Schattenblick →INFOPOOL →NATURWISSENSCHAFTEN → CHEMIE

UMWELTLABOR/226: Warum Umweltgifte zu den Polregionen "hüpfen" (SB)


Was steckt hinter dem "Grashüpfer-Effekt"

oder wie man einen nichtssagenden Begriff persistierend in der Wissenschaft etabliert


Ist auch die weltweite Verbreitung persistenter (auf deutsch: hartnäckiger) Umweltgifte, die auf unerklärliche Weise plötzlich bis in industriell nicht erschlossene Gebiete vordringen, für die meisten Umweltwissenschaftler nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln, werden keine Mühen und Kosten gescheut, seltsame Erklärungsmodelle für dieses Phänomen zu entwickeln, die sich auf skurrile Vorstellungen stützen, die wenig Bezug zur Realität haben.

Ein typisches Beispiel solch plastischer Phantasterie wurde im April 2005 von Umweltforschern des Max-Planck-Instituts vorgestellt und hat sich bis heute als Fachbegriff für diese Erscheinung auch in anderen Publikationen durchgesetzt: das sogenannte "Grashüpfer-Effekt-Modell".

Mit dieser bildhaften Assoziation einer spontanen und sprunghaften Fortbewegung soll beispielsweise die plötzliche Anreicherung von Schadstoffen in den Polregionen, d.h. in Gebieten, in denen diese Stoffe weder verwendet noch hergestellt werden, auf einmal plausibel und logisch erscheinen, nur weil ein plastischer Begriff Tatsachen belegt und festschreibt.

Das Bild des Grashüpfers suggeriert nicht nur ein definiertes Transportmedium, sondern auch eine vorhersagbare, grashüpfertypische Bewegung der fraglichen "Chemikalien", entweder allein oder mittels eines solchen Trägers.

Tatsächlich hat der Grashüpfer-Effekt aber nichts mit Grashüpfern, Heuschrecken oder ähnlich sprunghaftem Getier zu tun. Es besteht nicht einmal eine methaphorische Parallele zu diesen Bildern, denn die meisten der in Frage kommenden Substanzen, die angeblich dem Grashüpfer-Effekt unterliegen, werden vor allem durch die Atmosphäre transportiert und verzichten ganz auf Träger oder andere Transportmittel.

Anders gesagt sorgen allein Auftriebe, Winde und Luftströmungen dafür, daß die in Industrieländern produzierten, emittierten und sich in der darüberliegenden Atmosphärenschicht verteilenden Luftschadstoffe bis in die Polregionen verfrachtet werden. Die Ausbreitung und Kumulation von Schadstoffen über die Nahrungskette, die beispielsweise zu den hohen POP- oder PCB-Werten in Eisbären und Vögeln geführt hat, die sich hauptsächlich von Fischen ernähren, fällt nicht unter diesen Fachbegriff.

Um die Risikobewertung eines Stoffes oder das Gefährdungspotential von Chemikalien darzustellen, verwenden Umweltwissenschaftler ein sogenanntes Multikompartimentmodell, in dem die geographische Verteilung jedes Schadstoffs und seine Verteilung über die verschiedenen Umweltmedien (Luft, Wasser, Boden) beschrieben wird. Daß es sich dabei um künstliche, in ein dreidimensionales Mosaik aufgeteilte Räume handelt, sagt eigentlich schon der Name.

Darin scheinen sich die Chemikalien und Umweltgifte dann in mehreren "Sprüngen" über Kontinente bzw. von Kompartiment zu Kompartiment hinweg zu verteilen und zu bewegen. Die "Sprünge" ergeben sich allerdings aus den Standorten, an denen Proben gezogen und analysiert wurden. Mit einer sprunghaften Fortbewegung hat das nichts zu tun.

Da man beispielsweise nicht die chemische Zusammensetzung der gesamten Atmosphäre über einem Kontinent ermitteln oder scannen kann und statt dessen punktuelle Analysen gemacht werden, kommen dabei eben auch punktartige Verbreitungsmuster heraus, die nun als vermeintlicher "Grashüpfer-Effekt" wissenschaftliche Bedeutung erlangten. Wörtlich hieß es in in einem Bericht des Pressetext.de, der immer noch als aktueller Beitrag zu diesem Thema im Internet zu finden ist:

Dieser Effekt, der Grashüpfer-Effekt genannt wird, bewirkt eine erhöhte Persistenz und eine Anreicherung der Problemstoffe in den Polargebieten.
(Pressetext.de, 8. April 2005)

Um sich im Anschluß gleich zu wundern:

Überraschenderweise sagen die Modellexperimente dies für bestimmte Stoffe sogar ohne den Grashüpfer-Effekt voraus. In der Untersuchung wurde durch Separation der beiden Transportmodi im Modellexperiment zum ersten Mal die Bedeutung des Grashüpfer-Effekts auf das Ferntransport-Potenzial von den zwei persistenten, mittelflüchtigen Substanzen, so genannten POPs ("persistent organic pollutants"), nämlich DDT und Lindan, untersucht.
(Pressetext.de, 8. April 2005)

Das heißt nichts anderes, als daß der Grashüpfer-Effekt zur Erklärung des Schadstoff-Flusses vollkommen belanglos ist.

