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BERICHT/090: HUM - die Kunst des Sammelns (Junge Akademie Magazin)


Junge Akademie Magazin - Nr. 7/Januar 2008

HUM - die Kunst des Sammelns
Symposion im Berliner Museum für Naturkunde über eine versammelte Welt in Schubladen und Gläsern

Von Bettina Mittelstraß


280.000 Gläser mit in Alkohol konservierten Tieren aus allen Teilen der Welt, von Flohkrebsen bis hin zu kräftigen Schimpansen, ein gefüllter Keller mit Geweihen, eine weltberühmte Sammlung von Mineralien und bis zu 4,5 Milliarden Jahre alte Meteoriten, Schränke mit Tierfellen, Schubladen voll mit getrockneten Pflanzen und ein ganzer Saal nur für Fischpräparate: In den Hinterzimmern, abseits von Brachiosaurus brancai, dem herausgeputzten Star der neuen und spektakulären Ausstellung des Museums für Naturkunde, stapeln sich, gesammelt auf der ganzen Welt über einen Zeitraum von rund drei Jahrhunderten, etwa 30 Millionen Objekte.


Der Alltag in den Forschungssammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin ist denkbar unaufgeregt und besteht von jeher im Wesentlichen aus Sammeln und Ordnen. Hat man einmal die Grenze von der multimedialen, nach allen Regeln der Kunst inszenierten Ausstellung zu den kühlen, kargen Räumen mit dem abgeblätterten Stuck durchschritten, verschiebt sich der Blickwinkel: Was vorher Eindruck machte, verblasst spätestens unter den Glasaugen unzähliger ausgestopfter Vögel, die dicht an dicht in langen Vitrinen den Weg in die zeitlose Abgeschiedenheit der nicht öffentlichen Museumsflügel säumen.


Warum sammeln wir?

Was wollen wir mit all den toten Tieren? Warum sammeln wir so sorgfältig alles - bis hin zu noch so kleinen Organismen und leblosen Objekten, die uns in der Natur umgeben - sortieren und benennen sie? Taxophilia - die Liebe zur Ordnung, so überschrieben die Veranstalter des zweitägigen Symposions "HUM - die Kunst des Sammelns" die erste Annäherung an die Welt in Schubladen und Gläsern. Die wissenschaftliche Tagung war der Auftakt zu einem mehrteiligen Projekt der Künstlergruppe a rose is und des Regisseurs Julian Klein, das ein Porträt des Museums für Naturkunde mit seinen riesigen Forschungssammlungen zeichnen möchte. Und so kamen auf dem Symposion, das von Mitgliedern der Jungen Akademie inhaltlich und organisatorisch mitgestaltet wurde, zunächst die hier arbeitenden Wissenschaftler selbst zu Wort.

Sie sind Spezialisten für Krebstiere, Weichtiere oder Käfer, die Kustoden, die mit geradezu mönchischer Disziplin tagein, tagaus, Glas für Glas und Schublade für Schublade Flohkrebse, Seepocken oder Regenwürmer unter die Lupe nehmen, genauestens beschreiben und korrekt klassifizieren. Zehn Jahre habe er allein gebraucht, um sich in seine Tiergruppe, die Gruppe der Flohkrebse, einzuarbeiten, sagt Oliver Coleman, der Crustaceen Kustos, dessen Begeisterungsfähigkeit das Projekt ins Rollen brachte. Heute weiß er um 8.000 Flohkrebsarten. Taxonomie ist ein Handwerk, meint Oliver Coleman, aber dabei vor allem auch ein analytischer Prozess.

Vermutlich kaum mehr als zehn Prozent aller Tier- und Pflanzenarten sind heute bekannt und beschrieben, geht man von einer Zahl von derzeit 30 Millionen auf der Erde lebenden Tier- und Pflanzenarten aus - eine Schätzung, die nach oben und unten um zigmillionen schwankt, und an deren Verbesserung die Taxonomen geduldig arbeiten.

