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WERKSTOFFE/040: Beton widersetzt sich - Chemisches Experiment am Brückenbau (SB)


Qualität im Brückenbau lange nicht mehr selbstverständlich

Veränderte Klima- und Umweltbedingungen erfordern neue Materialien


Es gab Zeiten, da bewunderte man die Aquädukte der Römer und die beständigen, alten Rheinbrücken als eine Art Weltwunder. Dann kamen Zeiten, da galt nichts mehr unmöglich im Brückenbau und Brücken mußten nicht nur Flußläufe oder Autobahnen überqueren, sondern gleichzeitig als repräsentatives Stück zeitgenössischer Architektur Komparation im Sinne von höher, leichter, länger oder kunstvoller bieten. Das Maß unserer Kultur wurden Stahlseilkonstruktionen und Wolkentraumgebilde, die nicht mehr so aussehen, als seien sie zum bloßen "Brücken" von Distanzen gedacht und die unsere Urahnen mit gutem Instinkt wohl nie freiwillig betreten hätten...

... denn zumindest der nagende Zahn der Zeit geht an solchen Wunderwerken nicht spurlos vorbei. Inzwischen häufen sich die Meldungen von Katastrophen am Brückenbau. So hat erst kürzlich das sächsische Straßenbauamt Meißen bei Zeithain eine im Rohbau befindliche Brücke wieder abreißen lassen.

Zuvor hatten Sachverständige bei der rund 1,7 Millionen Euro teuren Konstruktion an der nach Riesa führenden Bundesstraße 169 eine Reihe schwerer Mängel festgestellt. In diesem Fall waren nicht nur die Träger falsch konstruiert, sondern auch das falsche Material verwendet worden. Bei Belastung hätte sich die gesamte Brückenkonstruktion durchgebogen. Doch nicht nur schwache Trägerkonstruktionen können teure Bauwerke zu Fall bringen. Auch wesentliche und als selbstverständlich haltbar erachtete Grundelemente wie der verwendete Beton können über die Halt- und Belastbarkeit einer Brücke entscheiden. Dazu zitierte der Schattenblick eine Notiz aus der Süddeutschen Zeitung im Herbst 2001:

Bei seinem ersten Einsatz im Brückenbau widersetzt sich der hochfeste Beton B85 nicht nur der Witterung, sondern auch den Arbeitern.

Damals wurde auf der Baustelle "Muldebrücke Glauchau" erstmals im deutschen Brückenbau der neue Baustoff B85 - ein Vertreter der neuen Generation hochfester Betone - auf einer Großbaustelle getestet. Zu allen sieben Betonierungsterminen, die jeweils nachts durchgeführt wurden, waren viele Schaulustige und Neugierige gekommen. Da fragt man sich doch, was Bauarbeiten mit neuem Beton für Neugierige so sehenswert macht?

Möglicherweise erwartete das Publikum einen ähnlich "interessanten" Zwischenfall wie am 22. Mai 2000, als sich der vermeintlich so widerstandsfähige B85 den Bauarbeitern tatsächlich widersetzte: Beim Betonierungstermin überhitzte die Betonpumpe, weil der Frischbeton so zähflüssig war, und mußte mehrmals ausgetauscht werden. Um ähnliche Zwischenfälle zu vermeiden, pumpen die Arbeiter inzwischen vor dem Beton Zementschlämme durch das Förderrohr, um es von innen zu befeuchten. Dies soll verhindern, daß dem wasserarmen Beton weitere Nässe entzogen wird - und beugt Verkrustungen vor. Denn bei B85 handelt es sich um einen besonders trockenen und damit dichten Beton, der angeblich auch extremen Umwelteinflüssen standhalten soll.

Tatsächlich ist schon einfaches Betonieren mit gewöhnlichem Beton spannend wie ein Krimi. Einstürzende Hochhäuser in Kairo sind spektakuläre Beispiele dafür, was passieren kann, wenn Abstriche an der Qualität des verwendeten Baustoffs, wie sie in anderen Ländern - auch den USA - inzwischen durchaus an der Tagesordnung sind, gemacht werden. Die Schaulustigen in Glauchau sind nur ein Relikt jener Traditionen im Mittelalter, in denen ein Baumeister für Pfusch am Bau noch geteert, gefedert, dann erst an den Pranger gestellt und schließlich aus der Stadt gejagt wurde. Heute begnügt man sich mit Normen und Richtlinien, die die Qualität beim Bauen sicherstellen sollen und von Fachleuten und Experten mehr schlecht als recht überprüft werden. Doch bei jeder neuen Betonzusammensetzung mit bisher ungebräuchlichen Zusätzen gleicht der Betonierungstermin einem chemischen Experiment, bei dem auch die Experten und Prüfer nicht genau sagen können, was dabei eigentlich herauskommt.