Beide Substanzen des Beispiels sind Insektizide. Während DDT (Dichlor-diphenyl-trichlorethan) wegen seiner Nebenwirkungen nur noch in tropischen Ländern, z.B. zur Bekämpfung der Anopheles-Mücke (Malariaüberträger) erlaubt und verbreitet wird, ist Lindan ein global verwendetes Pestizid aus der Landwirtschaft. Gamma-Hexachlorcyclohexan, das zu Ehren seines Entdeckers Herrn Van der Linden Lindan genannt wird, ist ein für viele Zwecke eingesetztes Pestizid. So ist es u.a. der Hauptbestandteil von Goldgeist forte oder Jacutin, mit dem man äußerlich Parasiten des Menschen wie Flöhe, Läuse und Milben bekämpft. Darüber hinaus wird es in anderen Mitteln angeboten, um in Haushalt, Garten oder Forst Textilien, Gemüse, Zierpflanzen und sogar Holz vor Schädlingen zu schützen.

Lindan ist im Vergleich zu DDT von Landoberflächen flüchtiger (es gast gewissermaßen in die Atmosphäre aus), bindet sich jedoch an Wasser und wird daher durch Niederschläge auch wieder rasch aus der Atmosphäre ausgewaschen. Auf diese Weise kann es leicht mit dem Sickerwasser in tiefere Regionen gelangen und dann zusätzlich über Wasserwege, z.B. Grundwasser, verteilt und von Lebewesen aufgenommen werden.

Was die Forscher nun wunderte, war, daß sich mit den Modellberechnungen für Lindan (nicht aber für DDT) die Anreicherung in der Arktis und Antarktis sogar ohne den Grashüpfereffekt voraussagen ließ, was eigentlich schon ausgereicht hätte, um das offensichtlich überflüssige Grashüpfereffekt-Modell wieder zu verwerfen. Doch weit gefehlt: Für Lindan wird neben dem längst etablierten "Grashüpfereffekt" eine sogenannte Verteilung nach Erstemission für den Ferntransport gefordert und die Widersprüche mit der Verschiedenartigkeit der Ausbringungsverteilung unter den Teppich gekehrt:

Die Wahrscheinlichkeit, in der freien Troposphäre und in noch höheren Luftschichten bereits Lindan-Moleküle anzutreffen ist höher als für DDT-Moleküle. Das hat mit rascherer Auswaschung und Reemission von Lindan an den Oberflächen zu tun.
(Pressetext.de, 8. April 2005)

Zur Beschreibung des vermeintlichen Grashüpfer-Phänomens wird also letztlich eine längst feststehende Tatsache (die Persistenz des Stoffes z.B. in der arktischen Tierwelt) mit der Probennahme und Messung (seine Verteilung über die verschiedenen Umweltmedien wie Boden, Wasser und Luft) verknüpft. Dadurch wird jedoch der viel wesentlichere Umstand verschleiert, daß der Giftstoff, um überhaupt in die arktische Welt zu gelangen, den Weg vom Erzeuger bis zu seiner Kumulation im Fettgewebe von Fischen, Vögeln und Polarbären, irgendwie zurückgelegt haben muß. Und das wußten wir auch schon vorher. Allerdings müssen selbst die an dieser Theorie beteiligten Forscher noch einige offene Fragen einräumen:

Unklar sind immer noch einige der Prozesse, denen diese Stoffe in der Umwelt unterliegen. Das betrifft sogar Stoffeigenschaften. Außerdem fehlen in der Modellstudie die Ferntransporte in den Ozeanen.
(Pressetext.de, 8. April 2005)

Daß die Ozeane und Wasserwege offensichtlich aus dem Grashüpfer-Modell herausfallen, hört man hier allerdings das erste Mal, womit aber zugegeben wird, daß die Wege der Verteilung in dem eingangs erwähnten Multikompartimentmodell (Luft, Wasser, Boden) durch das "Grashüpfer- Effekt-Modell" offenbar nur unvollständig erklärt werden, zumal man gerade das Wasser als Mittler zwischen den anderen Kompartimenten verstehen könnte: Es wäscht die Schadstoffe aus Atmosphäre und Boden aus und leitet sie auf die eine oder andere Weise an diese beiden "Kompartimente" weiter.

Da somit praktisch alles nach wie vor offen ist und in Wahrheit nichts von dem erklärt noch geklärt worden ist, was man nicht ohnehin schon wußte, läßt sich dem wohlmeinenden Fazit des auch im Newsletter des Max-Planck-Institut erschienenen Artikel: "Den Forschern sei aber dennoch ein wesentlicher Einblick in die globalen Zyklen wichtiger Spurenstoffe gelungen", eigentlich nur ein gewaltiges, mehrfaches Fragezeichen anfügen, oder auch ein für diese norddeutschen Breiten typisches, allgemeine Verwunderung kundtuendes: HÄ ????!!!

Sein nur unzureichendes Erklärungspotential sollte den anschaulichen Begriff jedoch nicht daran hindern, sich bis heute in der Terminologie der Umweltwissenschaften festzusetzen und damit zumindest Persistenz zu verkörpern, wenn er sie auch nicht wirklich erläutern kann.

Erstveröffentlichung 22. August 2005
neue, aktualisierte Fassung

10. Juni 2008