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ORNITHOLOGIE/247: Helgoland mit knapper Not erreicht - Gefahren für erschöpfte Zugvögel (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 10/2011

Helgoland mit knapper Not erreicht:
Gefahren für erschöpfte Zugvögel

von Hans-Heiner Bergmann und Hans-Joachim Fünfstück


Es ist Südwestwind und strahlend sonniges Märzwetter. Die Kraniche kreisen eine Weile und gewinnen an Höhe. Dann bilden sie eine Keilformation und streichen im Gleitflug bequem nach Nordosten ab, ihrem nächsten Rastplatz zu, den sie vor Eintritt der Dunkelheit erreichen dürften. Das sieht mühelos und glanzvoll aus. Man gewinnt den Eindruck, dass Vögel auch während des Zuges ihren Aufgaben gewachsen sind, erstklassig angepasst, ebenso wie es bei der Nahrungssuche und während der Brut zu sein scheint. Vogelzug ist aber auch Anstrengung, Elend und Gefahr. Ein Besuch zur Zugzeit auf der Hochseeinsel Helgoland macht dies deutlich.

Foto: © H.-H. Bergmann, Helgoland, 3.10.2010

Nordstrand Helgoland - beliebter Rastplatz für Vögel und Beobachtungsplatz für Vogelfreunde.
Foto: © H.-H. Bergmann, Helgoland, 3.10.2010

Anfang Oktober - es ist Zugzeit. Nacht für Nacht fallen neue Scharen von Zugvögeln auf der Insel Helgoland ein. Tagsüber sind sie auf Nahrungsaufnahme und Rasten eingestellt. Jede kleine Rasenfläche, ja selbst Straßen und Parks wimmeln von Wiesenpiepern, Rotkehlchen, Rohrammern und anderen Gästen. Ein Strauch steckt voller Wintergoldhähnchen, die eifrig schwirren und picken. Fliegenschnäpper, Laubsänger und Rotschwänze halten sich mehr an die höhere Vegetation.

Foto: © H.-H. Bergmann, Helgoland, 3.10.2010

Weiblicher Erlenzeisig, in erschöpftem Zustand, pickt zwischen den Pflastersteinen.
Foto: © H.-H. Bergmann, Helgoland, 3.10.2010

Auf dem gepflasterten Weg am Ortsrand sitzt ein kleiner Vogel, der sich nicht sehr wohl zu fühlen scheint. Es ist ein weiblicher Erlenzeisig, der in den schmalen Ritzen zwischen den Pflastersteinen winzige Grassamen und anderes aufpickt. Der aufgeplusterte Vogel hüpft auffallend langsam umher, seine Fluchtdistanz ist gering. Ein Artgenosse auf dem Oberland hat es nicht einmal so weit geschafft wie dieser. Er liegt tot neben dem Weg. Körpergewicht: 10,3 Gramm. Ein normaler Erlenzeisig wiegt 14 Gramm. Der tote Vogel ist völlig abgemagert. Sein Brustbein steht scharf heraus, was man sehr leicht ertasten kann oder sieht, wenn man das Brustgefieder zur Seite schiebt. Der Magen ist leer. Man weiß, dass Vögel unter extremen Bedingungen während des Zuges über Meer und Wüste sogar ihre inneren Organe abbauen, um Energie zu gewinnen und das rettende Ziel zu erreichen. Sie sind nach ihrer Ankunft gar nicht imstande, schnell Nahrung aufzunehmen und zu verdauen. Nachdem er den Flug über das Meer überstanden hatte, ist der Erlenzeisig im Nachhinein doch noch zum Opfer des Vogelzugs geworden. In der vergangenen Nacht herrschte kräftiger Südostwind, was für ihn wahrscheinlich schräg von vorn kommenden Gegenwind bedeutete. Der mag ihn das Leben gekostet haben, weil seine Reserven an Energie nicht ausreichten. Zwei Wiesenpieper, die ebenfalls tot gefunden wurden, weisen Körpergewichte von 10,9 und 12,3 Gramm auf. Ihr Normalgewicht liegt bei 17 Gramm. Wie viele der kleinen Vögel mögen bei dem scharfen Gegenwind heute Nacht aufgegeben haben und ins aufgewühlte Wasser der Nordsee gefallen sein? Am offenen Strand liegen auf einer kleinen Erhöhung zwei Rupfungen von Wintergoldhähnchen. Vielleicht hat sie der Sperber, noch über dem Wasser oder als sie gerade die Küste erreicht hatten, gegriffen. Für ihn oder den Merlin ist solch eine Portion von vier oder fünf Gramm Körpergewicht wohl auch nur eine Notverpflegung.


