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LAIRE/065: NASA verteilt Beruhigungspillen - Asteroid trifft die Erde nicht (SB)


Einschlag von Apophis "faktisch ausgeschlossen"

Genauere Berechnungen aber erst im Jahr 2029 möglich ...



"NASA schließt Einschlag des Asteroiden Apophis im Jahr 2036 auf der Erde aus", überschrieb die US-Weltraumbehörde eine Pressemitteilung vom 10. Januar dieses Jahres. [1] Diese Gewißheit muß erstaunen angesichts der hinlänglich bekannten Schwierigkeiten, solche Himmelsobjekte zu identifizieren und deren weiteres Bewegungsverhalten unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Einflußfaktoren präzise zu berechnen. Zwar hat sich die Himmelsmechanik generell als zumindest so zuverlässig erwiesen, daß Menschen Jahr und Tag danach richten, aber Restunsicherheiten bleiben und werden weggerechnet. Beim Takt der Zeit mag das funktionieren, bei der Berechnung eines möglichen Kollisionsobjekts mit der Erde könnte das schiefgehen.

Jedenfalls sollte man bei der Berechnung der Bahn des erst im Jahr 2004 entdeckten Asteroiden "99942 Apophis" nicht von Restunsicherheiten sprechen. Die NASA begründet ihre Gewißheit wohl eher mit einem Rest an Sicherheit. Daß die Unsicherheit eigentlich überwiegt, wird klar, wenn man die Pressemitteilung bis zum Ende liest. Und es wird noch klarer, wenn man die Oberfläche auch nur ein bißchen tiefer ankratzt und Fachliteratur zu Rate zieht.

Der Asteroid Apophis hatte vor einigen Jahren weltweite Medienaufmerksamkeit erregt, weil laut den ersten Berechnungen eine Einschlagwahrscheinlichkeit für die Erde im Jahr 2029 von 2,7 Prozent bestand. Für 2036 galten die Chancen sogar als noch "günstiger". Inzwischen liegen weitere Messungen aus den Jahren 2011 und 2012 sowie vom 9. Januar 2013 vor, als Apophis im Abstand von 14,5 Millionen Kilometern an der Erde vorbeiflog. Die Gelegenheit hatten sich die NASA-Forscher natürlich nicht entgehen lassen und haben Daten von verschiedenen Quellen, wie dem New Mexico Institute of Mining and Technology, den Observatorien der Universität von Hawaii (Pan-STARRS) und dem Goldstone Solar System Radar herangezogen. Zudem hatte die Europäische Weltraumagentur (ESA) das Weltraumteleskop "Herschel" auf das Objekt ausgerichtet und diverse Messungen durchgeführt.

Die Herschel-Daten zeigen, daß Apophis etwa 20 Prozent größer ist als bislang angenommen und eine um 75 Prozent größere Masse besitzt. Demnach hätte das Objekt einen Durchmesser von 325 Metern. Die deutliche Korrektur der Daten nach oben trägt natürlich nicht zur Beruhigung bei. Zur Verteidigung der Forscher muß allerdings gesagt werden, daß sie von Anfang an erklärt haben, daß erst die Messungen in den Jahren 2011, 2012 und Anfang 2013 genauere Erkenntnisse über Apophis liefern werden. Zwischenzeitlich befand sich das Objekt entweder zu nah an der Sonne und war dadurch für optische Teleskope nicht erfaßbar, oder zu weit von der Erde entfernt, um ihm mit der Radarantenne des Arecibo-Observatoriums auf die Pelle zu rücken.

Nun liegen genauere Daten vor. Doch sind sie der letzte Stand? Oder könnte sich noch alles umkehren und die Wahrscheinlichkeit wieder zunehmen, daß das Objekt auf der Erde einschlägt? Die Überschrift der Presseerklärung schließt so eine Möglichkeit aus - die Stellungnahme im Text tut dies jedoch nicht.

Den Berechnungen der NASA zufolge wird Apophis am Freitag, den 13. April 2029, in einem Abstand von 31.300 Kilometern an der Erde vorbeifliegen. Laut der ESA wird der Abstand 36.000 Kilometer betragen. In beiden Fällen würde er in den Bereich eindringen, in dem geostationäre Satelliten positioniert sind. Die Differenz der Berechnungen beträgt somit 4.700 Kilometer. Das ist nicht zu vernachlässigen.