Die naturkundlichen Sammlungen werden vor dem Hintergrund der Tatsache, dass heute jährlich weltweit tausende von Arten aussterben und im Zusammenhang mit der "Global Change"-Forschung zu unschätzbar wertvollen Referenzarchiven für die Klimaforschung oder jede andere wissenschaftliche Beschäftigung mit Artenvielfalt und Biodiversität. Die Expertise der Taxonomen, ihr systematisches Wissen und ihr geschulter Blick für Gleiches und Ungleiches erweist sich dabei als für die Wissenschaft zunehmend unverzichtbar, so der Tenor auf dem Podium.


Wiedererkennen ist eine Lust

Das Kategorisieren, jener Vorgang von Anordnung und Unterscheidung, ist grundsätzlich im Gehirn angelegt, meint Claudia Friedrich vom Institut für Biologische Psychologie an der Universität Hamburg. Man wisse zwar nicht genau, nach welchen Regeln das Gehirn kategorisiere, aber dass es ständig unwillkürlich einordne und sortiere, sei messbar und in einem frühen evolutionären Stadium überlebensnotwendig gewesen, was den Taxonomen im Publikum unmittelbar einleuchte. Wiedererkennen, so Oliver Coleman, ist eine Lust, ein "freudiges Gewitter in unseren Neuronen".

Das Zusammenfassen und Sortieren ist zudem ein grundsätzlich allen wissenschaftlichen Fragen vorausgehender Vorgang, meint Anke Jentsch. "Wir sind fasziniert von Ähnlichkeit und Wiederholung", fügte die Juniorprofessorin für Störungsökologie und Vegetationsdynamik hinzu, weil wir sie brauchen, um Abweichung des Immergleichen überhaupt zu erkennen. Die Abweichung erst stimuliert die Forschung: "So entstehen neue Forschungsfragen, weil man diese Abweichungen zu deuten sucht."

Nirgends steht die Abweichung von "Normalität" derzeit mehr im Fokus als in der so genannten Global Change Forschung. Die Auswirkungen dynamischer Umweltveränderungen auf die Organismen sind weltweit das beherrschende Thema. Ohne die genauere Kenntnis der Arten, ihrer Vielfalt und Entwicklung bleiben die Antworten jedoch unbefriedigend. Und ohne die Experten für die morphologische Beschreibung und Kategorisierung der Arten aus den naturkundlichen Sammlungen könnte so mancher suchende Blick in die Klimageschichte fehlgeleitet werden, betont die Geologin Hildegard Westphal: "Wenn wir Sedimente anschauen, sehen wir, in was für einer Umwelt sie abgelagert wurden, und das erzählt uns eine Menge über Klima und Umweltbedingungen. Aber als Geologen können wir uns sehr täuschen." Vergleichbare Sedimente entstehen unter unterschiedlichen Bedingungen, und dann kommt es aufs Detail an. Eine Schnecke im Sediment ist für das Auge des Geologen oft nur eine Schnecke, nicht so für Taxonomen. Die schauen die Schnecke an und identifizieren das fossile Tier als tropische Schnecke. Erst dieses zusätzliche, in einem langen Prozess erworbene Wissen macht klar, dass zur Zeit der Entstehung jenes Sediments das Wasser warm gewesen sein muss.


Sammlungen zur Volksbildung

Während sich die Naturwissenschaftler über den aktuellen Wert der Sammlungsbestände der Humboldt-Universität und der hier betriebenen Grundlagenforschung sofort einig waren, zeugten andere Beiträge unter dem Titel "Die Kollektion und das Kollektiv" oder "Der Tod und das Rädchen" von viel unabgeschlossener Überzeugungsarbeit an anderer Stelle. Den Sammlern und Naturforschern im 18. Jahrhundert war bald bewusst, dass Naturgeschichte nur als kollektives Unternehmen betrieben werden konnte, sagt die Wissenschaftshistorikerin Kärin Nickelsen. Die Gesellschaft von heute dagegen weist die Verantwortung für solche Ansammlungen von Wissen nur gar zu gern zurück, wenn es darum geht, deren wissenschaftliche, kulturelle und historische Wertschätzung auch finanziell zu unterstützen. Nicht nur die lebendigen Arten scheinen damit vom Aussterben bedroht zu sein, sondern auch ihre konservierten Vorfahren in den Sammlungen und ihre gewissenhaften Zeugen, die Taxonomen.

