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UMWELTLABOR/262: Umweltfreundliches Brandbekämpfungsmittel unter der Lupe (SB)


Ist Novec 1230 wirklich umweltneutral?


Im April 2004 wurde ein neues flüssiges Löschmittel namens Novec 1230 (ISO-Kennzeichnung FK-5-1-12) den Medien vorgestellt, das bis heute als Nonplusultra in der umweltschonenden Brandbekämpfung gilt. Zum einen sollen mit dieser fast geruchlosen Flüssigkeit weder Bücher noch elektronische Geräte, Computer und dergleichen beschädigt werden, was in unserer hochtechnisierten Zeit sehr vorteilhaft scheint. Tatsächlich kann man einen Fernseher oder ein Laptop einem Tauchbad in dem fluorierten Keton unterziehen, ohne daß die Geräte danach Funktionseinbußen aufweisen.

Das läßt sich dadurch erklären, daß das Löschmittel selbst keinen Strom leiten und somit auch keine Kurzschlüsse in der Elektronik verursachen kann. Die Flüssigkeit verdampft leicht (schon bei knapp 50 Grad Celsius), wenn es unter Druck durch speziell entwickelte Löschdüsen ausströmt. Die niedrige Verdampfungstemperatur basiert darauf, daß die Bindungen zwischen den Molekülen nur relativ schwach sind. So dringt die Flüssigkeit zwar in Geräte und Bücher ein, verdampft jedoch sehr schnell wieder, so daß Bücher innerhalb kurzer Zeit wieder trocknen, ohne daß die Flüssigkeit Rückstände hinterläßt.

Zur Unterstützung sorgt neutraler Stickstoff (N2) als Treibmittel in den Feuerlöschgeräten dafür, daß Novec 1230 zu den Löschdüsen transportiert wird.

Zudem hat Novec 1230 ein hohes Durchdringungsvermögen, d.h. es homogenisiert problemlos mit der Raumluft und erreicht somit schnell die erforderliche Löschkonzentration im Schutzbereich. Nach Angaben der amerikanischen Herstellerfirma 3M saugt Novec 1230 die Hitze eines Feuers besser auf als Wasser, d.h. die Temperatur der Flamme wird bis zu einem Punkt abgesenkt, in dem Verbrennungsreaktionen nicht mehr stattfinden können. Aufgrund derart hervorragender Löscheigenschaften und einer kurzen Flutzeit von max. 10 Sekunden kann ein Feuer in kürzester Zeit gelöscht werden, was mit den inzwischen - ausgenommen in der militärischen und zivilen Luftfahrt - grundsätzlich verbotenen, beispiellosen Löschmitteln wie Halon 1301 und einigen anderen FKWs vergleichbar ist.

Man vermutet, daß das Löschmittelmolekül in der heißen Flammenzone in seine einzelnen Atome zerfällt. Das führt zu einer spontanen Volumenexpansion um das ca. 19-fache, wodurch Sauerstoff aus der Flammenzone verdrängt und der Umgebung Temperatur entzogen wird. Darüber hinaus finden am Brandherd chemische Reaktionen wie Zerfalls- und Rekombinationsprozesse zu neuen Molekülen statt, die der Flamme Energie entziehen, den Brandherd kühlen und so ein Wiederentzünden verhindern. Welche Verbindungen allerdings in der Flammenzone aus dem Verbrennungsgut gemeinsam mit Kohlenstoff, Wasserstoff, Fluor und Sauerstoff entstehen können, wurde hier nicht beschrieben.

Novec 1230 ist chemisch gesehen ein fluoriertes Keton (genauer: ein perfluoriertes Ethyl-Isopropylketon), das im Molekül Kohlenstoff, Fluor und Sauerstoff enthält (chem. Formel CF3CF2C(O)CF(CF3)2) und gilt als Löschmittel der 3. Generation. Anders als das früher häufig verwendete Halon 1301 (2. Generation, Verweildauer bis zu 33 Jahre in der Atmosphäre und umstrittener Ozonschichtzerstörer) soll es innerhalb von fünf Tagen in der Atmosphäre nicht mehr nachweisbar sein, sobald es der natürlichen UV-Strahlung ausgesetzt ist.

Zudem soll es nicht am Ozonabbau beteiligt sein. Mit einem "Ozone Depletion Potential" (engl. Ozonabbaupotential) von 0, einem "Global Warming Potential" (GWP Erderwärmungspotential) von 1 sowie der Unbedenklichkeit in Bezug auf Emissionsbegrenzungen gemäß Kyoto-Protokoll 4 gilt dieses Löschmittel besonders für sensible IT- Bereiche als erste Wahl. Es wird flüssig gelagert und beansprucht so auch noch wenig Platz.

