Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → CHEMIE

RATGEBER/236: Schlieren im Essig, ein Gütesiegel (SB)


Von Apfelessig bis Zitrone - Bewährte und neue Hausmittel, einfach erklärt

Schlieren im Essig, ein Gütesiegel


Die Technik der Essiggewinnung und seine Nutzung gehört seit mehr als 5000 Jahren zum Alltag des Menschen. Denn seit er damit begann, Weine zu keltern, stellte sich auch das von den Winzern unerwünschte Nebenprodukt, der saure Bruder des Weins, ein, wenn der Gärvorgang ins Saure umschlug. Lange Zeit wußte man nicht, womit man es hier zu tun hatte oder wie man einen solchen "Schicksalsschlag" von den eigenen Kelterprodukten abwenden konnte.

Um gewissermaßen das beste daraus zu machen, wurde Essig fortan nicht nur zum Konservieren und Würzen von Lebensmitteln, sondern auch als hilfreiche Lösung für viele alltägliche Probleme entdeckt, wobei man seine reinigende, desinfizierende und adstringierende Kraft zur Reinigung oder Heilung bis heute nutzt.

Dabei wissen wir heutzutage meist noch viel weniger über die Gewinnung oder Entstehung von Essig als zu jenen Zeiten, in denen man noch in jedem Haushalt selbst Obstsäfte zur Essiggärung brachte, um das geschätzte Hausmittel zu produzieren. Da wir inzwischen vielfältige Konservierungsmethoden haben, verstehen viele die in Essig eingelegten Gemüsehäppchen nur noch als pikante Beilage. Seine frühere Bedeutung, andere Mikroorganismen durch die saure Umgebung am Wachstum zu hindern und damit die Verfallsprozesse zu verzögern, ist längst in Vergessenheit geraten.

Das Unwissen über die chemischen oder mikrobiologischen Zusammenhänge führt aber oft dazu, daß Verbraucher, die ihren Würzessig im Lebensmittelgeschäft in Flaschen kaufen, diesen in den Ausguß gießen oder sogar dem Händler zurückbringen, weil er nicht ihrer Vorstellung von "Klarheit" und "Reinheit" entspricht. Kurz gesagt, sie haben Schlieren oder Trübungen entdeckt, die ihrer Meinung nach nicht in ein qualitativ hochwertiges Industrieprodukt gehören...

In dem Augenblick dieser Entscheidung wird etwas, in früheren Zeiten und auch heute noch in südlichen Ländern sehr Hochgeschätztes vernichtet, das in unserer heutigen sterilen Umwelt schon beinahe Seltenheitswert hat, die sogenannte "Essigmutter". Dieses Wort ist aus unserem deutschen Alltags-Sprachschatz schon ganz verschwunden.

Dazu muß man wissen, daß der Vorgang der Essigbereitung auf einer bestimmten Bakterienart basiert, den Essigbakterien, die normalerweise überall vorkommen sollten. Sie sitzen schon auf den Trauben oder Äpfeln, bevor diese in die Weinproduktion gelangen, sie "lauern" aber auch auf Hölzern oder anderen wachsenden Naturprodukten, aus denen beispielsweise Fässer oder Korken gefertigt werden. Sie sitzen aber auch auf Staubkörnchen, die mit der Luft überall hingetragen werden können.

Auf vielen Wegen gelangen sie so in den fertigen Wein. Sie können außerdem, wie man das in Obstgegenden kennt, von sogenannten Essigfliegen übertragen werden, die sich auf gärendem Obst aufhalten und dann den Wein mit den aufgenommenen Bakterien regelrecht impfen, wenn sie sich mal einen winzigen Schluck genehmigen.

Essigbakterien brauchen außer Wein oder Most (bzw. den darin enthaltenen Alkohol) nur noch eine ausreichende Zufuhr von Luft, um mit der Essigproduktion zu beginnen.

In dem gewöhnlichen Werden und Vergehen eines Apfels beispielsweise können sie allerdings erst dann Fuß fassen, wenn ihr "Wirt" abgestorben ist. In Zusammenarbeit mit Fäulnisbakterien, die die festen Zellulose-Bestandteile des Apfels aufweichen (der Apfel bekommt weiche Stellen), und Hefen, die den im Obst enthaltenen Zuckervorrat in Alkohol umwandeln (er wird faulig und riecht nach Alkohol), kommen dann auch endlich die Essigbakterien zum Zug, die den Alkohol wiederum in Essig umwandeln. Dazu brauchen sie jedoch eine große Menge an Sauerstoff. Daß schon Essigbakterien an der Arbeit sind, d.h. das letzte Stadium des Obstzerfalls eingeleitet ist, kann man an dem typischen Essiggeruch erkennen.

