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INTERVIEW/010: Die DPG stellt vor - Schwingungen und Perspektiven ...    Prof. Dr. Klaus Fredenhagen im Gespräch (SB)


Die Grenzen der Physik ausloten

Frühjahrstagung der Sektion Materie und Kosmos (SMuK) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom 13. - 17. März 2017 an der Universität Bremen

Prof. Fredenhagen über Teilchen, die nie in Ruhe sind, das Vakuum, das nicht leer ist, und die nicht ganz so weit entwickelte Fähigkeit des Menschen, etwas Gutes aus den Sachen machen, die er erfindet ...


Montagmorgen um halb neun in Bremen. Tag eins der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Eigens als "Pressetipp" ausgewiesen: Tutorium in theoretischer Physik. Überschrieben mit: "Wie kann man komplizierte Dinge in der Physik möglichst verständlich erklären?" Hörte sich vielversprechend an. Ein Schnellkurs in dem, was man sein Leben lang nicht verstanden hat und einem stets viel zu mühsam war, als daß man sich genügend tief reingekniet hätte, um es zu lernen. Bestens. Sozusagen ein Becher voll "Physics to go", Physik zum Mitnehmen ...

Viereinhalb Stunden später. Erkenntnis. Der erste Teil der Ankündigung traf zu, manche Dinge in der Physik sind "kompliziert", definitiv. Auch der zweite Teil, diese Dinge "möglichst verständlich" zu erklären, kam schon hin. Man konnte es den drei Referenten, Domenico Giulini (Institut für theoretische Physik, Leibniz Universität Hannover, und Zentrum für Angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation), Martin Ammon (Theoretisch-Physikalisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena) und Klaus Fredenhagen (II. Institut für Theoretische Physik, Universität Hamburg) nicht absprechen, ausreichend Mühe an den Tag gelegt zu haben, sich "möglichst" verständlich zu machen. Indes bewegten sich die Ausführungen und längeren Diskussionen im Anschluß von vornherein auf einem recht hohen Niveau.

Die 45minütigen Vorträge gingen um "Globale versus lokale Strukturen von Raumzeiten" (Giulini), "Das holographische Prinzip - von Schwarzen Löchern & Verschränkung zur Quantenfeldtheorie" (Ammon) und "Quantenfeldtheorie in gekrümmten Raumzeiten" (Fredenhagen). Letztgenannter hatte seinen Vortrag mit dem Abstract angekündigt:

"Die konventionelle Formulierung der Quantenfeldtheorie, wie man sie in den meisten Lehrbüchern findet, beruht sehr stark auf der Poincaré-Symmetrie des Minkowskiraums. Um aber den Einfluss von Gravitationsfeldern berücksichtigen zu können, muss der Minkowskiraum durch eine gekrümmte Raumzeit ersetzt werden, die im allgemeinen keine nichttrivialen Symmetrien besitzt."

Und weiter: "Es zeigt sich, dass die algebraische Formulierung der Quantenfeldtheorie, wie sie bereits in den 1960er Jahren entwickelt worden ist, sich besonders gut für eine Formulierung auf generischen Raumzeiten eignet. Die Symmetrie wird dabei durch eine Kovarianzbindung ersetzt, die die Theorie auf verschiedenen Raumzeiten miteinander verbindet. Zusammen mit einer lokalen Form der positiven Energiebedingung bildet diese Formulierung, die als lokal kovariante Quantenfeldtheorie bezeichnet wird, einen geeigneten Rahmen für die Quantenfeldtheorie unter dem Einfluß äußerer Gravitationsfelder. Dieser kann auch als Ausgangspunkt für eine störungstheoretische Quantengravitation dienen." [1]

Physics to go? Ein Irrtum. Dieses Abstract ist für Laien sicherlich schwerverdaulicher Stoff. Dennoch muß die beiderseitige Bemühung, trotz aller Abstraktion, fachsprachlicher Begrifflichkeiten und zahlreicher unerwähnter theoretisch physikalischer und mathematischer Voraussetzungen dieser Vortragsankündigung eine gemeinsame Sprache von Fach- und Alltagswelt zu finden, nicht ergebnislos bleiben. Unter anderem darum geht es in dem folgenden Interview, das Prof. Fredenhagen im Anschluß an seinen Vortrag dem Schattenblick gegeben hat.