Der Feind ist nicht fern

Die auf der Insel rastenden Drosseln halten sich an Holunderbeeren, Sanddorn, Mehlbeeren und andere massenhaft vorhandene Früchte. Auf dem Oberland und an sonstigen offenen Stellen haben einige Singdrosseln jedoch die Deckung der Büsche verlassen und sind auf der Suche nach Gehäuseschnecken. Sobald sie eine gefunden haben, hüpfen sie zum nächsten flachen Stein und zerschlagen das Schneckenhaus, um an den nahrhaften Inhalt heranzukommen.

Foto: © H.-J. Fünfstück, 5.10.2010

Auf den Wiesen im Oberland suchen im Oktober zahlreiche Singdrosseln nach Nahrung.
Foto: © H.-J. Fünfstück, 5.10.2010

Den meisten Drosseln scheint es nicht schlecht zu gehen, andere dagegen blieben auf der Strecke: Am Fuß eines Steilhangs liegen sie aufgereiht, ein Federhaufen neben dem anderen. Rupfungen von Singdrosseln, die der Sperber hinterlassen hat. Auch auf dem Oberland finden sich solche Beutereste - dort, wo der Greifvogel ein wenig Deckung findet, z. B. in den Bombentrichtern und an Wind abgewandten Abhängen. Das noch zusammenhängende Flügelpaar eines Amselweibchens spricht dafür, dass hier der Wanderfalke tätig war. Auch Federn von Rotdrosseln sind zu finden. Die Beutegreifer, die bei Tag über das Meer gekommen sind, nutzen ihre Chance. Eine Drossel ist eine bessere Beute als ein magerer Erlenzeisig oder gar ein Goldhähnchen.


Der Helgoländer "gläserne Tod"

Vor uns liegt eine tote Singdrossel. Frischgewicht 68,8 Gramm. Eine normale Singdrossel bringt durchschnittlich 68 Gramm auf die Waage. Der Vogel ist also nicht verhungert. Er hat es bis zur Insel geschafft, hat aber nicht überlebt. Er liegt unter dem Fenster eines Wohnhauses auf dem Rasen. Ein wenig Blut hängt am Schnabel. Der Vogel ist wahrscheinlich in der vergangenen Nacht an das Fenster geprallt und hat sich tödlich verletzt. So geht es vielen der Ankömmlinge. Ob die Jugendherberge oder die Schule des Ortes mit ihren großen Fensterflächen, ob einfache Wohn- oder Geschäftshäuser - sie alle bieten, wie woanders auch, unbeabsichtigt gläserne Fallen für die ermüdeten Vögel.

Für die Vogelpopulationen ist Tod durch Glasanflug immer nur ein lokales Ereignis. Doch wenn viele Tausende beim Überqueren von Meer, Hochgebirge oder Wüste umkommen, wirkt das großflächig als natürliche selektive Kraft gegen die Wanderungen, eine Aufforderung an die Vogelpopulation, andere Zugwege zu finden, bessere Wetterbedingungen abzuwarten, effektivere Energiespeicherung zu entwickeln oder einfach zu Hause zu bleiben. Eine schwere Aufgabe, weil die wandernden Vögel schon Zehntausende von Jahren unter dem Druck stehen, ihre Leistungen so gut es geht anzupassen.


Silbermöwe erbeutet Wiesenpieper

Am Nordstrand hat das Meer einen mächtigen Spülsaum von Braunalgen aufgetürmt, der von Fliegen und anderen Kleintieren wimmelt. Das ist eine Attraktion für hungrige Kleinvögel. Die meisten unter ihnen sind Wiesenpieper und Stare, doch auch Bachstelzen, Buchfinken, Bergfinken, Spornammern, ja sogar einige Zilpzalpe haben sich zur Nahrungssuche hier eingefunden. Selbst Silber- und Mantelmöwen picken eine Fliegenmade nach der anderen auf.