Winzer schützen sich heute gegen die unerwünschten Gäste durch steriles Arbeiten und den Einsatz einer bestimmten Chemikalie: Schwefel. Letztere wird von Essigbakterien überhaupt nicht geliebt und schafft für sie solch unattraktive Bedingungen, daß sie nicht mehr weiterwachsen können. Schwefel schützt den Wein zwar vor dem "Sauerwerden", ist jedoch für den Menschen nicht besonders verträglich. Die zugelassenen Mengen an Schwefel werden daher durch das Deutsche Lebensmittelgesetzt geregelt.

Will man nun heutzutage noch mal selbst Essig gewinnen, steht man vor dem umgekehrten Problem. Unsere Umwelt ist beinahe zu steril und die Weine zu gut konserviert, um noch auf die gute alte Methode - einfach hinstellen und kommen lassen - einen Essigbakterienstamm einzufangen. Außerdem gibt es erhebliche Unterschiede in der Bakterienqualität. In Orleans, einem Weinanbaugebiet in Frankreich und dadurch Brutstätte zahlreicher Obstbakterien, hat es wohl einmal einen ausgezeichneten Essigsäure produzierenden Stamm gegeben, der sich ganz nach Wunsch auf den offenen Fässern absetzte und einen wohlschmeckenden Essig bildete. Dieser Essig war schon im Mittelalter so berühmt, daß man die alte Technik, Fässer einfach offen stehen zu lassen, heute als Orleans- Verfahren bezeichnet. Es wird jedoch kaum noch angewendet.

An der Oberfläche dieser Weine bildet sich ein dicker Teppich aus Bakterien, die die darüber streichende Luft ausnutzen, um den darunterliegenden Alkohol in Essig umzubauen. Eine solche gallertartige Schicht nennt man Essigmutter. Eine wirklich gute Essigmutter produziert in kürzester Zeit wohlschmeckenden Essig. Sie ist beispielsweise in südlichen Ländern, in denen die Essigzubereitung traditionell per Hand gemacht wird, noch immer ein begehrtes Geschenk. Man teilt dazu einen Teil des Kuchens ab und legt ihn in eine hübsche Flasche mit verdünntem Rotwein, was äußerst dekorativ aussieht.

Schlieren im Essig sollte deshalb niemanden vor dem Verzehr des Produkts abschrecken, im Gegenteil: zeugen die Vorboten einer wachsenden Essigmutter (und nur darum handelt es sich) doch nur davon, daß für Essigbakterien noch eine lebensfreundliche Umgebung vorhanden ist, ohne Gifte, "Antibiotika" oder Desinfektionsmittel.

Bei der Wahl eines Tafelessigs sollte man lieber auf geschwefelte Essigsorten verzichten, die in den Glasflaschen immer einen ganz kristallklaren und sauberen Eindruck hinterlassen, der normalerweise verkaufsfördernd wirkt.

Man sollte aber ruhig eine Trübung in Kauf nehmen. Sie beeinträchtigt weder den Genuß noch den Gebrauchswert, ist überhaupt nicht schädlich und vor allem ein deutlicher Beweis dafür, daß man es mit einem chemisch unbehandelten Naturprodukt zu tun hat. Die Schlieren sind der Anfang bzw. der kleine Rest einer Essigmutter, die offensichtlich noch geeignete Lebensbedingungen vorfindet.

Wer zu Kochzwecken klaren Essig braucht, kann die Trübung ganz leicht durch einen Kaffeefilter abfiltrieren. Es schadet jedoch auch nichts, wenn die Trübung ins Essen gerät oder weiterverarbeitet wird. Das schadet dem menschlichen Organismus genauso wenig wie ein natürlicher Joghurt mit lebenden Kulturen, der ja auch als besonders gesund gilt.

War die Nachgärung jedoch nicht vollständig abgeschlossen, ist also noch etwas Alkohol im Essig, können nach dem Filtern immer wieder Trübungen auftreten, die man allerdings, wenn man es denn will, verhindern kann, indem man - ein alter Hausfrauentrick - etwas Holzkohle in die Flasche legt. Diese verhindert nicht den Gärvorgang, sie fängt aber die Bakterien ein, die sich dann vorzugsweise an dieser Stelle sammeln. Der Essig bleibt dann klar und ist dennoch frei von chemischen Zusatzstoffen. Wohl bekomm's!

21. Februar 2008