Porträt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Prof. Dr. Klaus Fredenhagen
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie haben als theoretischer Physiker auch am Deutschen Elektronensynchrotron, DESY, gearbeitet. Wie kann man sich Ihre Arbeit dort vorstellen?

Prof. Dr. Klaus Fredenhagen (KF): Zunächst einmal habe ich als Professor der Theoretischen Physik an der Universität Hamburg gearbeitet. Mein Zusammenhang mit DESY war nur der, daß mein Büro auf dessen Gelände liegt. Das bedeutet natürlich, daß wir viel Kontakt mit DESY-Mitarbeitern hatten. Die Einrichtung hat auch eine eigene Theoriegruppe, mit der wir eng zusammenarbeiten. Aber meine Tätigkeit als Professor für theoretische Physik war wesentlich die, daß ich Vorlesungen gehalten und Studenten betreut habe und ähnliches mehr. Die Forschungstätigkeit eines Theoretikers besteht darin, daß man über Probleme nachdenkt und sie versucht zu lösen.

SB: Wenn theoretische Physiker mit Experimentalphysikern zusammenarbeiten, wie sieht so eine Zusammenarbeit aus?

KF: Hier muß man zwischen verschiedenen Bereichen der Theorie unterscheiden. Mein Bereich war mehr die mathematische Physik. Ich habe weniger mit Experimentalphysikern Kontakt gehabt als mit Mathematikern. Es gibt auch Theoretikerkollegen, die enger mit den Experimentalphysikern zusammenarbeiten und dann beispielsweise deren Daten anschauen und interpretieren. So etwas machen Kollegen von mir, die sogenannten Phänomenologen. Sie beschäftigen sich mit der Phänomenologie der Elementarteilchen. Heutzutage hat man ja gute Theorien zur Verfügung, und die Phänomenologen machen Berechnungen innerhalb dieser Theorien und vergleichen das dann mit den Daten der Experimentalphysiker. Außerdem gibt es Bereiche, wo die Theorie noch nicht so gut ist, da werden dann Modellvorstellungen entwickelt, mit denen man diese Daten beschreiben kann.

Zum Beispiel hat man in der Hochenergiephysik die Felder des Standardmodells mit Gluonen, Quarks und so weiter. Die sieht man nicht asymptotisch, das heißt, der Detektor sieht weder Quarks noch Gluonen. Da gibt es dann jedoch die sogenannte Hadronisierung. Man stellt sich das so vor, daß in einem Stoßprozeß erst einmal Quarks zu Gluonen kollidiert sind und neu entstehen, sich dann aber durch andere Prozesse in Hadronen umwandeln, die man in Detektoren beobachten kann. Den Prozeß der Umwandlung dieser elementaren Anregung der Gluonen oder Quarks in Hadronen, den kann die Theorie bisher nicht beschreiben. Im Wesentlichen zieht man aus den Daten, die man hat, Rückschlüsse auf diesen Prozeß. Aber, wie gesagt, damit habe ich selbst gar nichts zu tun, das machen Kollegen von mir.

SB: Habe ich das richtig verstanden, daß die Gluonen Bestandteil der Theorie sind?

KF: Die sind ein Bestandteil der Theorie, man sieht sie sozusagen nicht direkt, sondern nur indirekt. Da tut sich eine große Lücke auf, denn man versteht den Prozeß, wie sich die zunächst entstandenen Gluonen oder Quarks in Hadronen umwandeln, theoretisch nicht gut genug. Das hängt damit zusammen, daß man die dafür relevanten Teile des Standardmodells - das ist die Quantenchromodynamik - faktisch nur bei sehr kurzen Abständen kennt. Und "sehr kurz" heißt klein verglichen mit dem Radius eines Protons. Ein Proton ist demgegenüber schon riesig!

Bei den Abständen, das ist dann ungefähr ein Fermi, versagt die Theorie bereits. Bei einem Zehntel Fermi geht sie noch ganz gut, vielleicht auch bei einem Hundertstel Fermi, aber bei einem Fermi versagt die Theorie, das heißt, dieser Teil ist dann nur Empirie. An der Stelle hat man in den letzten rund 30 Jahren nur wenige Fortschritte erzielt. Das geht nur sehr langsam voran.