Zumindest der vermeintlich niedrige GWP-Parameter ist Augenwischerei. Die Zahl gilt als Parameter bzw. relatives Maß für die mögliche Klimabeeinflussung durch das Vorhandensein einer als Treibhausgas wirkenden Verbindung in der Atmosphäre, bewertet auf eine Halbwertszeit von 100 Jahren. Der Referenzwert allerdings ist Kohlenstoffdioxid CO2, der ebenfalls ein GWP von 1 besitzt. Und CO2 gilt als Treibhausgas. Das bedeutet ein Kilogramm Novec hat die gleichen klimatischen Auswirkungen wie 1 Kilogramm CO2.

Nur im Vergleich zu anderen stark fluorierten Verbindungen, die üblicherweise einen GWP-Wert von 1.000 und mehr besitzen, scheint Novec 1230 weniger brisant zu sein.

Mit seinen besonderen Löscheigenschaften und den wohl besten Umweltparametern für diese Wirkstoffgruppe wird Novec 1230 von allen Experten überwiegend positiv bewertet. Allerdings fragt man sich, wenn es sich im Einsatzfall gewissermaßen in "Luft auflösen" soll, aus was dann diese geruchslosen und unsichtbaren "Zerfallsprodukte" bestehen sollen, zumal Sauerstoff (ein Bestandteil der Luft) durch Novec verdrängt werden soll.

Abgesehen von dem bereits erwähnten Zerfall in einzelne Atome, die bekanntlich sehr reaktiv sind und schon im nächsten Schritt mit anderen Luftmolekülen oder miteinander erneut reagieren, wird hierzu vom Hersteller selbst wenig gesagt.

Einem Artikel der Fachzeitschrift PROTECTOR, in dem das auf Novec 1230 basierende Löschsystem Sinorix 1230 als "umfassende Sicherheitslösung für eine Steuerberatungsgesellschaft" vorgestellt wurde, lassen sich allerdings einige aufschlußreiche Details diesbezüglich entnehmen:

Der besondere Mehrwert eines Sinorix 1230-Löschsystems besteht neben seiner besonderen Löscheigenschaft in den hervorragenden Umweltparametern. Im Einsatzfall löst es sich sozusagen "in Luft auf" und zerfällt geruchlos und unsichtbar zu Fluorwasserstoff.

Nach etwa drei bis fünf Tagen hat sich das für den Menschen ungefährliche Gas klimaneutral und ohne Rückstände in der Atmosphäre abgebaut. Der vorgeschriebene ALT-Wert (Atmospheric Life Time) von fünf Jahren wird damit massiv unterschritten. Der ODP- Wert (Ozone Depletion Potential), der das Schädigungspotenzial eines Gases in der stratosphärischen Ozonschicht beschreibt, liegt bei Null. Der erreichte GWP-Wert von eins (Global Warming Potential) bedeutet, dass das Gas nicht zum Treibhauseffekt beiträgt. [1]

Abgesehen von der echten Falschaussage, daß ein GWP-Wert von eins (entsprechend dem Wert von CO2 s.o.) nicht zum Treibhauseffekt beiträgt, wird hier ausgesprochen leichtfertig mit dem Begriff "Fluorwasserstoff" umgegangen, bei dem es sich keineswegs um einen typischen Luftbestandteil, sondern immerhin um einen äußerst ätzenden, aggressiven und für Menschen keinesfalls ungefährlichen Stoff handelt, der explosionsartig reagiert.

So schreibt das Chemikalienlexikon im Internet von T. Seilnacht:

Fluorwasserstoff ist ein farbloses, stechend und erstickend riechendes Gas, das nicht brennbar ist. Die Lösung des Gases in Wasser heißt Flusssäure. Unter Druck verflüssigter Fluorwasserstoff leitet im Gegensatz zum Chlorwasserstoff keinen elektrischen Strom. Die Flüssigkeit ist ein ausgezeichnetes Lösungsmittel für anorganische und organische Stoffe. Fluorwasserstoff kann mit trockenem Papier und in Gegenwart von Feuchtigkeit mit Metallen explosionsartig reagieren.

Beim Hautkontakt mit Fluorwasserstoff entstehen sehr schmerzhafte Rötungen und Blasen. Bei Berührung mit der Haut besteht Lebensgefahr. Das Einatmen führt zunächst zu einem brennenden Gefühl, dann zu Hals- und Atembeschwerden. Die Bildung einer Lungenblutung ist möglich, was auch mit verzögerter Wirkung zum Tode führen kann.

