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KOMMENTAR/108: Sauregurkenzeit im Fortschritt (SB)


Nutraceuticals - die Pille in der Nahrung



Unter- und Mangelernährung zählen zu den gravierendsten Problemen, mit denen sich die Weltgemeinschaft konfrontiert sieht. Im Jahr 2009 litten über eine Milliarde Menschen weltweit Hunger, mehr als seit dem Beginn der Welternährungsstatistik der Vereinten Nationen 1970 je registriert wurden. Auf der alle zwei Jahre stattfindenden Konferenz zum Thema 'Ernährung - Gesundheit - Landwirtschaft' ("Science Forum 2013 - Nutrition and Health Outcomes: Targets for Agricultural Research", von der Independent Science and Partnership Council (CGIAR) gemeinsam mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) vom 23. bis 25. September in Bonn veranstaltet [1]), zeigte sich, daß die am stärksten forcierten Projekte der Ernährungsforscher, Agrarforscher und Mediziner gar nicht, wie man denken könnte, der Behebung dieser Diskrepanz gelten. Nicht der Hunger oder Nahrungsmangel in armen Ländern ist für sie das vorrangige Thema, sondern der Mangel an besonders gesunder und nährstoffreicher Nahrung, der überall auf der Welt zu finden ist. Der Mangel an guter und daher teurer Nahrung, die deshalb für arme Menschen unerschwinglich ist, scheint hiernach die vornehmliche Ursache dafür, daß mehrere Milliarden von Menschen an Unterversorgung mit lebenswichtigen Mikronährstoffen wie Vitaminen oder Mineralien leiden, eine Problematik, die unter dem Oberbegriff der "stille" oder "verdeckte Hunger" (englisch: Hidden Hunger) zusammengefaßt wird. Nicht im gleichen Maße tödlich wie das vollständige Fehlen von Nahrungsmitteln, sorgt der dauerhafte Mikromangel nach dieser Lesart doch für das sogenannte "Stunting" (das Zurückbleiben des körperlichen Wachstums bei Kindern, 165 Millionen sind weltweit davon betroffen) bzw. eine Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustands, das heißt für ebenso unangenehme Konsequenzen, wie sie sich aus der in reichen Ländern verbreiteten Überernährung mit hochkalorischer, aber dennoch mikronährstoffarmer Nahrung und den daraus abgeleiteten schwerwiegenden Zivilisationskrankheiten unserer Zeit wie Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ergeben.

Durch diesen Kunstgriff werden die gesundheitlichen Probleme der Menschen in den Industrieländern, Schwellenländern und Entwicklungsländern so miteinander verknüpft, daß die Fragen, welche Kenntnisse über die Zusammenhänge von Ernährung und Gesundheit tatsächlich bestehen oder wo noch weiterer Forschungsbedarf liegen könnte, der auch Wirkung zeigt, wie auch die Problemstellung, was Landwirtschaft dazu beitragen kann, um positiv auf den Stoffwechsel einzuwirken, wohl allen gleichermaßen zu dienen scheinen.


Farm to Fork oder zwei Fliegen mit einer Klappe?

Jedes ehrgeizige Forschungsvorhaben, beispielsweise das von der CGIAR geförderte internationale HarvestPlus Program, scheint damit zumindest schon einmal durch das hehre Ziel gerechtfertigt, sowohl die Ernährung in armen Ländern sicherzustellen, als auch gleichzeitig mit landwirtschaftlichen Produkten den sogenannten nicht-übertragbaren Krankheiten vorzubeugen, die darüber hinaus auch noch als Exotikum in reiche Länder verkauft werden können. Die verbesserte Produktivität von nährstoffreichen, weltweit einsetzbaren Nahrungsmitteln und methodischen Innovationen, zum Beispiel bei der Züchtung von Pflanzen, die mikronährstoffreicher sind, gehören ebenso zu diesem Programm wie die Verbreiterung der landwirtschaftlichen Produktpalette mit traditionell heimischen Nutzpflanzen und Informationskampagnen zu gesunder Ernährung, beispielsweise über Vitamin A-reiche Süßkartoffeln in Afrika. Die traditionelle Ernährung vieler Naturvölker ist laut Edmond Dounais, der auf dem Science Forum 2013 für das "Center for International Forestry Research" (CIFOR) (eine der 15 Forschungszentren von CGIAR mit Sitz in Bogor, Indonesien) sprach, eine 'unerschöpfliche Ressource an gesunder Nahrungsvielfalt mit ausreichenden primären und sekundären Inhaltstoffen'. Legionen vergessener und nicht mehr genutzter Tiere, Insekten und Pflanzen könnten als nachhaltig lokal erzeugbare, sogenannte "farm to fork" Produkte dafür rekrutiert werden.


