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FORSCHUNG/653: Plasmaphysik - An den Grenzen der Materie (eu*research)


research*eu - Nr. 61, Juli 2009
Magazin des Europäischen Forschungsraums

An den Grenzen der Materie

Von Julie Van Rossom


Es stellt 99 % der bekannten sichtbaren Materie dar. Es erobert unsere Wohnzimmer, verändert die Kunststoffe und revolutioniert die Analysewerkzeuge der Labors. Plasma: Objekt zahlreicher Forschungen und Grundlage für viele Anwendungen.


Im Gegensatz zum Weltraum, dessen sichtbarer Teil im Wesentlichen aus Plasma besteht, kommt es auf der Erde eher selten vor. Als vierter Aggregatzustand der Materie bildet es die Grundlage für die unglaubliche Energie, die von der Sonne und den Sternen freigesetzt wird. Auf der Erde zeigt sich Plasma in Blitzen und erzeugt Phänomene wie die Nordlichter oder das Elmsfeuer, von denen bereits unsere Vorfahren fasziniert waren (siehe Kasten).

Die Beherrschung der Plasmen hat zunächst zu den Leuchtstoffröhren und vor nicht allzu langer Zeit zu den extra großen und flachen Plasmabildschirmen geführt (siehe Kasten). Das ist aber noch lange nicht alles, denn dank industrieller Labors stehen die Plasmen jetzt an der Spitze von Analysetechnologien und Herstellungsverfahren. Doch was ist Plasma eigentlich?


Wenn Physik mit Mythen einhergeht

Bei Sturm sahen die Seeleute früher oft ein helles Leuchten an den Spitzen der Schiffsmaste. Dieses Elmsfeuer genannte Phänomen wurde früher als ein göttliches Zeichen angesehen, doch in Wirklichkeit ist es ein Beispiel für die natürliche Bildung von Plasma. Vor einem Gewitter lädt sich die Luft elektrisch auf und da ein elektrisches Feld dazu neigt, sich um spitze Objekte herum anzusammeln, reicht das Potenzial dann aus, um die Umgebungsluft zu ionisieren und das für das Elmsfeuer charakteristische schwache bläuliche oder violette Leuchten zu erzeugen.

Plasmen sind auch die Ursache des Nordlichts. Nordlichter werden durch magnetische Stürme von der Sonne verursacht, die einen Strom von geladenen Teilchen bilden und mit den Atomen der Ionosphäre zusammenprallen. Je nach Höhe bildet sich dann Stickstoffplasma, Sauerstoffplasma oder auch Wasserstoffplasma.

Vor nicht allzu langer Zeit konnten die Forscher beobachten, dass bei Blitzentladungen in den höheren Schichten der Atmosphäre Plasmen entstehen, deren Lebensdauer maximal fünf Millisekunden beträgt. Je nach Typ gaben sie ihnen Namen: Elfen, Kobolde, rote Sylphen. Das Experiment Lightning and Sprites Observations der Internationalen Weltraumstation ISS versucht die Ursachen dieser kurzlebigen Phänomene noch eingehender zu ergründen.
www.esa.int


Ein Porträt mit vielen Gesichtern

Erinnern Sie sich: Die Aggregatzustände der Materie werden durch die zwischen den Atomen herrschenden Kohäsionskräfte bestimmt. Nicht die Atome selbst sind flüssig, fest oder gasförmig, sondern die Gesamtheit der Struktur, die sie bilden. Die meisten festen Stoffe werden flüssig oder auch gasförmig, wenn durch Einwirkung einer Energiequelle ausreichend Energie zugeführt wird.

Der Plasmazustand befindet sich auf der obersten Stufe. Die Energie, die der Materie zugeführt wird, ist so hoch, dass bestimmte Atome ihre Struktur auflösen und ein oder mehrere Elektronen verlieren. Diese freigesetzten Elektronen prallen dann mit anderen Atomen oder Molekülen zusammen und geben an diese Energie ab, wodurch Elektronen von einer Umlaufbahn auf die nächste angehoben werden. Sobald diese Elektronen wieder auf ihren ursprünglichen Platz zurückfallen, setzen sie Energie etwa in Form von Photonen frei. Diese sind auch die Ursache für das charakteristische Leuchten von Plasmen. Ionen sind elektrisch geladene Atome, die ein oder mehrere Elektronen verloren oder gewonnen haben. Auch sie können mit anderen Molekülen oder Atomen zusammenstoßen, wodurch die allgemeine Unordnung entsteht, die für ein Plasma charakteristisch ist.