So war offenbar ein Mangel am entscheidenden Bindemittel der Grund für die Einstürze in Ägypten. Oft ist schlichte Unkenntnis einfacher Zusammenhänge schuld, etwa zuviel feiner Sand im Beton, mit dem eine besonders trockene und dichte Mischung erreicht werden sollte. Doch dann reicht der Zementleim (bzw. schlicht das verfügbare Wasser) nicht aus, um die gesamte Oberfläche der vielen Körnchen zu benetzen und zu verbinden.

Beton ist wie Zement eine feingemahlene Mischung aus gebranntem Kalk (Calciumoxid), Sand (Siliciumoxid) und Ton (Aluminium- und Eisenoxid). Zunächst wird diese Mischung gebrannt und das darin enthaltene Wasser abgespalten, dann sollen die verschiedenen Bestandteile in Festkörperreaktionen bei extrem hohen Temperaturen miteinander weiterreagieren. Im über 1.400 Grad Celsius heißen Zementofen soll sich dann als wertvoller Hauptbestandteil kristallines Tricalciumsilikat bilden. Das reagiert später beim Abbinden wieder mit Wasser zu einem Silikathydrat - zu extrem kleinen Kriställchen, die sich an der Oberfläche sehr stark anziehen und vernetzen und so dem Zementstein oder Beton die Festigkeit verleihen. Genaugenommen ist das Aushärten des Betons also ein Hydrationsvorgang, bei welchem dem Beton das zuvor entzogene Wasser wieder zugefügt wird. Wenn man zuläßt, daß "trockener" Beton austrocknet, ehe er abgebunden hat, wird er nicht richtig fest. Weil das Wasser nicht nur einfach verdunsten soll, sondern quasi der wichtigste Partner dieser chemischen Reaktion ist, kommt es hier auf die genaue Dosierung an - und genau dabei entstehen auf dem Bau die häufigsten Fehler. Wenn beispielsweise zu der fertigen und geprüften Transportbetonmischung, die vom Werk im Betonmischer geliefert wird, noch weiteres Wasser hinzugefügt wird, um den Beton besser in die Formen zu spülen, kann schon die für ein optimales Mischungsverhältnis errechnete Festigkeit nicht mehr erreicht werden.

Zu wenig Wasser bereitet jedoch ebenfalls Probleme - es fehlt dann für den optimalen Aushärtungsprozeß. Anders gesagt, viele "Mikrobrücken" in der Grundsubstanz können dann nicht geschlossen werden, so daß anfällige Bruchstellen im Beton entstehen.

Vielfach werden deshalb frisch betonierte Platten mit Folie abgedeckt oder wie in diesem Beispiel nachts gearbeitet, damit die Bauteile nicht durch Tageshitze und Sonnenlicht zu rasch ausgetrocknet werden. Sonst sind Risse vorprogrammiert. Bei der heutzutage unberechenbar zunehmenden UV-Strahlung verdampft das Wasser in den oberen Schichten sehr schnell, so daß diese von den frisch betonierten Teilen regelrecht abstauben oder herunterbröseln. Dies und andere zunehmende negative Umwelteinflüsse wie die Tatsache, daß im Winter Streusalze in den Beton eindringen können (Magnesiumchlorid wirkt auf Beton treibend und lösend zugleich, weil es entsprechende Hydrate bildet, Streusalz und saurer Regen fördern die Korrosion an den Eisenteilen), verlangt inzwischen nach einem besonders festen, dichten und somit wasserarmen Beton. Mit anderen Worten ist die geforderte Qualität beim Bauen mit den früher verwendeten Materialien unter heutigen Umweltbedingungen nicht mehr möglich.


B85 - Chemische Antwort auf neue Umwelteinflüsse?

Die Entstehungsgeschichte von B85 reicht in die 70er Jahre zurück. Die Zahl 85 steht für die Festigkeit. Sie beschreibt die maximale Kraft, die auf einen Prüfkörper aus diesem Material aufgebracht werden kann, ohne daß dieser zerstört wird. Normalbeton kann dagegen maximal eine Festigkeit von 60 erreichen. Das Besondere an B85: Als Frischbeton enthält er - bezogen auf die Menge an Bindemittel - sehr viel weniger Wasser. Er ist deshalb sehr zäh und schlecht zu verarbeiten. Jede größere Luftblase, die jedoch durch den zähen Beton verursacht wird, läßt später einmal Feuchtigkeit an das Eisen gelangen. Das beginnt zu rosten und sprengt den umliegenden Beton wieder ab.