Und manche sind noch mehr als Nahrung - Beispiel Bittergurke

Ein ambitioniertes Vorzeigeprojekt ist in diesem Förderrahmen traditioneller, einheimischer Nutzpflanzen die sogenannte Bittergurke (Momordica charantia) [2]. Die zu einer tropischen Pflanzenart aus der Familie der Kürbisgewächse gehörende Gemüsepflanze, die auch als Bittermelone bekannt ist, stammt aus China und Indien, wo sie schon seit Jahrhunderten als Lebens- und Heilmittel verwendet wird. Nach Amerika soll sie im Zuge des Sklavenhandels eingeschleppt worden sein, kultiviert und angebaut wird sie heute in zahlreichen Regionen Asiens, Afrikas und in jüngerer Zeit auch Europas.

Warum gerade ein bitter schmeckendes Lebensmittel, das zudem - wie alle Kürbisgewächse - für sein Wachstum große Mengen an Wasser benötigt, zur Beseitigung des Hungers dienen sollte, scheint nicht einsichtig. Ähnlich wie bei den allerdings wesentlich nährstoffreicheren Maniok- oder Kassavapflanzen [3], die als Basisernährung in vielen ärmeren Ländern zählen, muß die Bittergurke mit entsprechendem Aufwand und Know how schmackhaft zubereitet werden. So wird nie die reife, zu toxische und zu bittere Frucht verwendet, sondern nur unreife, grüne Früchte gegessen, nachdem sie geschnitten, mit Salz mariniert und dann gekocht und gebraten wurden, um den bitteren Geschmack zu vertreiben. Auf diese Weise wird das Gemüse in der asiatischen Küche sehr geschätzt.

Für das erwähnte Projekt sind daher wohl eher die pharmakologisch bedeutenden Inhaltstoffe von Interesse. Vor allem der hypoglykämische Effekt (das ist die blutzuckersenkende Wirkung) der 5 bis 15 Zentimeter langen, warzigen Gurkenfrüchte scheint die Ernährungswissenschaftler und Mediziner zu begeistern, auch wenn der genaue Wirkmechanismus bis heute noch nicht geklärt werden konnte. Diabetes ist nicht nur bei uns, sondern auch in vielen Entwicklungsländern weit verbreitet. Mit den höchsten Zunahmeraten haben die Länder in Afrika südlich der Sahara zu tun. Wirksame Medikamente können sich in den Entwicklungs- und Schwellenländern allerdings nur die Wohlhabenden leisten. Erhofft man sich von Bittergurke also ein preiswertes Antidiabetikum ohne Rezept?

Darüber hinaus sollen weitere, sekundäre Inhaltstoffe des Gemüses über einen anderen, ebenfalls nicht ganz geklärten Weg die Gewichtsreduktion unterstützen, wie es in einer gemeinsamen Pressemeldung der Universität Gießen und des Internationalen Gemüseforschungsinstituts AVRDC lautete. [4] Das hieße also, vorbeugend einen der Risikofaktoren für das metabolische Syndrom (Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, hohe Cholesterinwerte, Insulinresistenz bzw. Diabetes II) zu eliminieren? Wissenschaftler dieser Institute hätten inzwischen nachgewiesen, daß beides tatsächlich funktioniert und würden nun mit Hochdruck an der Entwicklung und Erprobung neuer Anbaumethoden arbeiten, um das natürliche Antidiabetes-Potential der Bittergurke zu steigern und u.a. fundierte Ernährungskonzepte und -pläne dafür zu entwickeln. Die Forschungsarbeiten sollten schon damals durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über die Beratungsgruppe für Entwicklungsorientierte Agrarforschung (BEAF) der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH unterstützt werden.