Zwar ist es unstrittig, daß exakte Bewegungsberechnungen von Asteroiden kompliziert sind, da sich diese niemals auf idealen Keplerellipsen bewegen - Astronomen rechnen deshalb mit Annäherungswerten (Oskulation) -, dennoch ist festzustellen: Wenn zwei Forschergruppen in einer so wichtigen Frage wie die, ob die Erde von einem mehrere hundert Meter großen, sich rasend schnell bewegenden Objekt getroffen werden könnte, unterschiedliche Ergebnisse präsentieren, zeigt sich allein darin ein größeres Maß an Unsicherheit, als es offenbar der Öffentlichkeit glauben gemacht werden soll.

Nach dem jüngsten Vorbeiflug des Asteroiden an der Erde gibt Don Yeomans, Leiter des Near-Earth Object Program Office am Jet Propulsion Laboratory der NASA, eine Einschlagwahrscheinlichkeit für das Jahr 2036 mit eins zu einer Million an. "Das macht es uns angenehm zu sagen, daß wir einen Einschlag auf der Erde im Jahr 2036 faktisch ausschließen können", erklärte er [1]. Das Interesse an der Erforschung des Asteroiden bleibe aber auf absehbare Zeit bestehen.

Eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million - bei einer so günstigen Quote würden den Verkäufern an den Lotto-Annahmestellen die Tippscheine nur so aus der Hand gerissen! Die Chance auf sechs Richtige aus 49 Zahlen liegt bei 1 zu 15 Millionen. Zugegeben, solche Vergleiche sind problematisch, denn viele Menschen spielen ihr Leben lang Lotto, ohne jemals Millionär zu werden. Umgekehrt gilt aber auch, daß es allein in Deutschland mehrere tausend Lotto-Millionäre gibt (oder zumindest für kurze Zeit gegeben hat).

Nach Einschätzung von Lotto-Spielern rund um den Globus besteht zweifelsohne ein wichtiger Unterschied zwischen einer Gewinnchance von "eins zu einer Million" und "ausgeschlossen". Für Yeomans offenbar nicht. (Wobei es interessant wäre zu erfahren, ob er jemals an einer Lotterie teilgenommen hat, wenn doch ein Millionengewinn faktisch ausgeschlossen sein soll ...)

Apropos Lotto: Am 15. Februar wird ein vermutlich 46 Meter dicker Felsbrocken mit der Bezeichnung 2012 DA14 in einer Geschwindigkeit von 12,73 Kilometern pro Sekunde in einem Abstand von etwa 24.000 Kilometern an der Erde vorbeirasen. Jenes Objekt war erst im vergangenen Jahr entdeckt worden. Zur Erinnerung: Die Erde hat einen Durchmesser von 13.000 Kilometern.

Zu den Voraussetzungen der Berechnung des wahrscheinlichen Bahnverlaufs von Apophis gehört, daß die Wissenschaftler den ständigen Druck auf das Objekt durch den Sonnenwind kennen. Außerdem müssen sie über seine Rotationsgeschwindigkeit, seine Drehachsen, seine Masse (abhängig nicht zuletzt von der inneren Beschaffenheit) sowie über das Verhältnis von Reflexion und Absorption Bescheid wissen. Keineswegs ausgeschlossen ist auch, daß das Objekt im Jahr 2029 durch die Gravitationskräfte der Erde "geophysikalisch" deformiert wird. Verformung hätte aber einen anderen Bahnverlauf zur Folge als den ursprünglich berechneten.

Der NASA zufolge wird der Asteroid Apophis die Erde sicher verfehlen. (Nebenbei gefragt: Und was ist mit dem Mond?) Demnach müßten die Forscher die Gravitationseinflüsse von Sonne, Mond, extraterrestrischen Planeten, anderen größeren Asteroiden und schließlich auch des Erde-Mond-Systems, das das Objekt im Jahr 2029 durchquert, zuverlässig berechnen können. Letzteres wird zusätzlich dadurch erschwert, daß das irdische Gravitationsfeld nicht einheitlich aufgebaut ist. Je nachdem, wo Apophis in das System eindringt, würde er verschieden gebremst, beschleunigt oder aus der Bahn gelenkt. Das läßt sich aber erst nach dem Jahr 2029 mit größerer Genauigkeit berechnen. Heute weiß man dazu noch sehr wenig und ist auf Schätzwerte angewiesen. Die Schätzungen hängen jedoch wiederum von dem ab, der sie vornimmt und welchen Neigungen er den Zuschlag gibt.