Zum Allgemeingut, das allen und damit im Prinzip zugleich auch niemandem gehörte, wie Kärin Nickelsen ausführt, wurden viele Privatsammlungen in den Gelehrtengesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Als schließlich 1810 die Berliner Universität gegründet wurde, erhielt sie zu Forschungs- und Lehrzwecken auch einen Sammlungsauftrag, um Kontinuität in den Fachsammlungen zu gewährleisten. Schon bald wurde das Gebäude der heutigen Humboldt-Universität allerdings zu klein für die ausufernden zoologischen, zootomischen und mineralogischen Sammlungen, die 1889 in die prächtigen Räume der Invalidenstraße zogen. Weil Naturkunde im 19. Jahrhundert zu den "sexy sciences" gehörte, waren repräsentativ gestaltete Ausstellungen inzwischen auch ein erfolgreiches Konzept für Volksbildung - "benutzt, nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnisse zu transportieren, sondern um Weltanschauung zu machen", so der Historiker Thomas Großbölting.

Fragen von Macht, Prestige oder Geld bestimmen das Überleben der Forschungssammlungen bis heute, konstatierte das fachkundige Publikum. Als mehr oder weniger überflüssige "Beinchen- und Borstenzähler" würden die Taxonomen selbst unter Fachkollegen belächelt, die die Fördergelder lieber in die Molekularbiologie fließen sähen. Aber damit sägt man sich den Ast ab, auf dem man steht. Zum einen kommen ohne Referenz auch die Molekularbiologen zu keinen befriedigenden Aussagen über Biodiversität. Dass zum anderen das Sammeln und Sortieren keineswegs eine veraltete Methode für Biologen ist, verdeutlicht Julia Fischer am Beispiel von Tierstimmen-Archiven, die derzeit mit der modernen technischen Entwicklung zu einer aussagekräftigen Grundlage der Forschung werden.

Event-Konzepte für die Öffentlichkeit, wie das Feiern von Hochzeiten in ihrem repräsentativen Teil, den Ausstellungen, könnten in Zukunft die großen Forschungssammlungen finanziell abfedern, so die Geschäftsleiterin des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik Cornelia Weber. Um auch in den Direktionsetagen der Universitäten für Aufmerksamkeit zu werben, hat es sich bewährt, aus den Sammlungen in den eigenen vier Wänden zum Beispiel historische Geräte, Präparate oder biografische Dokumente auszustellen, um auf die Geschichte der Institution zu verweisen. Diese Identität stiftende Funktion reiße die Forschungssammlungen allerdings völlig aus dem Kontext, kritisierte in diesem Zusammenhang der Botaniker Volker Wissemann.

Um den Forschungssammlungen die verdiente öffentliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, will die Gruppe a rose is unter der Regie des Künstlers Julian Klein, der auch Mitglied der Jungen Akademie ist, andere Wege gehen. Aufbauend auf dem Kolloquium entsteht - produziert vom Büro Klangquadrat und unterstützt von der Schering Stiftung - ein Katalog und schließlich ein "taxomanischer Parcours", der das Museumspublikum abseits der Ausstellung in die Forschungssammlungen hinein-und zu den darin arbeitenden Wissenschaftlern hinführen will.

Der gläserne Blick der so geschwätzig wirkenden Vögel in ihren Vitrinen wirbt bemerkenswert eindringlich für diese stille Welt in ihren geordneten Bahnen. Sie sind nicht tot, sagt Oliver Coleman, sie leben durch die wissenschaftliche Arbeit mit ihnen.

Weitere Informationen unter:
www.hum-die-kunst-des-sammelns.de


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Quelle:
Die Junge Akademie Nr. 7/Januar 2008
Herausgeber:
Die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher
Leopoldina
Jägerstraße 22/23, 10117 Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2008