Appetitzügeln macht nicht satt

Daß das bittere Gemüse zwar den Appetit dämpft, aber nicht den Hunger stillt, läßt vermuten, daß die Stoßrichtung dieser Zusammenarbeit weniger die Hungerreduktion in den Anbauländern betrifft als den Export eines Artikels, der sich hierzulande wunderbar in die bereits ausgetretenen Pfade einer Gesundheitspolitik einpassen läßt, die für zunehmende Zivilisationskrankheiten und sämtliche Stoffwechselstörungen in der Gesellschaft nur eine Ursache verantwortlich machen, auf die sich mit einfachen Forderungen zugreifen läßt: Wir essen zu viel, zu oft und das Falsche, weil überall Nahrung zur Verfügung steht. Wir bewegen uns zu wenig. Wir müssen unser Verhalten ändern! Ein frei verfügbares Nahrungsmittel, mit dem sich dieses "Fehlverhalten" quasi auch noch von außen manipulieren ließe, wäre also recht bequem.


Gewichtsreduktion per Ayurveda?

Bittergurke gilt als Naturheilstoff. Der noch "nicht vollständig geklärte Mechanismus" ihrer Inhaltstoffe bewirkt schon einen massiven Eingriff in die Körperfunktionen: Wie alle Saponine könnten die in der Bittergurke enthaltenen Triterpensaponine wie Momordicin-28 oder Triterpenoide wie Mormodicoside Cholesterin im Darm binden und dadurch unspezifisch die Aufnahme von Cholesterin mit der Nahrung reduzieren. Darüber hinaus sind alle Saponine in der Lage, primäre Gallensäuren, die zur Unterstützung der Fettverdauung in den oberen Dünndarm abgegeben werden, zu binden, die man auf diese Weise - statt sie in unteren Darmabschnitten zurückzuresorbieren und dem Körper erneut zur Verfügung zu stellen - ausscheidet. Der Stoffwechsel muß dann neue Gallensäure (in der ein Baustein ebenfalls Cholesterin ist) produzieren. Das heißt, er verbraucht Energie und Substanz, was, wenn entsprechendes durch die Nahrung nicht nachgeliefert wird, zur Gewichtsreduktion führt. Letztlich wird über diesen Weg ein weiterer Mangel erzeugt.

Ein anderer bereits laut der Österreichischen Apothekerzeitung (ÖAZ Nr. 3 vom 2. Februar 2004) erforschter Stoff, das sogenannte Momordin Ic (ein Oleanolsäure-3-O-monodesmosid), unterdrückt bei oraler Gabe die Magenentleerung bei Ratten. Auf diese Weise könnte bei einer entsprechenden Wirkung am Menschen gewissermaßen ein voller Magen vorgetäuscht werden.

"Wir untersuchten mit Mäusen, die das Zuckerkrankheitsgen in sich tragen, ob und wie sich das Verfüttern von Bittergurke auswirkt", erzählt der Gießener Ernährungswissenschaftler Michael Krawinkel. "Bereits nach fünf Wochen zeigten sich deutliche Ergebnisse. Die Mäuse, denen wir Bittergurke fütterten, haben weniger zugenommen als die Kontrollgruppe und hatten auch einen niedrigeren Blutzuckerspiegel." Krawinkel arbeitet eng mit den Forschern des Internationalen Gemüseforschungsinstituts AVRDC in Taiwan zusammen, um das Gesundheitspotenzial des Gemüses zu erforschen. [4]

Vor allem dem Phytosterolin Charantin (einem Gemisch aus β-Sitosterol-β-D-glucosid und α-5,25-Stigmastadien-3-O-β-D-glucosid im Verhältnis 1:1) werden blutzuckersenkende Effekte zugeschrieben. Darüber hinaus wurde aber unter anderem auch ein p-Insulin mit hoher Homologie zu Rinderinsulin identifiziert. Verschiedene Verzehrstudien, bei denen Diabetiker über einen bestimmten Zeitraum Bittergurke als Gemüse, Saft oder auch als Extrakt zu sich nahmen, hätten die Wirksamkeit bestätigt. Weiter hieß es in der Pressemeldung:

Die Lipide senken den Blutzuckerspiegel, die Saponine das Gewicht. "Das ist vor allem wichtig, um Spätschäden durch Diabetes zu vermeiden", sagt der Gießener Professor. "Außerdem eignet sich die Bittergurke hervorragend zur vorbeugenden Behandlung." [4]