Vor fünf Jahren schrieb eine Forschergruppe um J. D. Giorgini in einem Fachaufsatz im Journal "Icarus", daß lineare Gleichungen für die Berechnung der Apophis-Bahn ab dem Jahr 2029 "nicht mehr länger eine akzeptable Genauigkeit" haben [2]. Um dennoch weiterrechnen zu können, haben die Forscher für die Zeit ab 2029 eine "Monte-Carlo-Methode" verwendet. Bei dieser Methode wurden 10.000 Bahnverläufe simuliert, die anschließend miteinander verrechnet wurden und Wahrscheinlichkeitswerte ergaben.

Bleibt zu wünschen, daß unser Lotto-Sechser nicht ausgerechnet eines der herausgerechneten, geglätteten oder auf andere Weise dem mathematischen Ordnungssystem zum Opfer gefallenen Einzelereignisse treffen wird. Jedenfalls wecken Erklärungen wie die folgende aus der wissenschaftlichen Studie Giorginis nicht unbedingt das Vertrauen in die Behauptung der NASA, daß Apophis die Erde verfehlen wird: "Obwohl es nicht sicher war, auf welcher Seite der Sonne Apophis im Jahr 2036 sein wird, befand sich das neue Zentrum der Wahrscheinlichkeitsregion am 13. April nur zwei Mond-Erde-Abstände von der Erde entfernt." [2] Übrigens kamen in jenem Fachaufsatz die Wörter "uncertain", "uncertainty" und "uncertainties" (unsicher, Unsicherheit, Unsicherheiten) 104 Mal vor. Somit wurde im statistischen Durchschnitt auf jeder Seite mindestens fünfmal allein durch diese Wortwahl die Unsicherheit der Forscher zum Ausdruck gebracht.

Im Grunde genommen müßte sich die NASA über die vielen Probleme im klaren sein. Denn wenn nicht die Experten, wer sonst? Zu den verschiedenen potentiellen Einwirkungen auf die Bahn von Apophis wurden bereits Fachaufsätze geschrieben oder befinden sich noch in Arbeit. Die Forscher selbst sprechen ihre Schwierigkeiten, exakte Prognosen zu treffen, durchaus an, und berichten stets von meßtechnischen und analytischen Unwägbarkeiten.

Davon bleibt in der Presseerklärung nicht mehr viel übrig. Lediglich in einer Zusammenfassung der NASA zum Thema Apophis werden einige weitergehende Fragen angedeutet. [3] Wie problematisch und folgenschwer die Berechnungen sind, veranschaulicht die NASA dort an einem Beispiel: Die Forscher hatten im Jahr 2007 in ihren Berechnungen festgestellt, daß die Sonnenenergie eine Positionsverschiebung von Apophis zwischen 20 und 740 Kilometer im Laufe der nächsten 22 Jahre, also bis zu dem Zeitpunkt, da der Asteroid der Erde sehr nahe kommen wird, bewirken kann. Doch nur sieben Jahre später sei jener Effekt auf eine Abweichung von 520.000 bis 30 Millionen Kilometer angewachsen. [3] Darüber hinaus, so berichten die Forscher freimütig, können selbst "kleine Unsicherheiten hinsichtlich der Masse und Position der Planeten und der Sonne" eine Bahnabweichung von Apophis bis zum Jahr 2036 um bis zu 23 Erdradien zu den Vorhersagen bewirken.

Eine klare Aussage der NASA - doch wo ist diese Unsicherheit geblieben? Konnte sie allein aufgrund der Beobachtungen des unlängst mindestens 14,5 Mio. Kilometer an der Erde vorbeirasenden Objekts ausgeräumt werden? Wie das, wenn doch erst in 16 Jahren bahnbrechende Einflüsse eintreten werden? Fragen, die angesichts dieser potentiellen Gefahr für große Teile der Menschheit, nicht ignoriert werden sollten.

Der Asteroid Apophis hat seinen Namen übrigens nach einer Figur aus der TV-Serie "Stargate" erhalten. Bei dieser Figur handelt es sich um die ägyptische Gottheit Apophis, welche für die Erde und die Menschheit nur Übles im Sinn hatte und für manch überraschende Wendungen der Ereignisse gut war ....


Fußnoten:

[1] http://www.nasa.gov/mission_pages/asteroids/news/asteroid20130110.html

[2] http://neo.jpl.nasa.gov/apophis/Apophis_PUBLISHED_PAPER.pdf

[3] http://neo.jpl.nasa.gov/apophis/

24. Januar 2013