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ORNITHOLOGIE/230: Der Tahitirohrsänger - ein kleiner "Bambuspapagei" (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 3/2011

Schicksal einer Inselart: Der Tahitirohrsänger - ein kleiner "Bambuspapagei"

Von Jens Hering


Nur auf der Hauptinsel Französich-Polynesiens leben heute noch Tahitirohsänger Acrocephalus caffer. Die letzten Rückzugsgebiete dieses bisher kaum untersuchten Singvogels liegen in einsamen, schwer erreichbaren Gebirgstälern. Versteckt klettern hier die Rohrsänger in dichtem Bambus, aber ihre lauten Rufe und der melodische Gesang verraten ihre Anwesenheit.

Einer der letzten Rückzugsräume von Acrocephalus caffer auf Tahiti - das Tal des Flusses Papenoo im Norden der Insel. - Foto: © Jens Hering

Einer der letzten Rückzugsräume von Acrocephalus caffer auf Tahiti -
das Tal des Flusses Papenoo im Norden der Insel.
Foto: © Jens Hering

Die Beobachtung eines Tahitirohrsängers ist mit erheblichem Aufwand verbunden. Um die letzten Brutgebiete im bergigen Inselinneren zu finden, bedarf es schon eines Allradwagens oder langer Fußmärsche. Ein guter Ausgangspunkt für die erfolgreiche Suche ist der abgelegen im nördlichen Teil der Insel im Tal des Papenoo-Flusses befindliche Naturpark "Te Faaiti". Mit etwas Glück sind bereits auf dem Weg zu dem Schutzgebiet, mehrere Kilometer südlich der Küstenstraße, die markanten churr-Rufe zu hören. Aber auch der melodische, von harten Tönen begleitete Gesang ist unverkennbar. Wir sahen unseren ersten "Otatare" - so einer der einheimischen Namen - in dichter Ufervegetation, nicht weit vom Parkeingang entfernt. Ununterbrochen kletterte der auffallend große und langschnäblige, gelblich-olivgrün gefärbte Rohrsänger weit oben in einer Baumkrone auf der Suche nach Nahrung. Wenig später hörten wir seltsame Rufe, die keiner der wenigen auf Tahiti vorkommenden Singvogelarten zugeordnet werden konnten. Auf einem Palmenblatt saß ganz offen ein flügger, bettelnder Tahitirohrsänger, der in regelmäßigen Abständen von einem Altvogel gefüttert wurde. Zu allem Glück handelte es sich bei dem Jungen um ein Individuum der seltenen dunkelbraunen Morphe. Das gewünschte Studienobjekt war gefunden. Tagelang konnten wir hier nun Daten über das noch weitgehend unbekannte Verhalten dieser stark gefährdeten Rohrsängerart sammeln.

Ein seit Tagen flügger Jungvogel der dunklen Farbmorphe wartet im Regen auf die Fütterung. - Foto: © Jens Hering

Ein seit Tagen flügger Jungvogel der dunklen Farbmorphe wartet im Regen auf die Fütterung.
Foto: © Jens Hering

Zum Aussterben verurteilt?

Wird der Tahitirohrsänger schon bald in der Liste der ausgestorbenen Vögel geführt werden, gleich dem Schicksal so vieler anderer Inselarten? Von der auf Tahiti in Bambuswäldern vorkommenden Nominatform soll es derzeit nicht mehr als 100 bis 300 Brutpaare geben. Diese Schätzung ist allerdings unsicher, da es in den letzten Jahren keine Zählungen gab. Eine Erfassung fand zwischen 1986 und 1991 statt, wobei die Art in nur 12 von 39 Tälern im Inneren und im Osten der Insel gefunden wurde. Zum Vergleich liegen Informationen aus den 1920er Jahren vor, als die Whitney South See Expedition im Auftrag des American Museum of Natural History auf Tahiti mehrere Monate sammelte und den Rohrsänger zum Beispiel auch in Tälern im Nordwesten nachweisen konnte. Auf zwei anderen Inseln waren die Rohrsänger zu dieser Zeit schon ausgestorben. Die Unterarten garretti von Huahine und musae von Raiatea können heute nur noch in Museen bestaunt werden. Vermutlich starben sie Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts aus. Dagegen wurde auf Moorea, der Nachbarinsel von Tahiti, die Subspecies longirostris letztmalig 1981 beobachtet. Neuerliche Hinweise auf ein Überleben bedürfen zwar der Überprüfung, doch wären die Chancen für eine überlebensfähige Population gering (phylogenetische Untersuchungen haben ergeben, dass die Taxa garretti, musae und longirostris möglicherweise drei verschiedene Arten darstellen).