Doch ohne Insulin käme kein Diabetiker aus, selbst wenn er noch so viele Bittergurken äße, hieß es hier weiter. [4] Die Eigenschaft, den Blutzucker zu senken, könnte sogar gefährlich werden, denn die inhaltliche Zusammensetzung einer Gurke läßt sich nicht so einfach konfektionieren. Die Gefahr, daß hier synergistische, also sich gegenseitig verstärkende Effekte mit ebenfalls eingenommenem Insulin oder oralen Antidiabetika auftreten, ist unbedingt gegeben und kann zu lebensgefährlicher Unterzuckerung führen. In der oben erwähnten Österreichischen Apothekerzeitung werden den toxischen Inhaltstoffen der Bittergurke auch Nebenwirkungen zugeordnet. Ein toxisches Lektin hemmt die Proteinsynthese in der Darmwand, ein mit organischen Lösungsmitteln gewonnener Extrakt hat bei Mäusen zu einer verringerten Fertilität geführt, die chronische Anwendung des Gurkensaftes war für diabetische Ratten auf Dauer tödlich. Bei Menschen kann der Konsum der Früchte Krämpfe, d.h. verstärkte, unkontrollierte Muskelkontraktion, Magenkrämpfe, Durchfall, Übelkeit und Kopfschmerzen verursachen. Und in der Schwangerschaft sollte Bittergurke nicht in größeren Mengen verzehrt werden, da zwei aus der unreifen Frucht isolierte Proteine, Momorcharin a und b, abtreibende Wirkung im Tierversuch zeigten.


Bitterer Vorgeschmack?

Man sieht, daß noch viel an der Bittergurke herumgezüchtet werden muß, um ein sicheres, untoxisches Nahrungsmittel daraus zu ziehen. Daß Bitterstoffe aus der Gurke mit entsprechender Auslese entfernt werden können, zeigt die züchterische Manipulation der Neuzeit an der normierten Salatgurke, die zu einem fast geschmacklosen, bitterstoffreien, gleichförmigen Wassercontainer herangezogen wurde und der man mit mühevollem Aufwand nun ebenfalls auf gleichem Wege neuen Geschmack zu geben versucht. Das zeigt, daß auch der umgekehrte Weg, d.h. die Aufkonzentration von Inhaltstoffen, möglich ist.

Letzteres ist das erklärte Ziel für die Bittergurke, die dann wohl eher als Rohstofflieferant für neue verhaltens- und aussehenverändernde Physio-Pharmaka als zur Ernährung geeignet sein wird. Es sei denn, man fände agrar- oder gentechnisch das rechte Maß an toxischen und wohltuenden Inhaltstoffen im Gemüse, mit denen sich Hunger und Appetit aussteuern lassen oder der Konsument durch Reizung des Darms oder anderer Muskelareale in Bewegung gebracht werden kann. Dann hätte man mit der Bittergurke vielleicht nur noch den bitteren Vorgeschmack einer Manipulation von Nahrungsmitteln und Menschen, die bei der kleinen Bittergurke anfängt, aber vielleicht noch weit darüber hinausgehen könnte und deren Schaden nicht absehbar ist.

Anmerkungen:

[1] Im Mittelpunkt der internationalen Konferenz "Science Forum 2013 - Nutrition and Health Outcomes: Targets for Agricultural Research", die vom 23. bis zum 25. September in Bonn stattfand und an der 300 Wissenschaftler/-innen aus 70 Ländern teilnahmen, standen Fragen zu Kenntnissen über die Zusammenhänge von Ernährung und Gesundheit und über noch anstehenden Forschungsbedarf.

[2] Die wie die Wassermelone zu den Kürbisgewächsen (Cucurbitaceae) gehörende Momordica charantia, im deutschen Sprachraum auch als Balsambirne oder Bittermelone, Goya, Bitterkürbis und Carillafrucht bekannt (weitere Bezeichnungen sind neben dem häufig verwendeten Begriff bitter melon auch bitter apple, bitter gourd, bitter cucumber, balsam pear, carella fruit (USA), karela (Indien), fu kwa (China), ampalaya (Philippinen)), soll von Indien und China ausgehend nun zunehmend auch in Südamerika, Afrika, den USA und Europa angebaut werden.

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/natur/chemie/cheko093.html

[4] http://idw-online.de/pages/de/news376738

11. Oktober 2013