Foto: © H.-J. Fünfstück, 4.10.2010

Eine diesjährige Silbermöwe hat einen Wiesenpieper erbeutet.
Foto: © H.-J. Fünfstück, 4.10.2010

Plötzlich hat eine Silbermöwe einen der Wiesenpieper gepackt und hält ihn im Schnabel. Sekunden später ist der Kleinvogel verschluckt. Die anderen Pieper ringsum machen weiter wie bisher, während die Silbermöwe wie ein Reiher mit langsamen Schritten wieder auf die Jagd geht. Beutegreifer wie die Silbermöwe können wahrscheinlich sofort beurteilen, ob es einem Kleinvogel schlecht geht oder nicht. Sie wissen, wie sie seiner habhaft werden können und nutzen selbst die kleinste Chance, ein geschwächtes Individuum zu erbeuten. Gesunde Vögel wären viel zu schnell und würden entkommen. Lernen können die Kleinvögel daraus nichts. Wandern und Rasten bringen erhöhte Risiken, auf die sich die Vögel einlassen müssen. Wer Schwäche zeigt, fällt dem natürlichen Risiko zum Opfer - von den zusätzlichen, durch Menschen erzeugten Gefährdungen ganz abgesehen.

Foto: © H.-J. Fünfstück, 6.10.2010

Völlig ermattet ist dieser Wiesenpieper nicht mehr in der Lage, sein Gefieder zu pflegen.
Foto: © H.-J. Fünfstück, 6.10.2010

Zum Glück sind die geschilderten Einzelschicksale nur die eine Seite der Medaille. Denn selbst auf der kleinen Insel Helgoland finden heute dank der genannten Beeren und Fliegen(maden), ganz zu schweigen von den vielfältigen Meeresorganismen in den umliegenden Gewässern, selbst Schwärme von rastenden Sing- und Wasservögeln ausreichend Nahrung. Dass der eine oder andere von ihnen selbst gefressen wird, gehört zu den natürlichen Abläufen innerhalb des Nahrungsnetzes.

Foto: © H.-J. Fünfstück, 29.9.2010

Rohrammern sind im Oktober häufig auf Helgoland zu sehen.
Foto: © H.-J. Fünfstück, 29.9.2010

Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann ist pensionierter Hochschullehrer und schreibt Bücher und Artikel über Vogelbiologie, Vogelstimmen und Naturschutz.

Hans-Joachim Fünfstück ist Mitarbeiter an der Staatl. Vogelschutzwarte Bayern und Naturfotograf. Seit 1999 ist er Mitglied der FALKE-Fachredaktion.


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Literatur zum Thema:

Berthold P 2000: Vogelzug - eine aktuelle Gesamtübersicht.
4. Aufl., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.

Dierschke J, Lottmann R, Potel P 2008:
Vögel beobachten im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer.
Verlag Heinrichshofen-Bücher, Wilhelmshaven.

Dierschke V 2010: Tangfliegen als Lebenselixier für Rastvögel auf Helgoland.
In: Bairlein F, Becker PH (Hrsg.):
100 Jahre Institut für Vogelforschung "Vogelwarte Helgoland":
110-114. Aula-Verlag, Wiebelsheim.

Gätke H 1900: Die Vogelwarte Helgoland. 2. Aufl.,
Meyer, Braunschweig. Neudruck 1987, Verlag M. Knauß.


Ende September 2011 erschien das Buch "Die Vogelwelt der Insel Helgoland" (Autoren: J. & V. Dierschke, K. & O. Hüppop, K. Jachmann; ISBN 978-3-00-035437-3, Preis EUR 55,-). Auf 630 Seiten wird das Vorkommen aller 426 auf Helgoland nachgewiesenen Vogelarten ausführlich beschrieben. Illustriert wird das Buch durch 505 Grafiken, 157 Ringfundkarten und 615 Farbfotos, die ausnahmslos auf der Insel entstanden sind. Bestellung über www.oag-helgoland.de oder an OAG Helgoland, Postfach 869, 27490 Helgoland.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 10/2011
58. Jahrgang, Oktober 2011, S. 426-429
mit freundlicher Genehmigung der Autoren und des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2011