Da Fluorwasserstoff äußerst ätzend und stechend riecht, besteht wenig Gefahr, daß man es versehentlich einatmet oder oral aufnimmt. Der gefährlichere Aufnahmeweg verläuft über die Haut. Diese stellt bei der Aufnahme kein Hindernis dar. Durch Aufnahme in den Organismus kommt es zur erheblichen Beeinflussung biochemischer Stoffwechselvorgänge durch Enzymhemmung. Chronische Auswirkungen umfassen die Schädigung des Skeletts und der Haut, sowie Beeinträchtigung der Lungenfunktion.

Auch was die vermeintliche Umweltneutralität angeht, würde diese von der Wirkung des daraus entstehenden Verbrennungsprodukts (falls die obigen Angaben richtig sind) entschieden relativiert. Denn Fluorwasserstoff führt sogar bei Konzentrationen unter 0,000.15 ppm noch zu einem verminderten Pflanzenwachstum.

Im Brandfall werden außerdem weitere toxische und chemisch reagierende Verbindungen durch den dem Löschmittel beigefügten Stickstoff gebildet. Daraus entstehen bei Verbrennung sogenannte Nitrose Gase (NO, NO2), die für den Menschen ebenfalls gesundheitsschädlich und je nach Konzentration giftig sind, weil sie den Sauerstofftransport im Blut stören.

Was die Toxizität des Stoffes Novec 1230 selbst angeht, so wurde in Tierversuchen der sogenannte NOAEL (no observed adverse effect level)- Parameter bei 10,0 Vol-% bestimmt. Das ist die höchste Konzentration, bei der keine nachteiligen toxikologischen oder physiologischen Auswirkungen zu beobachten sind. Nicht zu beobachten heißt jedoch auch, daß durchaus noch unbekannte oder zunächst noch unscheinbare physiologische Folgen möglich sein könnten.

Nur die Tatsache, daß dieser Wert bereits fast doppelt so hoch liegt wie die üblichen Auslegungskonzentrationen vergleichbarer Löschmittel läßt seine Einschätzung so günstig ausfallen. Dazu kommt auch noch, daß auf eine zusätzliche Bestimmung des LOAEL (lowest observable adverse effect level), also der niedrigsten Konzentration, bei der nachhaltige Auswirkungen zu beobachten wären, u.a. um Tierexperimente zu sparen, ganz verzichtet wurde [1]. Der LOAEL wird daher recht aussagelos mit >10 Vol-% angegeben.

Analog liegt der LC50-Wert weit oberhalb von 10 Vol-%. Obige Werte sind vom amerikanischen EPA und dem deutschen Hygieneinstitut akzeptiert worden. Auch wenn die EDV-Konzentrationen von VdS Schadenverhütung für Novec 1230 noch nicht vorliegen, ist zu erwarten, dass auch bei Berücksichtigung der 10% Zuschlagsmenge die Löschmittelmenge nie so groß wird, dass eine Konzentration von 10 Vol-% im Schutzbereich mit elektrischen Risiken überschritten wird. Ist dies der Fall, kann auf Maßnahmen zur zusätzlichen Personensicherheit gemäß VdS 2381 verzichtet werden. [2]

Das allein reicht bisher, um Novec 1230 in Fachkreisen als Mittel der Wahl darzustellen, das im Vergleich zu anderen FKWs als relativ umweltfreundlich und weniger giftig gilt. Was aber nicht heißt, daß es sich um einen völlig harmlosen, bedenkenlos einsetzbaren und vor allem umweltverträglichen Stoff handelt. Darüber hinaus wird in der Unterlage zum "Tag des Feuers 2007" von Rudolf Mark [1] abschließend noch einmal betont, daß aus heutiger Sicht auch ein generelles Verbot für den Einsatz der wesentlich giftigeren chemischen Löschmittel wie FM-200 und Trigon-300 ebenfalls nicht absehbar ist. Im Falle eines Brandes von umweltschonenden Methoden zu sprechen, ist somit eine Farce. Mit welchen weiteren chemischen Reaktionen und Emissionen zu rechnen ist, stellten wir bereits unter dem Titel "UMWELTLABOR/260: Kunststoffe machen Brände zum Inferno (SB)" vor.


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Anmerkungen:

[1] Fachartikel, PROTECTOR 3/08, S. 49-50

[2] BrandSchutzConsult Ing. Rudolf Mark, Gaslöschsysteme und Umweltschutz, Unterlage zum "Tag des Feuers 2007" der Minimax Österreichische Feuerschutz GesmbH. www.brandschutzconsult.at www.bsc.st

[3] Chemikaliendatenbank T. Seilnacht, www.seilnacht.com

12. November 2009