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RATGEBER/247: Was man unter sanfter Schädlingsbekämpfung versteht (SB)


Bewährte Hausmittel - einfach erklärt

Infusorienerde - langsames Sterben im Staubbad aus dem Eozän


Schon der kompromißlose Begriff Schädlingsbekämpfung, also die Ausrottung und Vernichtung eines Lebewesens, das der Mensch aus seiner Sicht als Schädling betrachtet, weil es ihm meistens in irgendeiner Weise die Nahrung streitig macht, schließt die Möglichkeit aus, daß es für diesen Zweck sanfte oder schonende Methoden geben könnte. Selbst der Präfix "bio-", der ja gemeinhin für das ökologisch "Gute" und Vertretbare gilt, das Schonendste für Mensch, Tier und Umwelt - soll im Zusammenhang mit Pestiziden nur den eigentlichen, brutalen Zweck des Mittels verschleiern, nämlich die Freßkonkurrenz unschädlich zu machen.

Im Hinblick auf die prekäre Welternährungslage sind Pflanzenschädlinge oder andere lebensmittelvertilgende Insekten nicht nur Nahrungskonkurrenten, sondern schlicht: Feinde. Und so ist selbst in den begünstigten Agrarländern wie Europa ein wirtschaftlicher Anbau ohne Krieg gegen Schädlinge, Krankheitserreger und Unkräuter nicht mehr denkbar. Im Gegenteil, durch die globale wirtschaftliche Vernetzung muß man sogar mit neuen und aggressiveren Schädlingen rechnen, die aus anderen Ländern eingeschleppt werden oder sich inzwischen aufgrund der wärmeren Umweltbedingungen auch hier ansiedeln können.

Solche neuen Schädlinge ziehen dann oft den Einsatz ebenfalls noch aggressiverer Mittel nach sich wie die augenblicklich heiß diskutierten Saatbeizmittel, die mit ihren Wirkstoffen Clothianidin oder Imidacloprid nicht nur Frühschädlingen - die sowohl den Samen als auch die junge, wachsende Pflanze bedrohen (Drahtwürmer und Erdraupen in Mais, Raps, Getreide und Zuckerrüben) - den Garaus machen, sondern auch den für den Honigliebhaber und Obstbauern sehr nützlichen Bienen.

Um dennoch möglichst wenig gesundheitsschädliche "Chemie" einzusetzen, d.h. die Qualität der erzeugten Produkte vor allem für den Menschen zu erhöhen und gleichzeitig die Umwelt zu schonen, werden biologische Mittel propagiert, die mindestens das gleiche Ergebnis, d.h. die komplette, kompromißlose Vernichtung des Konkurrenten gewährleisten müssen.

So versteht man unter sanfter Schädlingsbekämpfung mit biologischen Mitteln bestenfalls den reduzierten Einsatz von herkömmlichen chemischen und synthetischen Präparaten auf ein "unverzichtbares" Maß und ergänzt diesen mit ebenfalls tödlichen Mitteln, die aber keine weiteren Giftrückstände in der Natur und im Nahrungskreislauf hinterlassen sollen. Nicht mehr und nicht weniger!

Als "biologisches Mittel" gilt u.a. der sogenannte integrierte Pflanzenschutz, bei dem unterschiedliche Maßnahmen wie der Anbau resistenter Sorten, schonende Bodenbearbeitung sowie der Einsatz von Lockstoffen und Fallen kombiniert werden. Statt synthetischer Pestizide werden vor allem natürliche Gegenspieler von tierischen Schadorganismen wie Schlupfwespen, Bakterien oder insektenpathogene Pilze eine zunehmend wichtigere Komponente in diesem "Öko"-Konzept.

Obwohl sich schon manche Viren, Bakterien und Pilze, die solche Schädlinge befallen, bereits in industriellem Maßstab züchten und in praxisgerechten Präparaten, d.h. als Pulver oder dergleichen, formulieren lassen, erfordert die sachgerechte Anwendung, wie man sich vorstellen kann, einige Fachkenntnisse, wenn die Präparate auch wirken und das Opfer erreichen sollen. Deshalb und weil die mikrobiologischen Präparate im Verhältnis zu chemischen Konkurrenzprodukten höhere Preise haben, aber nur sehr gezielt angewendet werden können, konnten sie sich bislang auf dem Markt noch nicht durchsetzen.

Die Schädlingsbekämpfung mit Schädlingsparasiten soll zwar keine synthetischen, schädlichen Rückstände hinterlassen, ist jedoch mit einem langsameren und qualvollen Sterben verbunden. Auch die Vorstellung einer biologischen Kriegführung gegen Schadinsekten, d.h. das Operieren mit Krankheitserregern und Parasiten, die möglicherweise mutieren oder in irgendeiner Weise doch noch dem Menschen schaden könnten, läßt viele an der Harmlosigkeit dieser Mittel und ihrer "rein organischen Rückstände" zweifeln.

Aus diesen Gründen sind ökologisch unbedenkliche Pflanzenschutzstoffe, die keine schädlichen Rückstände hinterlassen, alle Schädlinge gleichermaßen bekämpfen, auch von Laien angewendet werden können und zudem preiswert in der Anwendung sind, nach wie vor gesucht.

Ein in Frage kommendes Mittel, das alle diese Anforderungen zu vereinen scheint, ist die aus den Silicatskeletten der Kieselalgen gewonnene Diatomeen- oder Infusorienerde, die als sogenanntes Kieselgur in der Chemie schon für viele verschiedene Verwendungszwecke genutzt wird und dafür aus Sediment- und Fossilschichten in großem Umfang in der Lüneburger Heide und in anderen Gegenden abgebaut wird.

