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BERICHT/070: Forscher in eisigen Beziehungskisten (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2 - 2008

Forscher in eisigen Beziehungskisten

Von Heribert Becher


Wissenschaft in der Antarktis findet unter Extrembedingungen statt. Mensch und Material müssen eisigen Temperaturen trotzen. Aber auch das lange Zusammenleben auf beengtem Raum stellt eine Herausforderung dar.


Das Internationale Polar-Jahr 2007/08 lenkt die Aufmerksamkeit vieler Wissenschaftler auf die Verhältnisse an Nord- und Südpol. Im Allgemeinen stehen hier die oft dramatisch genannten Entwicklungen von Erderwärmung, Ozonloch und Klimakatastrophe im Vordergrund des Interesses. Meist wird dabei übersehen - jedenfalls in der wissenschaftlichen Literatur bisher kaum thematisiert -, dass die dazu notwendigen Datenerhebungen und Forschungen unter erschwerten Lebensbedingungen erfolgen. Selbstverständlich sind die Geschichten von Amundsen, Scott und Shackleton in all ihrer Dramatik bekannt, auch die neueren sportlichen Leistungen von Fuchs, Messner und anderen Abenteurern. Aber welche Wirkungen entstehen, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auf Forschungsstationen (hier: in der Antarktis) bei Eis- und Schneestürmen, bei Minustemperaturen von 50 bis 90 Grad Celsius, während der Polarnacht arbeiten müssen und Monate lang - z.T auch Jahre - in Containern oder unter dem Eis in Stahlröhren "hausen"?

Dieser Thematik widmet sich meine empirisch-soziologische Untersuchung der gesellschaftlichen Wechselwirkungsformen in solchen Stationen. Die theoretische Grundposition für diese Untersuchung stellt der Wechselwirkungsbegriff von Georg Simmel bereit, neben Max Weber einer der Begründer der empirischen Soziologie in Deutschland. Er veröffentlichte 1908 eines seiner Hauptwerke: "Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung". Gegenstand der Antarktis-Untersuchung ist also zugleich die Fragestellung nach der empirisch-analytischen Brauchbarkeit des Simmelschen Forschungsinstrumentariums an einem völlig neuen soziologischen Gegenstand. So wurden u.a. folgende Wechselwirkungsformen in den Forschungsstationen untersucht:

• Gruppenzusammenhalt und Solidarität;

• Arbeitsteilung und sonstige Formen rationalisierter Ordnung und deren Entwicklungsbedingungen;

• Personale Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Teil - Engagement;

• Verhalten bei rein- und gemischt-geschlechtlichen Gruppierungen;

• Bildung, Bestand und Auflösung von (kleinen) Gruppen;

• Konflikt- und Konfliktlösungsverhalten;

• Folgen der zeitlichen und räumlichen Fixierung (vgl. Klöster, Gefängnisse, psychiatrische Anstalten und sonstige "totale" Organisationen/Institutionen).


Dabei wurde nicht nur auf mögliche Unterschiede in den Wechselwirkungsformen während der Sommer- und Wintermonate in der Antarktis geachtet, sondern auch ein Zeitverlauf von etwa 15 Jahren zugrunde gelegt, um eventuelle Änderungen bei diesen Formen zu erkennen, die längerfristig sind.