SB: Wenn die theoretischen Physiker mathematische Formeln schreiben, die eine neue Theorie ausdrücken, wie kommt es dann von der Formelsprache zu Alltagssprache, in der dann beispielsweise von Wurmlöchern, dunkler Materie und anderen bildhaften Begriffen die Rede ist?

KF: Das ist in der Physik vielleicht extremer als in anderen Wissenschaften, aber das Problem gibt es wohl überall. Um in der Wissenschaft etwas zu beschreiben, muß man neue Konzepte entwickeln. Und für diese Konzepte gibt es keine Worte in der Alltagssprache, es gibt sozusagen keine wirkliche Übersetzung. Wenn man versucht, das in Alltagssprache zu beschreiben, muß man entweder das ganze Konzept erläutern, was de facto bedeutet, daß man sich professionell mit dem Thema beschäftigt, oder man vereinfacht das. Und dabei wird es natürlich immer etwas verfälscht. Wenn man Effekte der Quantentheorie umgangssprachlich erläutern möchte, benutzt man manchmal sehr vage Begriffe, die dann, sagen wir mal, ein bestimmtes Unverständnis bei den Zuhörern auslösen. Im "Spiegel" habe ich mal von geisterhaften oder spukhaften Wechselwirkungen gelesen.

SB: Das geht doch sicherlich auf Albert Einstein zurück oder nicht? [2]

KF: Natürlich, auch die Physiker haben sich darüber sehr gewundert, aber sie haben Konzepte entwickelt, mit denen man das verstehen kann - aber "verstehen" in dem Sinne, daß man dazu wirklich neue Konzepte gebraucht hat. Ich habe in meinem Vortrag klarzumachen versucht, daß das Konzept vom Teilchen viel schwieriger und längst nicht so universell ist, wie man vielleicht naiv denken könnte. Das Teilchen ist meiner Meinung nach ein typisches Beispiel dafür, daß Konzepte entwickelt werden, für deren Erklärung man zwar ursprünglich die Alltagssprache benutzt hat, aber die nachher etwas ganz anderes bedeuten.

SB: In der Alltagssprache ist Teilchen eindeutig: Man ergreift etwas, das aus Teilchen besteht und einen Widerstand bietet.

KF: Ja, genau. An so etwas denkt man beim Teilchen. Da stellt man sich irgendwelche Billardkugeln vor oder ähnliches. Aber der Begriff Teilchen ist eigentlich nicht das, was man in der Theorie wirklich hat. Es gibt die mathematischen Physiker, die dann versuchen, so einen Begriff mathematisch sehr präzise zu definieren. Es gibt andere Physiker, die weniger mathematisch arbeiten, die dann aber einen eher intuitiven Zugang dazu haben und wissen, daß man bestimmte Dinge nicht wörtlich nehmen darf. Es ist natürlich ein Problem, wenn der Laie sich damit beschäftigt und hört, wie etwas umgangssprachlich erläutert wird. Da besteht die Gefahr, daß er das wörtlich nimmt und somit falsch interpretiert.

SB: Bei Ihrem heutigen Vortrag sprachen Sie über Teilchen, die am Ereignishorizont nicht zu bestimmen sind, in der relativistischen Theorie dann doch wieder, und schlußfolgerten unter anderem daraus, daß es keinen ausgewiesenen Vakuumzustand gibt.

KF: Ja.

SB: Wie ist das zu verstehen? Gibt es aus Sicht der Quantentheoretiker kein Vakuum?

KF: (zögert) Ich neige dazu, ja zu sagen, um eine ganz einfache Antwort zu geben. Das müßte man natürlich etwas qualifizieren. Jedenfalls ist die Vorstellung des Vakuums als leerer Raum nicht verträglich mit dem, was wir über die Quantenfeldtheorie wissen. Vielmehr sagt die Quantenfeldtheorie aus, daß, selbst wenn es so etwas wie das Vakuum gibt - was für eine Theorie im Minkowskiraum [3] eine natürliche Struktur ist, die in vielen Beispielen auch richtig ist -, man das nicht als leeren Raum interpretieren darf.

SB: Heißt das, daß man das, was man in der Schule über Vakuum gelernt hat, streichen muß, da es ein zu einfaches Weltbild wiedergibt?