Kurz, das Plasma ist ein ionisiertes Gas. Und da die Atome dieses Gases keine Elektronen freisetzen, stellt das Plasma eine konfuse Masse aus Molekülen, Atomen, Ionen und Elektronen dar. Der Vorteil dieser vielförmigen Gestalt der Materie ist, dass sie eine hervorragende Leit- und Reaktionsfähigkeit besitzt, weil ihre geladenen Teilchen mit einem elektrischen Feld reagieren und sich mit anderen Stoffen überlagern können, wodurch sie ihre Struktur und ihre Eigenschaften verändern.


Heiß oder kalt genießen

Es gibt zwei Formen von Plasmen, die je nach Ionisationsgrad miteinander existieren: heiße Plasmen und kalte Plasmen. "In einem heißen Plasma nehmen die Elektronen so viel Energie aus dem elektrischen Feld auf, dass sie diese in den unzähligen Zusammenstößen mit anderen Bestandteilen des Plasmas wieder abgeben können. Das macht sich in einer sehr viel größeren Wärmeentwicklung bemerkbar", erklärt Riccardo d'Agostino, Chemieprofessor an der Universität Bari (IT) und Mitherausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift Plasma Processes and Polymers.

Diese Form kann die Temperatur der Sonne erreichen, deren Plasma aufgrund der Fusion von Wasserstoffatomen in ihrem Zentrum bei 10 Millionen Grad brodelt. Seit der Entdeckung der Kernfusion in den 1930er Jahren ist der Mensch begierig auf der Suche nach Mitteln, um die Sternenenergie unter seine Kontrolle zu bringen. Auf der Seite der militärischen Forschung hat dieses mächtige Prinzip zur Entwicklung der Wasserstoffbombe geführt, die bisher glücklicherweise noch nie in einem bewaffneten Konflikt eingesetzt wurde. In der zivilen Forschung stehen die Fusionsplasmen im Mittelpunkt einer noch nie da gewesenen wissenschaftlichen Anstrengung, die der Menschheit in erster Linie eine umweltfreundliche und unerschöpfliche Energiequelle liefern soll: ITER(1), ein immenses internationales Forschungsprojekt, dessen Ziel der Bau des ersten experimentellen Fusionskraftwerks ist.

Theoretisch ist das Prinzip einfach: Wenn zwei leichte Atomkerne miteinander verschmelzen, kann der entstehende Kern erst dann einen stabilen Zustand erreichen, wenn Partikel freigesetzt und überschüssige Energien abgegeben werden. Bei der Fusion der beiden Wasserstoffisotope Deuterium (D) und Tritium (T), die ein bzw. zwei Neutronen besitzen, werden ein Heliumkern (zwei Protonen und zwei Neutronen) und ein schnelles Neutron freigesetzt. Man versucht vor allem diese kinetische Energie zu nutzen.


Das Geheimnis der Sterne enthüllen

Doch die Praxis ist weitaus schwieriger als die Theorie. Zunächst einmal erreicht das Fusionsplasma eine Temperatur, die kein Material aushalten kann. "Deshalb wird es in einem Tokamak, einem riesigen zylinderförmigen Ring mithilfe eines starken Magnetfelds eingeschlossen, sodass das Plasma die Innenwände nicht berühren kann", erklärt Phil Morgan, Plasmaphysiker am Joint European Torus (JET), dem größten Versuchstokamak der Welt, der sich im Culham Science Centre (UK) befindet. Am JET werden die meisten Versuche vor der Inbetriebnahme des ITER durchgeführt.

Eine weitere technische Herausforderung ist die Aufheizung des Deuterium-Tritium-Gemischs auf über 100 Millionen Grad Celsius. Bei dieser Temperatur geht es in den Plasmazustand über, also in den Zustand, in welchem die erzeugte Wärme für eine von selbst laufende Fusionsreaktion ausreicht." Um diese Temperaturen zu erreichen, werden mehrere Techniken miteinander kombiniert", erläutert Phil Morgan. "In der ersten Phase wird ein elektrischer Strom durch das Brennstoffgemisch geleitet, um die geladenen Teilchen anzuregen, die sich miteinander verbinden und dabei Wärme erzeugen. Doch je höher die Temperatur steigt, umso schwächer wird die Reaktion und eine Aufheizung ist notwendig. Dabei werden neue Partikel injiziert, die mit den Plasmapartikeln zusammenprallen und dadurch Wärme erzeugen. Schließlich wird das Plasma sehr hohen Frequenzen ausgesetzt, wodurch die optimale Fusionstemperatur erreicht wird."

