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RATGEBER/229: Schluß mit dem Gerücht - Kunststoff sei ungenießbar (SB)


SCHLUSS MIT DEM GERÜCHT ...

Kunststoff könne man nicht essen

Der erste Schritt zur Plastiknahrung


Was man im ersten Moment für eine der vielen US-amerikanischen Kuriositäten halten könnte, die befristet in Mode und auf den Markt kommen, hat angesichts der brisanten Welternährungslage doch einen nicht von der Hand zu weisenden ernsten Hintergrund: Wie gewöhnt man den Menschen an nährstoffarme Kunstnahrung?

Der erste Schritt ist längst dazu getan, denn schon jetzt stehen Verpackungsmaterialien, d.h. Kunststoff-Folien zur Verfügung, die der Verbraucher einfach mitessen soll. Abgesehen davon, daß sich der Konsument keine Gedanken über die Entsorgung von Verpackungen zu machen braucht und seine Pizza einfach mitsamt der Hülle in die Mikrowelle schiebt, und er darüber hinaus einige zusätzliche Kalorien oder verdauungsanregende Ballaststoffe zu sich nimmt, steht gewissermaßen die Frage im Raum, warum denn überhaupt noch echte Lebensmittel in der Packung sein müssen, zumal Pizza und Belag ebenfalls einen hohen Anteil unverdaulicher Kunstprodukte und Nahrungsmittelzusatzstoffe enthalten. Der nächste Schritt wäre dann eine geschmacks- und formidentische Kunstnahrung ohne Nährgehalt, ein Surrogat!

Bei den Folien handelt es sich allerdings um sogenannte "Naturfolien", die aus einer synthetisch aufbereiteten Früchte- oder Gemüsemasse hergestellt wurden. Der Rohstoff hierfür fällt in Massen als Abfall bei der industriellen Obst- und Gemüseverarbeitung an. Aus derartigen Schlacken und Preßkuchenresten werden pflanzliche Zellulosefasern (unverdauliche Ballaststoffe!!!) und Zucker gewonnen und mit chemischen Methoden zu einem Gewebe vernetzt, das sich wie Kunststoff- Folien ziehen und verarbeiten läßt. Dabei dienen die Zellulosefasern als Strukturbildner, während die Zuckermoleküle in der Funktion des Weichmachers Flexibilität und Elastizität gewährleisten. Zudem ist der neue Kunststoff sehr preiswert, weil die Rohstoffe praktisch kostenlos sind. Ungefähr so dick wie Papier, allerdings nicht so reißfest sei die quasi "natürliche Schale" für Fleisch, Gefrierkost und Fertigmenüs. Darüber hinaus müsse man sich keine Gedanken um die Entsorgung machen, denn selbst, wenn man es vorzieht, diese Kunststoffe nicht mitzuessen, sind sie zu 100 Prozent biologisch abbaubar. Allerdings wurde nicht erwähnt, wie lange dieser natürliche Prozeß in der Regel dauert, das vergleichbare Zucker- und Zelluloseprodukt Holz verrottet bekanntlich sehr langsam.

Die Begeisterung über die "natürtrübe Apfelverpackung", mit der sich "das Kotelett" direkt in die Pfanne hauen läßt, soll mit bewährten Werbeattributen wie "naturtrüb" (an leckeren Apfelsaft erinnernd) oder mißverständlichen Begriffen wie "roten Erdbeerhüllen und grünen Brokkolihüllen" bzw. "hundertprozentigen Frucht- und Gemüsehüllen" beim Verbraucher schon im Vorwege den Irrtum nähren, es handele sich bei den neuen Kunststoffhüllen um einen vitaminreichen und frischeerhaltenden Nahrungsmittelzusatz, der wie die Schale eines Apfels kurzfristig als Verpackung dient, also um eine höchst geniale Erfindung. Abgesehen von möglichen Frucht- oder Gemüseallergenen, die z.B. Allergiker betreffen, wenn sie die aus Fruchtabfall gewonnenen Umhüllungen zu sich nehmen, wird bisher keine Kritik daran geübt. Dabei gäbe es reichlich Ansatzpunkte:

So denkt man beispielsweise gar nicht mehr an die eigentliche Funktion der Verpackung. Schließlich ist sie dafür gedacht, das Produkt, das nach seiner Fertigung durch viele Hände wandert, sauber und hygienisch zu verpacken. Wird nun für die eßbare Verpackung noch eine weitere Schutzhülle erforderlich oder wird es reichen, erstere gründlich mit Wasser abzuspülen? Und was wird dann auch dem möglicherweise wasserempfindlichen Inhalt? Denn wasserdicht sind die atmungsaktiven Folien nicht.

Streng genommen ist das gefeierte Naturprodukt nichts anderes als das frühere Cellophan, eines der ersten Kunststoffprodukte überhaupt. Die Kunststoffchemie beschränkte sich nämlich Ende des 19. Jahrhunderts ausschließlich auf die chemische Umwandlung von Naturstoffen. So entstanden aus Holz der reine Zellstoff, aus diesem wieder Acetylcellulose, Vulkanfiber, Cellophan und Celluloid; ferner aus Casein (Milchprotein) mit Formaldehyd der Kunststoff Galalith. Erst viel später ging man daran, auch Kohle und Erdöl als Rohstoffe zu verwenden.

Der neue Kunststoff unterscheidet sich vom Cellophan nur durch kleinere Polymereinheiten und Zuckereinlagerungen, die das Ganze in der Hitze schneller schmelzen lassen und dafür sorgen, daß die Folie keinen Darmverschluß auslöst - denn Gemüsefolie ist ebensowenig nährstoffhaltig und verdaubar wie das alte Cellophan. Doch durch ihre Verzehrbarkeit wird die Umhüllung beispielsweise eines Steaks schon bald nicht mehr als Verpackungsmaterial wahrgenommen.

Der Verdacht liegt nahe, daß genau das auch die eigentliche Absicht des neuen eßbaren Verpackungstrends ist: Der Verbraucher wird nach und nach an normierte, "vitaminangereicherte", appetitanregend eingefärbte Verpackungen gewöhnt, bis man ihm im gleichen Design praktisch alles anbieten kann, einschließlich einem nährstoffreduzierten Proteinbrei, der nur noch durch die Verpackung in steakähnlicher Form gehalten wird.

Hauptsache doch, man erkennt die Verpackung wieder und der Gaumen wird befriedigt. Oh, brave new world!

9. Januar 2008