KF: Im Grunde geht man da auf sehr alte philosophische Diskussionen zurück, wir kennen das aus der klassischen griechischen Philosophie. Da gab es Philosophen wie Parmenides [4], die den Begriff des Vakuums abgelehnt haben, weil sie sagten, das sei in sich widersprüchlich. Was nichts ist, kann nicht sein, lautete in etwa das Argument. Das ist keine physikalische, sondern eine logische Schlußfolgerung.

Konkurrierend dazu bestand die Vorstellung, daß alles aus kleinen Teilchen aufgebaut ist. Die Physik ist lange Zeit in die Richtung gegangen, das Konzept vom leeren Raum, in dem es einzelne Teilchen gibt, zu propagieren. Meiner Ansicht nach geht die gegenwärtige Entwicklung in eine andere Richtung. Man sagt, eigentlich gibt es den leeren Raum gar nicht.

Ich will es Ihnen an einem Beispiel erklären. Wahrscheinlich haben Sie schon mal von der Nullpunktsschwingung beim Oszillator gehört. Die Unschärferelationen führen dazu, daß, wenn man ein Pendel durch einen harmonischen Oszillator beschreibt, kleine Auslenkungen bleiben. Das ist nie in Ruhe, das kann gar nicht in Ruhe sein. Es kann nicht gleichzeitig der Ort und der Impuls fest sein, sondern das schwankt immer ein bißchen. Das gleiche gilt für die Quantenfelder. Die können ebenfalls nicht null sein, sondern schwanken immer ein wenig. In meinen Vorträgen mache ich manchmal den Scherz, daß es für Leute, die Angst vor Elektrosmog haben, ein Problem sein muß, daß die elektromagnetischen Felder nie null sein können. Die Ursache dafür ist dieselbe wie bei der Nullpunktsschwingung beim harmonischen Oszillator.

SB: Sind die Quantenfelder eher eine Sache von Schwingungen?

KF: Ja, wenn man eine einfache Feldgleichung hat, dann verhalten diese sich wie eine Schwingung. Nur sind das dann so etwas wie unendlich viele gekoppelte, unendlich viele solcher Schwingungsfreiheitsgrade. Das führt dann auch zu diesen Divergenzen. Man hat dann die Nullpunktsenergie, aber für jeden Impuls, wenn man das alles aufsummiert, bekommt man unendlich raus. Das ist sozusagen eine der Schwierigkeiten in der Quantenfeldtheorie, daß eben viele dieser Konzepte zu Widersprüchen führen.

Diese Nullpunktsschwingungen hat man im sogenannten Kasimir-Effekt nachgewiesen. Den Effekt kann man an einem Plattenkondensator erkennen. Man stellt fest, daß zwischen den beiden Platten des Kondensators ein gewisser Anziehungseffekt auftritt, obschon überhaupt keine Ladungen vorhanden sind. Das wird auf die Fluktuation des elektromagnetischen Feldes zwischen den Platten zurückgeführt. Weil die Platten leitfähig sind, verändert das die Nullpunktsschwingungen. Ein elektrisches Feld würde im Leiter verschwinden. Diese Veränderung kann man wirklich messen, sie führt zu dem Anziehungseffekt, der Kasimir-Effekt genannt wird. Man ist gerne geneigt, etwas, das unendlich ist, als wahrscheinlichen Unsinn anzusehen. Aber man kann sozusagen indirekt kontrollieren, daß dieser Effekt wirklich da ist.

SB: Die zentrale Aufgabe, die sich die theoretische Physik heute stellt, dürfte wohl der Entwurf eines schlüssigen Formalismus von Teilchenphysik und Relativitätstheorie sein. Was erhoffen sich Physiker von einer vereinheitlichten Theorie?

KF: Wenn ich keine einheitliche Theorie habe und ich untersuche Effekte, wo sowohl Gravitation als auch Elementarteilchenphysik relevant sind, besteht das Problem darin, daß ich einen Teil mit der Gravitation und einen Teil mit der Quantentheorie beschreibe. An welcher Stelle ich den Unterschied mache, ist in gewissem Sinne mein Bauchgefühl oder aber willkürlich. Das heißt, sowie ich solche Effekte habe, wo beide Theorien relevant werden, komme ich in Widersprüche. Hätte ich dagegen eine einheitliche Theorie, wüßte ich eben, wie ich diese Widersprüche lösen soll.

