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RATGEBER/324: Vitamine - Angst vor Ascorbinsäure? (SB)


VON APFELESSIG BIS ZITRONE - Alltagschemie einfach erklärt

Vom Mangel zum Massenkonsum


Ascorbinsäure - manche, wie der Nobelpreisträger Linus Pauling oder sein deutscher Schüler, der Mediziner Matthias Rath, plädieren für den löffelweisen Verzehr dieser chemischen Substanz, die ihrer Meinung nach nur in besonders großen Mengen Herzinfarkten und anderen Erkrankungen, beispielsweise Alzheimer oder gar Krebs, vorbeugen helfen soll. Hinter dem gewaltig nach Chemie klingenden Begriff, verbirgt sich nichts anderes als der chemische Name für "Vitamin C", das allgemein als gesund gilt, Abwehrkräfte stärken soll und bei Erkältungskrankheiten für unabdingbar gehalten wird. Ungewöhnlich sind bestenfalls die großen Mengen, mit denen sich manche Vitamin-Apostel das Mittel einverleiben. Pauling selbst hatte bis zu seinem Tod 1994 täglich etwa das 100fache der Vitamin-C-Mengen in Form der Reinsubstanz geschluckt, die Ernährungswissenschaftler gemeinhin für sinnvoll halten.

Forscher aus Pennsylvania, USA, schürten hingegen Befürchtungen, durch hohe Dosen von Vitamin C (Ascorbinsäure) könnten Erbgutschäden und damit Tumorerkrankungen verursacht werden. Diese Nachricht hat gerade in einem Land, in dem Vitamine in jeder Menge einfach im Supermarkt erhältlich sind, wie eine Bombe eingeschlagen und die Vitamin-Lobby auf den Plan gerufen. Immerhin geht es hier um ein Vier-Milliarden- Dollar-Geschäft.

Schon 1994 plante die US-Arzneimittelbehörde FDA aus Gründen des Verbraucherschutzes, beim Verkauf von Vitaminpräparaten zulässige Höchstmengen und Werbeaussagen einzuschränken. Eingebunden waren diese Pläne in internationale Absprachen, die unter dem Dach der Weltgesundheitsorganisation Standards für Lebensmittel und Vitamine einführen sollen. Die Liste dieser Standards heißt "Codex Alimentari".

Damals wie heute schaffte es die Lobby der Vitaminhersteller, dieses Bemühen in der Öffentlichkeit als eine Verschwörung mysteriöser ausländischer Mächte darzustellen, die versuchen würden, den freien Zugang der US-Bürger zu Vitaminen zu unterbinden. Das Gesetzesvorhaben kam nie durch. Nach wie vor und ebenso hierzulande ist es für jedermann möglich, jede gewünschte Menge an Vitaminen zu erwerben. Und das erst recht, seit Vitamine auch über das Internet bezogen werden können.

Sind Vitamine eine Geschäftsidee, für die erst ein Mangel bzw. eine scheinbare Notwendigkeit geschaffen wurde? Angesichts oben genannter Bestrebungen liegt diese Frage auf der Hand, zumal die Warnung vor möglichen Erbgutschäden aus wenig aussagefähigen Laborexperimenten, also Reagenzglasversuchen "in vitro" (d.h. nicht an lebenden Organismen), generiert und interpretiert wurde, denn es ist oft nur eine Frage der Dosierung, um Zellgewebe dazu zu bringen zu entarten. Das gelingt auch schon mit Kochsalz oder Zucker.

Andererseits sind auch die Studien, mit denen die vermeintliche Heilfähigkeit und vorbeugende antioxidative Wirkung von Ascorbinsäure bei Krebs und Alzheimer nachgewiesen werden, meist auf der Basis von Statistiken, von recht zweifelhaftem Wert.

Nur die Schlußfolgerungen aus den jeweiligen Versuchen werden je nach Bedarf mehr oder weniger relativiert und werbewirksam in Position gebracht. So ließ sich schon der erste Anwurf wie hier beispielhaft in einer Ausgabe der Süddeutschen Zeitung bereits 2001 recht lapidar entkräften:

Die Nachricht bezieht sich auf Reagenzglas-Experimente. Das richtige Leben ist komplizierter. Und im richtigen Leben haben sich in Hunderten von Millionen Jahren die Pflanzenverzehrer an die natürlichen Wirkstoffkombinationen der Pflanzen angepaßt. Es ist daher - wissenschaftlich unumstritten - gesund, Obst und Gemüse zu essen, die reich sind an Vitamin C (Ascorbinsäure) und weitere wichtige Substanzen enthalten.
(Süddeutsche Zeitung, 19. Juni 2001, KOMMENTAR - Angst vor Vitamin C von Martin Urban)

Und im selben Artikel wurden die Reagenzglasversuche, aus denen eine antioxidative Wirkung lesbar werden sollte, folgendermaßen bewertet:

Doch wer meint, eine Erkältung mit Vitamin C rascher zu bewältigen, muss keine Sorge vor einem dadurch erhöhten Tumorrisiko haben; im Gegenteil: Nachweislich ist Ascorbinsäure ein Antioxidans, entfaltet also jedenfalls auch vor Krebs schützende Wirkungen.
(Süddeutsche Zeitung, 19. Juni 2001, KOMMENTAR - Angst vor Vitamin C von Martin Urban)

Gerade diese Schlußfolgerung ist eine nach wie vor unbelegte Hypothese, die sich bestenfalls auf Statistiken stützen kann, in denen belegt wird, daß durch eine geregelte Versorgung mit allen lebenswichtigen Vitaminen plus erhöhte Dosen an Vitamin C und E die Sterblichkeitsrate von Herz- und Lebererkrankungen um ein Vielfaches sank. Doch auf welche Art die Vitamine daran beteiligt sind, kann man nach wie vor nicht eindeutig erklären.

In einer anderen Untersuchung aus den USA mit ca. 40.000 Ärzten und 85.000 Krankenschwestern hat die regelmäßige Anwendung von Multivitaminen plus hochdosiertem Vitamin C und E die Sterblichkeit bei Herzerkrankungen um 40 Prozent gesenkt.
(aus: Länger gesünder leben - Wissenswertes über die Orthomolekulare Medizin von Dr. Kristian Glagau, Informationsbroschüre der ORTHOMOL GmbH)

Aussagelose Statistiken dieser Art finden sich zuhauf in jeder Werbeschrift von Vitaminzubereitungen oder Nahrungsergänzungsmitteln.

Seit der Begriff 1911 von Funk geprägt wurde, werden Vitamine als Substanzen definiert, die ein Organismus nicht selbst synthetisieren kann, die er jedoch lebensnotwendig für seine Stoffwechselprozesse (beispielsweise als Bestandteil oder Baustein von Biokatalysatoren) braucht.

Dieser tägliche Mangel ist nicht unbedingt etwas Natürliches. Viele Tiere und Pflanzen sind in der Lage, sämtliche Vitamine in ihrem Stoffwechsel zu synthetisieren. Bei den Meerschweinchen und den Primaten einschließlich des Menschen ist beispielsweise die Fähigkeit, Vitamin C herzustellen, aus irgendeinem Grund im Verlauf seiner Entwicklungsgeschichte verlorengegangen. Nur deshalb sind wir darauf angewiesen, uns von Pflanzen und Lebewesen zu ernähren, denen dieser Stoffwechselvorgang noch nicht fehlt.

Und schon jetzt läßt sich ein Schwund dieser Fähigkeit auch bei primitiveren Lebensformen eindeutig erkennen: Zwar biegen sich unsere Tische an vielfältigen Speisen geradezu, wir sind in der Lage, schon zu Weihnachten Erdbeeren oder im Juni deutsche Frühkartoffeln ernten zu können, wir kaufen Weintrauben im Mai und Brokkoli das ganze Jahr, und doch - trotz dieses Überflusses - ist ein deutlicher Rückgang an lebenswichtigen Inhalts- und Nährstoffen in gerade diesem hochgezüchteten Obst und Gemüse zu verzeichnen. Vergleiche, die von Ernährungswissenschaftlern zwischen einer Untersuchung von 1985 (vom schweizerischen Pharmakonzern Geigy) und entsprechenden aktuellen Untersuchungen an Gemüse vom Wochenmarkt gezogen wurden, ergaben einen Verlust an Mineralien, Spurenelementen und Vitaminen von 12 bis 91 Prozent innerhalb der letzten 16 Jahre.

Wenn die Entwicklung fortschreitet, wird man in Zukunft kaum noch überlegen können, ob synthetisches Vitamin C krebserregend ist oder nicht, ob man es in großen Mengen oder in den vom DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) empfohlenen Referenzwerten (grobe Schätzwerte, die zum größten Teil noch mit dem aus dem 2. Weltkrieg stammenden Mindestbedarf übereinstimmen) einnehmen sollte, es wird nur noch darum gehen, klinische Mangelerscheinungen zu verhindern und Funktionsstörungen möglichst rechtzeitig zu verhüten, wenn man überhaupt die Mittel dafür aufbringen kann. Der derzeitige Modetrend zu vielfältigen und hochdosierten Multivitamin- und Nährstoffpräparaten mag auch dazu dienen, diese Entwicklung frühzeitig zu verschleiern.

Die immer deutlicher werdende Kluft zwischen Arm und Reich wird also in Zukunft auch die Trennlinie zwischen Not, Mangel und Krankheit auf der einen und relativer Gesundheit und Wohlbefinden auf der anderen Seite ziehen.

An dieser Stelle soll, soweit das überhaupt möglich ist, unabhängig von Modetrends und den Versprechungen der Vitaminhersteller-Lobby die Bedeutung, Geschichte und Wirkung einzelner Vitamine näher beleuchtet werden.

Erstveröffentlichung 2001
neue, überarbeitete Fassung 8. Dezember 2011