Fusionsplasmen haben ein gewaltiges Potenzial. Das sei so groß, wie Riccardo d'Agostino betont, dass es die Anwendungen anderer heißer Plasmen oft verdecke. "In der industriellen Fertigung werden sie zum Schneiden empfindlicher Werkstoffe, so bei Keramik, eingesetzt, und in der analytischen Chemie bilden sie das Fundament einer wahren Revolution. So erlaubt ein Plasmabrenner mittels induktiv gekoppeltem Plasma (Inductively Coupled Plasma - ICP) die Analyse einer Probe im atomaren Maßstab und gleichzeitig die Bestimmung praktisch aller Elemente, aus denen sie besteht."


Von den Nanotechnologien...

Doch die wahre Revolution kommt zweifellos aus der Richtung der kalten Plasmen. die wegen ihrer niedrigeren Temperaturen einfacher zu handhaben sind. Man nutzt ihre Reaktionsfähigkeit aus, um Materialeigenschaften zu verändern. "Zunächst konnte kaltes Plasma nur bei sehr niedrigen Drücken geschaffen werden, was die Nutzung manchmal sehr teuer machte, weil man das Material in einen Behälter mit sehr niedrigem Druck leiten musste", erklärt Riccardo d'Agostino. "Doch seit rund einem Jahrzehnt können diese auch bei Normaldruck hergestellt werden und so werden sie auch in der Industrie immer häufiger eingesetzt. Sie ersetzen etwa die Chemikalien, die bisher zur Behandlung von Kunststoffteilen an Fahrzeugen eingesetzt wurden, damit diese lackiert werden können. Deshalb sieht man heutzutage auch lackierte Stoßdämpfer."

In den Labors faszinieren kalte Plasmen die Nanotechnologen, denn mit ihrer Hilfe ist es möglich, Nanomaterialien mit spezifischen Eigenschaften herzustellen. An dieser Technik sind vor allem die Forscher von Nano²Hybrids interessiert. Dieses europäische Projekt befasst sich mit der Entwicklung von Gassensoren im Miniaturformat aus Kohlenstoffnanoröhrchen. "Angesichts der schwachen Eigenschaften des Kohlenstoffsensors befestigen wir mithilfe kalter Plasmen metallische Nanopartikel auf der Oberfläche", erklärt Francois Reniers, Direktor des Labors für allgemeine Chemie der Freien Universität Brüssel (Université Libre de Bruxelles - ULB) (BE), einem Partner von Nano²Hybrids. "Dabei kommen verschiedene Techniken zum Einsatz. An der ULB und am Forschungszentrum Gabriel Lippmann (Centre de Recherche Public Gabriel Lippmann, LU) arbeiten wir mit Normaldruckplasmen, während unsere Kollegen an der Universität Namur (BE) die Effizienz des Aufbringens bei Niederdruck untersuchen. Man will die beste Methode zur Funktionalisierung von Nanoröhrchenoberflächen ermitteln. Dazu werden verschiedene Parameter verändert: Gaszusammensetzung, Druck, Expositionszeit oder der Typ der Metallpartikel."


... zu den biomedizinischen Wissenschaften

Andere Forscher versuchen medizinische Instrumente mithilfe von Plasmen zu sterilisieren. Mit dieser Technik befassen sich die Teilnehmer am europäischen Projekt Biodecon (Decontamination of biological systems using plasma discharges), das Anfang 2009 abgeschlossen wurde. Biodecon hat die Machbarkeit der Sterilisierung medizinischer Instrumente mithilfe von Plasmen und ihre Vorteile nachgewiesen, denn die traditionellen Methoden wie die Behandlung mit ultravioletter Strahlung, hohen Temperaturen oder auch mithilfe chemischer Substanzen sind zwar zwingend notwendig, schädigen oft auch das medizinische Material. Und manchmal sind sie einfach nur wirkungslos. Das ist bei der UV-Bestrahlung der Fall, wenn sich Bakterien auf einem Biofilm ansammeln und mehrere Millimeter starke Keimtrauben bilden. Aber auch bei der Zerstörung von Prionen - Molekülen, die die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit verursachen - ist dies unabhängig von der Sterilisierungsmethode der Fall.