Zudem fanden wir auf der Insel Morea nur noch rudimentäre Bestände des polynesischen Bambus.


Wanderratte, Hauskatze, Hirtenstar und Co.

Die katastrophalen Auswirkungen eingeschleppter Pflanzen- und Tierarten auf Flora und Fauna tropischer Inseln sind hinlänglich bekannt. Natürlich blieb auch die Tahiti-Inselgruppe davon nicht verschont.

Auf der Hauptinsel sind neben der Lebensraumzerstörung vor allem invasive Arten verantwortlich für den massiven Bestandsrückgang zahlreicher Arten. Neben dem Tahitirohrsänger sind u. a. auch Mangrovereiher (endemische Unterart Butorides striata patruelis), Tahitifruchttaube und Tahitimonarch betroffen. Vom Tahitimonarchen existierten 2009 gerade einmal noch 23 Individuen. Als Nesträuber stehen wahrscheinlich Wanderratte, Hauskatze und Hirtenstar an erster Stelle. Aber auch die 1885 zur Rattenbekämpfung eingeführte und nun verbreitete Sumpfweihe könnte als Prädator eine Rolle spielen. Besonders tragisch hat sich der 1937 erfolgte Import des in Südamerika vorkommenden, immergrünen Baumes Miconia calvescens auf Tahiti ausgewirkt. Der bis zu 15 m hoch wachsende Neophyt breitet sich rasant in den bewaldeten Gebieten der Insel aus und verdrängt nach und nach die einheimische Vegetation. Schließlich hält die Zerstörung und Fragmentierung der Lebensräume unaufhörlich an. So wurden beispielsweise in den 1970er Jahren große Flusstäler durch Straßenbaumaßnahmen erschlossen, um dort Wasserkraftanlagen zu errichten. Durch die Erschließung gelangte zudem die Forstwirtschaft immer mehr in das Inselinnere. Infolge dessen schrumpften auch die für den Tahitirohrsänger so wichtigen Bambuswälder. Vorkommen in an Bambus angrenzenden Beständen aus Lindenblättrigem Eibisch, im Kulturland und in Plantagen aus Kokospalmen sind heute erloschen.

Dichte Bestände des Polynesischen Bambus, oft an Fließgewässern gelegen, sind der Lebensraum des Tahitirohrsängers. - Foto: © Jens Hering

Dichte Bestände des Polynesischen Bambus, oft an Fließgewässern
gelegen, sind der Lebensraum des Tahitirohrsängers.
Foto: © Jens Hering

Ein und dieselbe Art - grüne und schwarze Vögel

Man könnte glauben, dass auf Tahiti zwei verschiedene Rohrsängerarten leben. Dabei sind es jedoch "nur" zwei extrem verschiedene Farbtypen ein und derselben Art. Ein dermaßen ausgeprägter Farbdimorphismus ist bei keiner anderen Acrocephalus-Art und auch nicht bei den Unterarten der Nachbarinseln bekannt. Zum einen gibt es den hellen Typ, bei dem Unterseite und Kopfpartien gelblich-grün, Oberseite, Flügeldecken und Schwanz mehr oder weniger bräunlich oder dunkelgrau gefärbt sind. Ein Schokoladenbraun, das im Gelände rußig schwarz wirkt, kennzeichnet dagegen die dunkle Morphe. Selbst Schnabel und Füße unterscheiden sich. Bei den negriden Individuen sind sie schwarz. Besonders eindrucksvoll fanden wir dunkle Tahitirohrsänger, die weiße Farbanteile zeigten. Es waren Vögel mit weißen Schwanzfedern, weißlichem Kinn und mit weißen Tropfen auf den Flügeldecken. Partieller Leukismus, vermutlich als Folge der langen Isolation der Inselpopulationen, ist bei Südseerohrsängern verbreitet. Aber auch zu diesem Thema wurden Tahitirohrsänger noch nicht näher untersucht. Interessant wären z. B. das Häufigkeitsverhältnis der beiden Farbtypen und ob es Mischtypen gibt. Angeblich soll auf vier helle Individuen ein dunkler Vogel kommen.