Methodologisch wurden die - beschränkte - Literatur, fortlaufende schriftliche Berichte aus den Stationen, teilweise zugängliche Tagebuchaufzeichnungen, Korrespondenzen und Internetinformationen inhaltsanalytisch ausgewertet. Dazu kamen mündliche Interviews mit Stationsbewohner/-innen während und nach ihren Sommer- bzw. Winteraufenthalten auf den Stationen. Wegen der numerischen Kleinheit der Besatzungen (z.B. auf der deutschen Neumayer-Station im Winter fünf bis zehn, im Sommer etwa 40 Personen) waren keine validen quantitativ-statistischen Erhebungen möglich; vielmehr wurden hier weitgehend qualitative Methoden angewandt. Dies geschah vor allem bei meinen eigenen Besuchen auf solchen Stationen, wobei darauf geachtet wurde, Stationen zufällig ausgewählter unterschiedlicher Entsendeländer zu erfassen. So wurden diese Interviews bei argentinischen, chilenischen, deutschen, polnischen und russischen Besatzungen durchgeführt. Es zeigte sich von Anfang an, dass die differenzierte, oft ans Psychologische grenzende Methodik, die Georg Simmel vor über 100 Jahren an "grossen" Themen wie Politik, Geldwirtschaft oder Kultur, aber auch in "kleinen", alltäglichen Vorgängen entwickelt hatte, sich für diesen neuen Forschungsbereich als sehr fruchtbar erwies. Sowohl die zwischen den Individuen ablaufenden Prozesse als auch die daraus entstehenden Wechselwirkungsformen konnten bei diesen eingeschlossenen kleinen Gruppierungen sichtbar gemacht werden.

So konnte der erwartete Zusammenhang zwischen Eingeschlossensein und solidarischem Verhalten differenziert werden: Unter widrigen Bedingungen des Winters war die Solidarität grösser und wurde auch bewusst gefördert (z.B. durch gemeinsame Erste-Hilfe-Kurse in den Stationen). Dennoch ließ sich ein Unterschied ausmachen zwischen der Gruppe der Techniker/-innen und der Gruppe der Wissenschaftler/-innen, der sich noch verstärkte zwischen den (abrückenden) "Sommerleuten" und den (bleibenden) "Winterern". Es handelt sich bei den Wissenschaftlern und Technikern, gleich welchen Geschlechts, immer um beruflich spezialisierte Personen. Sie haben aber in unterschiedlicher Kombination gemeinsame Aufgaben zu erfüllen (auch zwischen mehreren Stationen). Das führt einerseits zu rationalisierter Arbeitsteilung und Unterscheidung, manchmal aber auch - trotz der gemeinsamen großen Aufgaben - zu mehr oder weniger subtilen Abgrenzungsbemühungen innerhalb derselben Gruppe, die nicht mehr rein rational zu begründen sind. Um hier schlummerndes Konfliktpotential von vornherein zu entschärfen, tauschen manche Entsendeländer (z.B. England) Sommer- und Winterbesetzungen in kleineren Teilgruppen und im Wechsel über zwei Jahre aus, so dass ein fließender Übergang geschaffen wird.

Bei den Untersuchungen zu den Interaktionen bei reingeschlechtlichen und gemischtgeschlechtlichen Gruppen stellt sich heraus, dass rein weibliche Besatzungen eine Ausnahmeerscheinung bleiben, rein männliche nach wie vor recht häufig anzutreffen sind, dass aber die gemischtgeschlechtlichen zugenommen haben; dies aus der Erkenntnis heraus, dass sie sich - trotz anfänglicher Bedenken bei den Entsendeländern - als die effektiveren herausgestellt haben. Die rein männlichen sind heute noch meist aus dem Militär oder der Seefahrt rekrutiert, wo bestimmte Wechselwirkungsformen, wie die Durchsetzung von Befehlen bei Konflikten oder das Adjutantenmodell (der "Zweite" hinter dem "Ersten") stark vertreten sind. Das macht manches einfacher, dafür fehlen aber differenzierte Umgänge mit - auch wissenschaftlichen - Fragestellungen und Problemen wie in den gemischten Gruppen, die Aufgaben differenzierter, genauer und damit effektiver abarbeiten können; vor allem, wenn sich die Notwendigkeit der Differenzierung erst im Verlauf der Bearbeitung ergibt.