"Die Sterilisierung mit kaltem Plasma könnte nicht nur traditionelle Verfahren vereinfachen, sondern ihre Wirksamkeit auch erhöhen", erklärt Achim von Keudell, Koordinator von Biodecon für das Institut für reaktive Plasmen der Ruhr-Universität Bochum (DE). "Wasserstoffplasma wirkt auf Biofilme weitaus stärker und zerstört alle Biomoleküle, einschließlich Prionen, wobei das Risiko der Instrumentenschädigung weitaus geringer als bei herkömmlichen Methoden ist."

In der Grundlagenforschung untersuchen andere Wissenschaftler, wie sich Plasmen auf lebendes Gewebe auswirken. "Die Forscher arbeiten am Einsatz von kalten Plasmen für die Wunddesinfizierung oder sogar für die Zahnsteinentfernung", unterstreicht Achim von Keudell. "In der Zukunft könnten Plasmen sogar bei der Behandlung bestimmter Krebsformen eingesetzt werden", begeistert sich Riccardo d'Agostino. "Doch das bleibt sehr hypothetisch, weil wir noch keine Vorstellung davon haben, wie sich Plasmen auf Gewebe auswirken", stellt Achim von Keudell klar. Eines ist jedoch sicher: Noch wurden Plasmen nicht erschöpfend erforscht.

Julie Van Rossom(2)

Anmerkungen
(1) Siehe: "Wenn ITER aus der Erde wächst", Seite 14.
(2) Ein herzlicher Dank geht an Dr. chem. Nicolas Vandencasteele, Forscher an der ULB.


Plasma und Fernsehen

Die Einführung der Plasmafernseher Ende der 1990er Jahre versetzte den guten alten Bildröhren den Todesstoß. Ab jetzt gibt es den kleinen, diskret auf einem Möbelstück platzierten Fernseher nicht mehr. Er thront jetzt raumeinnehmend inmitten des Wohnzimmers und zieht alle Blicke auf sich.

Diese Riesenbildschirme setzen sich aus Hunderttausenden winziger Zellen zusammen, die an Elektroden angeschlossen sind. Jede Zelle enthält ein Argon-Xenon-Gemisch im Verhältnis 9:1. Wenn die Elektroden aktiviert werden, wird dieses Gemisch ionisiert und es bildet sich ein Plasma. Im Plasmazustand senden die von dem Argon-Xenon-Gemisch ausgestrahlten Photonen ein ultraviolettes Licht aus. Der vordere Bereich jeder Zelle ist mit Luminophor bedeckt, einer Substanz, die bei Kontakt mit UV-Licht nachleuchtet und je nach ihrer funktionellen Bestimmung entweder in Blau, Rot oder Grün strahlt.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Plasmakugeln wie diese werden auf der pädagogischen und experimentellen Messe Microcosme vorgeführt. Diese ständige Ausstellung wurde von CERN in Genf eingerichtet.

1 Mithilfe von Niederdruck hergestelltes Sauerstoffplasma.
2 Niederdruck-Plasmakammer - Mithilfe von Plasmabehandlungen wird die Oberfläche von Kohlenstoffnanoröhrchen
   durch das Anbringen von Sauerstoffgruppen reaktionsfreudiger gemacht. Dadurch kann die Größe und Verteilung
   der metallischen Nanoteilchen auf der Oberfläche der Nanoröhrchen gesteuert werden.
3 Normaldruck-Plasmareaktor während des Betriebs in der Abteilung für Materialwissenschaft und -analyse am
   Forschungszentrum Gabriel Lippmann in Luxemburg.
4 Einer der Plasmabrenner, die von den Forschern der Freien Universität Brüssel im Rahmen des
   Nano²Hybrids-Projekts eingesetzt werden. Diese Arbeitsgruppe versprüht metallische Nanoteilchen auf
   Kohlenstoffnanoröhrchen, die einem Plasma (blauer Schimmer) ausgesetzt sind.


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Quelle:
research*eu - Nr. 61, Juli 2009, Seite 26 - 28
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2009
Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
GD Forschung der Europäischen Kommission
Chefredakteur: Michel Claessens
Redaktion: ML DG 1201, Boîte postale 2201, L-1022 Luxembourg
Telefon: 0032-2/295 9971, Fax: 0032-2/295 8220
E-Mail: research-eu@ec.europa.eu
Internet: http://ec.europa.eu./research/research-eu

research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2009