Den mit 19 cm beachtlich großen Rohrsänger zeichnen kräftige Beine und ein besonders langer Schnabel aus. - Foto: © Jens Hering

Den mit 19 cm beachtlich großen
Rohrsänger zeichnen kräftige Beine und
ein besonders langer Schnabel aus.
Foto: © Jens Hering

Ein Kletter- und Hüpfkünstler

Über Verhalten und Brutbiologie des Tahitirohrsängers gibt es nur wenige Informationen. Wahrscheinlich brütet er ganzjährig, vorzugsweise von Juli bis Dezember. Die Nester sollen bis 15 m hoch gebaut werden. Angaben zum Jungvogel lagen bisher nicht vor. Mit der intensiven Beobachtung eines sicher schon mehrere Tage flüggen Jungen im September 2010 konnten wir diese Lücke ein wenig auffüllen. Typisch für Südseerohrsänger ist die lange Fütterungszeit, die bis zum vollständigen Erreichen der Unabhängigkeit beim Hendersonrohrsänger mindestens sechs Wochen und beim Seychellenrohrsänger etwa 180 Tage dauern kann. Wir waren demzufolge nicht verwundert, dass der dunkle Jungvogel im Papenoo-Tal nach einer vierzehntägigen Beobachtungspause immer noch am selben Ort gefüttert wurde. Bemerkenswert war allerdings sein Verhalten. Wie ein kleiner Papagei kletterte er verspielt im Bambus und auf Palmblättern, ließ sich nach unten hängen, hüpfte, trippelte auf waagerechten Ästen und pickte oft kleine Insekten von der Blattunterseite. Dabei verrenkte und streckte er seinen Körper oft so extrem lang, dass der ohnehin schon lange Schnabel noch länger wirkte. Ähnlich verhielten sich auch zwei Altvögel - ein "Dunkler" und ein "Heller" - die minutenlang im Kronenbereich großer Bäume gemeinsam Nahrung suchten und auch kopulierten.

Ein Revier anzeigender, dunkler Tahitirohrsänger in seinem Lebensraum, dem Bambuswald. - Foto: © Jens Hering

Ein Revier anzeigender, dunkler Tahitirohrsänger
in seinem Lebensraum, dem Bambuswald.

Die Zukunft der letzten Tahitirohrsänger ist ungewiss. Ein geplantes Schutzprogramm der Société d'Ornithologie de Polynésie "Manu" musste aufgrund finanzieller Einschränkungen verschoben werden. Bleibt nur zu hoffen, dass der Rettungsplan und dessen Umsetzung noch rechtzeitig kommen. Als Grundlage dafür sollten jedoch zunächst, und das schnellstmöglich, präzise Untersuchungen zu Habitatansprüchen und Brutbiologie stattfinden.


Jens Hering arbeitet seit 1992 in der sächsischen Naturschutzverwaltung. Er ist Mitglied der Avifaunistischen Kommission Sachsen und verwaltet in seiner Freizeit die Bibliothek des Vereins Sächsischer Ornithologen. Seine Auslandsreisen sind gezielt auf die Erforschung der Vogelwelt Libyens, der Azoren und Kapverden ausgerichtet.


Literatur zum Thema:

Cibois A, Thibault J-C, Pasquet E 2008: Systematics of the extinct reed warblers Acrocephalus of the Society Islands of eastern Polynesia. Ibis 150: 365-376.

Gouni A, Zysman T 2007: Oiseaux du fenua: Tahiti et ses îles. Téthys editions, Tahiti.

Leisler B, Schulze-Hagen K (in Vorb.): Diversity in a uniform bird family - The Reed-Warblers.

Kennerley P, Pearson D 2010: Reed and Bush Warblers. C. Helm, London.

Mees GF 1991: Bemerkungen über Acrocephalus caffer (Sparrman) in der Tahiti-Gruppe (Aves, Sylviidae). Proc. Kon. Ned. Akad. v. Wetensch. 94: 243-256.

Monnet C, Thibault J-C, Varney A 1993: Stability and changes during the twentieth century in the breeding landbirds of Tahiti (Polynesia). Bird Cons. Internat. 3: 261-280.

Für nützliche Hinweise und anderweitige Hilfe danke ich Alice Cibois, Anne Gouni, Thomas Kraft, Bernd Leisler, Karl Schulze-Hagen, Dieter Saemann, Till Töpfer, Thierry Zysman und meiner Frau Heidi.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 3/2011
58. Jahrgang, März 2011, S. 92-95
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141; Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de
Internet: www.falke-journal.de

Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,80 Euro
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2011