Falls die Phänomene ganz sauber getrennt sind, so daß ich nie beides gleichzeitig betrachten muß, kann ich das natürlich ignorieren. Aber sowie ich einen Effekt habe, bei dem beides eine Rolle spielt, das ist zum Beispiel bei der Kosmologie ganz entscheidend der Fall, brauche ich eine einheitliche Theorie.

SB: Geht es auch darum, das Weltbild zu vervollständigen?

KF: Um überhaupt ein widerspruchsfreies Weltbild zu haben, ja. Dafür wäre das wichtig. Jetzt könnte man darüber spekulieren, ob es so etwas überhaupt gibt, also ob die Welt wirklich widerspruchsfrei erklärbar ist. Aber das steht wiederum auf einem anderen Blatt. Ich nehme an, jeder Physiker glaubt, daß es irgendwie geht, man die Lösung zur Vereinheitlichung nur noch nicht gefunden hat.

SB: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts dachte man, die Physik sei am Ende, sie habe schon mehr oder weniger alles erklärt. Seitdem taucht der Begriff "Ende der Physik" immer mal wieder auf, auch vor kurzem wieder mit dem Nachweis der Higgs-Teilchen. Würden Sie sagen, daß mit der Formulierung einer "Theorie von allem" tatsächlich das Ende der Physik erreicht wäre?

KF: (lacht) Also gut, erstens glaube ich nicht, daß es eine Physik von allem gibt. Aber das ist jetzt eher mein Bauchgefühl, da kann ich auch genausogut falschliegen. Es kann sein, daß man dennoch eine Theorie findet, die alles enthält. Aber selbst wenn, ich glaube, wir sind weit davon entfernt. Zweitens wäre es wohl nicht so, daß man diese Theorie wirklich auf jedes Problem anwenden könnte. Ich hatte vorhin ein Beispiel aus der Elementarteilchenphysik, die Hadronisierung, erwähnt. Dazu kennen wir die Theorie im Prinzip. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß sie falsch ist. Wir sind aber nicht in der Lage, sie anzuwenden. Dann kann man sich anderen Größenordnungen zuwenden und schon gerät man in Probleme, die wir ungenügend verstehen. Um ein etwas banales Beispiel zur Veranschaulichung zu nennen: Die Wettervorhersagen sind immer noch nicht so toll, obwohl wir die Physik, die ihnen zugrundeliegt, eigentlich ganz gut verstehen. Das hat wenig mit unverstandener Quantentheorie oder ähnlichem zu tun, sondern mit den Navier-Stokes-Gleichungen [5]. Darüber hinaus hat man einfach nicht genug Daten und kann die nicht schnell genug verarbeiten. Das ist nur so ein Beispiel, wo man sieht, daß da noch unendlich viel zu tun ist.

Was man noch dazu sagen muß: Nicht jedes Problem ist gleich von Anfang an interessant. Man weiß vielleicht vorher nicht, was interessant wird und was nicht. Zum Beispiel haben wir jetzt viele interessante Phänomene in der Festkörperphysik, von der man die fundamentale Physik eigentlich sehr gut kennt. Das betrifft ja im wesentlichen nur die Struktur, die elektromagnetischen Wechselwirkungen. Die Kernphysik spielt dafür fast keine Rolle.

SB: Vor rund hundert Jahren hatten einige Atomphysiker, die mit ihrer theoretischen Arbeit die Grundlagen für den Bau der Atombombe gelegt hatten, dies zutiefst bedauert. Birgt die Vereinheitlichungstheorie das Potential, daß daraus etwas entsteht, was nicht wünschenswert wäre, also ein Gewaltmittel mit noch mehr Zerstörungskraft?

KF: Das sehe ich nicht. Solche Entwicklungen sind schwer vorauszusagen. Ich meine, als Otto Hahn [6] seine Versuche gemacht hat, hat er sicherlich nicht gedacht, daß man ein paar Jahre später eine Atombombe bauen kann. Das war sicherlich nicht geplant. Was man mit solchen Erfindungen nachher machen kann, weiß man vorher nie. Ob man was Vernünftiges damit macht oder nicht, hat dann leider derjenige, der es gefunden hat, nicht mehr in der Hand. Das ist sozusagen ein gewisses Risiko. Ich persönlich glaube, daß die Risiken, die wir heute haben, in der Biologie viel größer sind. Es würde mich wundern, wenn man jetzt in der Physik etwas ähnliches wie die Atombombe entdecken würde. Das zeichnet sich nicht ab. Wobei es immer irgendwelche Leute gibt, die über Schwerkraftbomben oder ähnliches spekulieren.