Kieselgur, ein sehr leichtes, mehlartiges, weißes bis graues Pulver, verwendet man in der Analytik als Träger und Trennsubstanz in der Dünnschicht-, Säulen- oder Gaschromatographie. Doch eigentlich bekannt wurde es durch Alfred Nobel, der hierin ein äußerst effektives Adsorbens für Nitroglycerin fand, womit er den Sprengstoff Dynamit zähmte und in eine handhabbare und sichere Form brachte. Die Verwendungsmöglichkeiten des saugfähigen und chemisch inerten Naturmaterials sind jedoch hiermit noch lange nicht ausgeschöpft.

Kieselgur ist äußerlich wie das synthetische Äquivalent Silicagel (oder Kiesel-Xerogel) eine trockene, pulvrig-körnige Polykieselsäure mit großer Oberfläche, unter dem Mikroskop kann man jedoch die besondere skelettartige Struktur des Naturprodukts eindeutig von dem synthetischen Erzeugnis unterscheiden (ein Kubikzentimeter enthält etwa 20 Milliarden Schalenreste). Kieselalgen (Diatomeen oder Infusorien) bauen die amorphe Polykieselsäure als Skelettsubstanz in ihre harte, vielfach bizarr gestaltete Zellwand in mannigfache Verzierungen, Rillen, Nischen und Poren ein. Diese besondere Struktur mit ihren unzähligen nanofeinen Höhlen und Löchern hat eine einzigartige Flüssigkeitsaufnahmekapazität.

Die eigentliche Schädlingsabwehr beschränkt sich quasi auf ein Staubbad, was harmlos genug klingt, bietet die Natur selbst doch viele Beispiele. Ausgiebige Staubbäder nehmen sowohl Vögel gern als auch Säugetiere wie etwa Elefanten, um sich ihrer Parasiten zu entledigen und deren Einnistung vorzubeugen.

Die nur 10 bis 40 Mikrometer großen Diatomeenskelette eignen sich deshalb so gut, weil die winzigen Fossilien eine große spezifische Oberfläche besitzen und bis zum Fünffachen ihrer Masse an Flüssigkeiten und Fetten aufnehmen können. Auch hierin unterscheiden sie sich von der synthetischen Polykieselsäure. Werden Insekten damit bestäubt, verlieren sie ihre Lipidschicht, die sie vor Wasserverlust schützt, und mumifizieren quasi bei lebendigem Leibe. Auch schädigt der scharfe glasähnliche Quarzstaub die feinen Häute zwischen den Segmenten ihrer Chitinpanzer. Möglicherweise verletzt er überdies die Mundwerkzeuge und den Magen-Darm-Trakt und verstopft die Tracheen, die Atmungsorgane. Letzteres ist nicht erwiesen. Auch bei dieser Methode wird also die biologische Rückstandsfreiheit mit einem qualvollen Ende der sogenannten Schädlinge bezahlt.

Nach dem heutigen Kenntnisstand ist die Wirkung von Infusorienerde um so stärker, je besser sie ölige Substanzen aufzunehmen vermag. Zudem sollten die Partikel kleiner als 50 Mikrometer (µm = tausendstel Millimeter) sein. Bei einer natürlichen Größe zwischen 10 und 50 Mikrometer sind die meisten Infusorien kleiner als Bakterien und etwa so groß wie rote Blutkörperchen (Erythrozyten), Chloroblasten oder Zellkerne pflanzlicher Zellen. Kristalline Silicate wirken nicht insektizid, sie sollten deshalb weniger als ein Hundertstel der Masse ausmachen. Außerdem spielt die Luftfeuchtigkeit und andere lokale Bedingungen bei einem Einsatz in der Landwirtschaft eine Rolle.

Seit etwa zwanzig Jahren wird Infusorienerde in den USA, Australien und tropischen Ländern im Kampf gegen schädliche Insekten eingesetzt.

Inzwischen wird auch bei uns die Wirkung der verschiedenen Kieselgure auf Schädlinge untersucht und wissenschaftlich bestätigt. Allerdings dauert die "Austrocknung" einer ganzen Population bei verschiedenen Käfern und Insekten auch unterschiedlich lange. Bei Versuchen am amerikanischen Reismehlkäfer Tribolium confusum konnte man feststellen, daß das Sterben hier besonders lange dauerte, wenn die Tiere gleichzeitig Nahrung aufnehmen konnten (was in der Natur ja meist der Fall ist). Offensichtlich war ihr Stoffwechsel in der Lage, aus den Nährstoffen Wasser zu gewinnen.

Angesichts des langsamen und qualvollen Sterbens, das diese Ausrottungsmethode mit sich bringt, scheint der umweltschonende Einsatz von Infusorienerde ein zweischneidiges Schwert zu sein, zumal noch keine Erkenntnisse darüber existieren, was mit dem glasscharfen, mikrofeinen Adsorbens in der weiteren Nahrungskette geschieht, da die langsam dahinsiechenden Insekten ihren natürlichen Feinden, Vögeln, Maulwürfen und Mäusen eine leichte Beute bieten.

Abgesehen davon ist auch der umweltschonende Aspekt bei einem vermehrten Einsatz des vermeintlich harmlosen Staubbads fraglich, wenn man bedenkt, daß es sich bei dem Naturprodukt um einen begrenzten Rohstoff handelt, der jetzt schon für sehr viele Zwecke ausschließlich verwendet wird. Der Raubbau einer jahrmillionenalten Ressource und seine heute noch nicht abschätzbaren Folgen im Naturhaushalt lassen die betonte Harmlosigkeit für die Umwelt als Milchmädchenrechnung erscheinen.

Erstveröffentlichung 1998
Neue, aktualisierte Fassung

4. Juli 2008