Um dies zu vermeiden und damit B85 überhaupt fließfähig wird, werden Hochleistungsfließmittel zugesetzt. Damit rutscht der Beton besser in die Schalung und schmiegt sich an die Eiseneinlagen, ohne daß man ihn vorher mit Wasser verdünnen müßte. Moderne Betonverflüssiger sind beispielsweise Kunstharzpulver, die wie Spülmittel die Oberflächenspannung des Wassers verringern, und die Zementkörnchen flexibler aneinander vorbeigleiten lassen. B85 enthält somit einen großen Anteil an Kunststoff. Auf diese Weise sollen schlanke platzsparende Bauteile möglich werden, die den Konstrukteuren und Architekten mehr Gestaltungsfreiheit einräumen. Mit Beton hat das allerdings immer weniger zu tun.

B85 ist aber nicht nur durch den Kunststoffzusatz dichter und weniger porös als übliche Betone. Er enthält zusätzliche Füllstoffe, vorzugsweise "Microsilica", die in normalem Beton nichts zu suchen hätten, weil sie ihn innerlich zu sehr austrocknen würden. Microsilica ist ein Stoff, der chemisch zwar Sand oder feinst gemahlenem porösen Glas gleichkommt, aber durch feine Poren und Kapillaren eine viel größere Oberfläche besitzt, was seine enorme Flüssigkeitsaufnahmefähigkeit bewirkt. Da sich Sand gar nicht so fein malen läßt, verwendet man meistens Kieselgur, wie Geologen den staubigen Rohstoff nennen. Diese feine Diatomeenerde besteht aus den Silicatskeletten von Kieselalgen, Plankton und anderen kieselsäurehaltigen Kleinstlebewesen, sogenannter Diatomeen aus den Urmeeren, deren Sedimente durch Eiszeitgletscher bis in unsere Breiten geschoben wurden.

Der Durchmesser dieser Partikel ist bis zu 100mal kleiner als der eines Zementkorns. Daher sollen sie die Poren zwischen den Zementkörnern beziehungsweise zwischen Zement und Betonzuschlag (Sand, Kies) ausfüllen und deren Zusammenhalt verbessern. Da durch die feste Masse Wasser, chemische Substanzen oder Tausalz nicht mehr so tief in den Beton eindringen können und der eingebaute Stahl dadurch vor Korrosion besser geschützt sei, soll sich B85 gerade für Bauwerke, die schädlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind, besonders gut eignen. Dies war auch das ausschlaggebende Argument für das chemische Experiment mit B85 bei der 117 Meter langen Muldebrücke.

Bislang ist das alles noch graue Theorie, denn, wie anfangs schon erwähnt, läßt sich der Beton trotz aller künstlichen Zusätze nur schwer verarbeiten, was den Bau für genau jene feinen Risse und Blasen prädestiniert, die man mit der komplizierten Betonmischung eigentlich vermeiden wollte.

Auch die Bauherrn sind sich nicht ganz sicher. Zwar wurde das Bauwerk nach der erfolgten Einbindung in die Trasse am 19. Dezember 2002 dem Verkehr übergeben. Um weitere böse Überraschungen zu vermeiden, sollte die Muldebrücke in Glauchau nach der Fertigstellung des Rohbaus noch drei Jahre über Außendetektoren unter Beobachtung bleiben. Bisher hat sich an dieser Beobachtungssituation nichts geändert, obgleich die Muldebrücke als Anschauungsobjekt für den Einsatz von hochfesten Betonen gilt.

Offenbar reichen die bisher bestätigte Festigkeit und Dauerhaftigkeit von B85 noch lange nicht für die heutigen Erfordernisse, denn inzwischen wurden noch trockenere und dichtere Betonmassen bis hin zu B105 entworfen, die aber noch in der Praxis beweisen müssen, ob sich die extrem hohen Kosten für Material und Qualitätssicherungs-Maßnahmen überhaupt rechtfertigen, ob die heutige Bauchemie überhaupt noch eine Chance hat oder ob uns eine Zukunft bevorsteht, in der Bauwerke durch Umweltchemikalien wegfließen wie kunstvolle "Klackermatschburgen" bei der ansteigenden Flut.

Erstveröffentlichung 2002
überarbeitete Fassung 5. Mai 2009