SB: Als vor einigen Jahren am CERN der Large Hadron Collider in Betrieb genommen wurde, wurde in den Medien die Befürchtung geäußert, es könnte versehentlich ein Schwarzes Loch entstehen. An dieser Vorstellung war abgesehen von der Öffentlichkeit auch die Physik nicht unbeteiligt. Sicherlich kann es nicht verkehrt sein, sich darüber Gedanken zu machen.

KF: Gedanken darüber machen muß man sich natürlich. Man muß bei jedem Experiment überlegen, ob das jemanden direkt schadet. Darum ging es ja in diesem Fall. Aber ob die Erkenntnis, die man daraus gewinnt, nachher für irgendeinen schädlichen Zweck verwendet werden kann, davor schützt keine Garantie. Ich glaube, das ist in gewissem Sinne unser Schicksal als Menschen. Wir haben die Fähigkeit, Sachen zu erfinden, und die Fähigkeit, daraus etwas Gutes zu machen, ist leider nicht ganz so weit entwickelt. Aber man kann sich Mühe geben.

Die Fortschritte in der Technik ermöglichen im Prinzip die Lösung vieler menschlicher Probleme. Daß man statt dessen eine andere Richtung einschlägt, ist eigentlich unsinnig. Ob das um die Umweltprobleme oder den Hunger in der Welt geht, das zu lösen ist eigentlich technisch heute kein Problem, bzw. es sind meiner Ansicht nach zumindest lösbare Probleme.

SB: In anderen Wissenschaftsbereichen wird die Wichtigkeit von Interdisziplinarität und Transdisziplinarität betont und es werden Cluster gebildet, in denen viele Forschungsrichtungen zusammenarbeiten. Gibt es von der theoretischen Physik aus ebenfalls einen Brückenschlag zu anderen Wissenschaften?

KF: Selbstverständlich gibt es den Brückenschlag zur Mathematik, der ist sehr weit ausgebaut. Bei meinen eigenen Forschungen gibt es keine direkten Verbindungen zu anderen Wissenschaften, sieht man einmal von der Philosophie als eigene Wissenschaft ab. Dazu bestehen natürlich immer Kontakte und es gibt eine gegenseitige Beeinflussung. Indirekt, das betrifft aber jetzt weniger meine eigene Arbeit als zum Beispiel die unserer experimentellen Kollegen, stellen natürlich die Physiker anderen Wissenschaften Hilfsmittel zur Verfügung, beispielsweise der Biologie und Chemie. Die profitieren sehr stark davon, daß die Physiker heute Instrumente haben, mit denen man ganz andere Beobachtungen machen kann.

SB: Herr Fredenhagen, herzlichen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.dpg-verhandlungen.de/year/2017/conference/bremen/part/agjdpg/session/1/contribution/3

[2] Albert Einstein (1879 - 1955) sprach im Zusammenhang mit der Behauptung der Quantentheoretiker, daß räumlich entfernte Quanten einen gemeinsamen Zustand haben, also miteinander verschränkt sind, von "spukhafter Fernwirkung".

[3] Die Bezeichnung Minkowskiraum geht auf den deutschen Mathematiker und Physiker Hermann Minkowski (1864 - 1909) zurück. Er stellte die Hypothese auf, daß Raum und Zeit in einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum miteinander verbunden sind.

[4] Parmenides (520/515 v. Chr. bis 460/455 v. Chr.) aus Elea, griechischer Philosoph.

[5] Die Navier-Stokes-Gleichungen beschreiben die Strömung von newtonschen Flüssigkeiten und Gasen und werden von Atmosphärenphysikern verwendet.

[6] Otto Hahn (1879 - 1968), deutscher Chemiker. Er lieferte den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung des Urans und erhielt dafür den Nobelpreis für Chemie.


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT zur DPG-Frühjahrstagung in Bremen erschienen:

BERICHT/004: Die DPG stellt vor - Verantwortung der Wissenschaft ... (SB)
INTERVIEW/009: Die DPG stellt vor - unzureichend treibt voran ...    Prof. Dr. Claus Lämmerzahl im Gespräch (SB)

26. März 2017


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