit auf internationaler wissenschaftlicher Ebene möglich wird. "Den Naturkundemuseen als Archiven der Biodiversität kommt eine wesentliche Rolle zu, gewissermaßen als Basislager, von denen aus die großen Expeditionen starten", betont der Generaldirektor des Berliner Museums für Naturkunde, Johannes Vogel.

Ein Vorschlag der 39 Autoren wird in Deutschland schon öffentlichkeitswirksam umgesetzt: Bestimmungsaktionen, bei denen Forscher und interessierte Laien sich einen Tag lang einen kleinen ausgewählten Bereich vornehmen und versuchen, alle dort lebenden Tiere und Pflanzen zu bestimmen. Denkbar wäre auch, sich auf ein kleines Land zu fokussieren und dort eine möglichst schnelle und umfassende Beschreibung der gesamten Tier- und Pflanzenwelt zu erreichen.

Originalveröffentlichung:
Q. D. Wheeler, S. Knapp, D. W. Stevenson, J. Stevenson, S. D. Blum, B. M. Boom, G. G. Borisy, J. L. Buizer, M. R. De Carvalho, A. Cibrian, M. J. Donoghue, V. Doyle, E. M. Gerson, C. H. Graham, P. Graves, S. J. Graves, R. P. Guralnick, A. L. Hamilton, J. Hanken, W. Law, D. L. Lipscomb, T. E. Lovejoy, H. Miller, J. S. Miller, S. Naeem, M. J. Novacek, L. M. Page, N. I. Platnick, H. Porter-Morgan, P. H. Raven, M. A. Solis, A. G. Valdecasas, S. Van Der Leeuw, A. Vasco, N. Vermeulen, J. Vogel, R. L. Walls, E. O. Wilson, J. B. Woolley 2012:
Mapping the biosphere: exploring species to understand the origin, organization and sustainability of biodiversity. Systematics and Biodiversity 10 (1): 1-20. DOI: 10.1080/14772000.2012.665095
(Link zur Publikation: siehe unten)

Weitere Informationen unter:
www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/14772000.2012.665095
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Museum für Naturkunde - Leibniz-Institut für Evolutions- und
Biodiversitätsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin,
Dr. Andreas Kunkel, 03.04.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2012