Dass es bei gemischten Gruppen auch besondere Problemkonstellationen gibt, kann erwartet werden. So "leiden" Frauen eher unter den Problemen der so genannten biologischen Uhr bei Polarnacht oder Dauerlicht als Männer, weil diese im Allgemeinen (Militär, Seefahrt) beruflich schon lange an "Wachen" und künstliche Tageseinteilungen sozialisiert sind. Bei weiteren Fragen nach (auch sexuellen) Beziehungen zwischen Männern und Frauen wird meist diplomatisch geantwortet ("bei uns kein Problem") oder - auf Nachfragen - ausgewichen. Dennoch kommen Verhältnisse, ja auch Heiraten zustande, sogar zwischen unterschiedlichen Nationalitäten.

Beim Thema Konflikt ist zwischen internationalen und interpersonalen Auseinandersetzungen zu unterscheiden. Es konnte festgestellt werden, dass der so genannte Kalte Krieg keine konfliktmässigen Auseinandersetzungen zwischen den west- und ostdeutschen Stationen hervorgerufen hat. Es herrschte vielmehr wegen des strikten Kontaktverbots im wahrsten Sinne des Wortes Funkstille.

Bei manchem interpersonalen Konflikten kann festgestellt werden, dass dieser sich auflädt auf den Unterschied zwischen den Gruppen der Wissenschaftler und Techniker. Hier wird dann oft durch den Stationsleiter - in der Regel Arzt oder Ärztin ( meist ohne vorangehende Mediatorenausbildung) - ein Machtwort gesprochen. Dies kann dann zur Verschärfung des Konflikts führen (die Faust in der Tasche). Wenn es sich nur um zwei oder drei Konfligenten handelt, funktioniert auf den nicht-militärisch besetzten Stationen oft der Koch oder die Köchin aus ihre Lebenserfahrung heraus und dem Zusammentreffen beim gemeinsamen Essen als durchaus effektiver Streitschlichter.

Eine mittlere Position mit fundierter Kenntnis über den Umgang mit Konflikten nehmen diejenigen Stationen ein, in denen sich eine Kirche mit geistlicher Präsenz befindet: dies ist auf Bellingshausen sowohl bei den Chilenen als auch bei den Russen der Fall, wo es neben dem Rückzugsort Kirche auch den katholischen Priester, den Popen oder im nicht weit entfernten McMurdo (Australien, Neuseeland, USA) eine anglikanische Kirche mit Reverend gibt. Auf Bellingshausen und bei einigen anderen größeren Stationen kommen im Sommer durchaus auch die Ehepartner und die Kinder der Besatzungen mit (es gibt dafür Schulen und Krankenstationen), die den Stress eingeschlossener Gesellschaften nicht so groß werden lassen. Dennoch stösst man immer wieder auf dramatische Effekte des Eingeschlossenseins: Gerade im Übergang zwischen Sommer und Winter bei längerer Besatzungszeit finden sich Fälle zerstörerischer Interaktionen. So ergaben Befragungen, dass die Enge im Sommer stärker empfunden werden kann als im Winter, weil bis zu zehnmal mehr Personen anwesend sind. Auf einen besonders dramatischen Fall stösst man bei der argentinischen Station Almirante Brown. Deren Leiter, ein Arzt, erhielt mit einem Versorgungsschiff im Sommer eine vertragliche Mitteilung, dass er ein weiteres Jahr auf Station bleiben müsse; es wäre sein viertes gewesen. Als sein Versorgungsschiff wieder abgefahren war, packte ihn wohl der Lagerkoller: Er wartete, bis ein amerikanisches Schiff in der Nähe war - alle müssen sich bei Gefahr gegenseitig helfen - und brannte seine Station nieder. Heute gibt es dort nur noch einige Messstationen, die im antarktischen Sommer abgelesen werden. Ansonsten siedeln dort die Eselspinguine.


Prof. Dr. Heribert Becher war Professor für Soziologie, sozialwissenschaftliche Methoden und Arbeitsweisen an der Fakultät für Soziales Arbeit der KU. Er ist seit 2003 im Ruhestand.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2008, Seite 30-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2008