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INTERVIEW/016: Die DPG stellt vor - Vermächtnis der Vergleiche ...    Dipl. Ing. Stefanie Bremer im Gespräch (SB)


Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie im Streßtest

Frühjahrstagung der Sektion Materie und Kosmos (SMuK) der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vom 13. - 17. März 2017 an der Universität Bremen

Stefanie Bremer über eine technologisch ausgeklügelte Meßapparatur im Orbit, durch die das physikalische Theoriengebäude erschüttert werden könnte


Seit dem 25. April 2016 kreist über unseren Köpfen der Satellit MICROSCOPE, an Bord das Minilabor T-SAGE, eines der denkbar aufwendigsten Meßgeräte, dessen alleinige Aufgabe die Überprüfung des schwachen Äquivalenzprinzips von schwerer Masse und träger Masse ist. Ein Ergebnis der Langzeitmessung wird für Juni 2017 erwartet.

Planung und Entwicklung des Projekts starteten bereits vor 17 Jahren. Die Ideen hingegen, welche durch die Konzepte von schwerer und träger Masse qualifiziert wurden, haben eine weitaus ältere Geschichte. Einen Markpunkt setzte Galileo Galilei (1564 - 1641). Er hatte bei der Beobachtung rollender Körper auf einer schrägen Fläche bemerkt, daß alle Körper gleich schnell rollen, selbst wenn sie bei gleichen Abmessungen aus verschiedenen und damit unterschiedlich schweren Materialien gefertigt wurden. Eine Uhr zur Geschwindigkeitsbestimmung brauchte Galilei dabei nicht. Er ließ zwei Testkörper gleichzeitig starten und verglich ihre Position auf der Schräge miteinander. Der Universalgelehrte deutete seine Beobachtung dahingehend, daß alle Körper gleich schnell fallen, sobald Einwirkungen wie der Luftwiderstand vernachlässigt werden.

Der Naturforscher und Verwaltungsbeamte Isaac Newton (1642 - 1726) schuf die Voraussetzungen für die Beschreibung von Naturvorgängen mit Hilfe der Mathematik. Newton machte sich Gedanken zur Masse von schweren und trägen Körpern und führte die Kraft als allgemeine Verrechnungsgröße ein. Kraft ist gleich Gegenkraft, sagte Newton und konnte darüber die schwere Masse und die träge Masse eines Körpers in gleicher Weise betrachten. Newtons Aussage stellt die heutige Physik in Form einer mathematischen Gleichung dar: Auf der einen Seite des Gleichheitszeichens stehen träge Masse und Beschleunigung, auf der anderen schwere Masse und Erdbeschleunigung. Eine Kraft taucht in der Gleichung nicht mehr auf; dies ermöglichte das Gleichheitszeichen.

Der Begriff der Erdbeschleunigung oder Schwerkraft selbst ist für den Nicht-Physiker wenig anschaulich, weil die meisten Dinge auf der Erde eben nicht beschleunigt zu werden scheinen. Es sei denn, man verliert den Boden unter den Füßen. Auch der Massebegriff ist unanschaulich, sobald die Masse als etwas Dinghaftes innerhalb von Körpern angesehen wird. Pragmatischer, wenn auch in physikalischer Konsequenz nicht unbedingt zutreffend, ist es, die träge Masse eines Körpers als ein Außenverhältnis vergleichbar der Geschwindigkeit anzusehen. Das heißt, Körper verhalten sich so, daß sie Widerstand leisten, wenn sie in Bewegung gesetzt werden. Analog zur trägen Masse kann die schwere Masse ebenfalls als ein Außenverhältnis, nämlich als das eines Körpers zur Erde, angesehen werden.

Der 1848 in Budapest geborene Physiker Loránd Eötvös hat die Gleichheit von schwerer und träger Masse experimentell mit einer Präzision von 1:108 überprüft. Nach ihm wurde der Eötvös-Faktor benannt, der ein Maß dafür ist, wie genau ein Meßaufbau das Äquivalenzprinzip belegt. Dessen Gültigkeit war die unmittelbare Voraussetzung von Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, welche die Wirkung schwerer Masse als Krümmung von Raum beschreibt.

Bislang konnte das Äquivalenzprinzip bis zu einem Eötvös-Faktor von 10-13 bestätigt werden. Mit der sogenannten Payload von MICROSCOPE, dem T-SAGE, soll der Eötvös-Faktor um zwei Größenordnungen verkleinert werden. Das wäre dann eine Zahl wie 0,000.000.000.000.001.


Der untere Teil der 3,50 Meter durchmessenden Röhre, verschiedene Verstrebungen, Lampen, Laufgitteraufgang an der Innenwandung des Fallturms - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Vakuumröhre im Bremer Fallturm
Foto: © 2017 by Schattenblick

MICROSCOPE (MICRO Satellite à traînée Compensée pour l'Observation du Principe d'Equivalence) ist ein Minisatellit der französischen Raumfahrtbehörde CNES (Centre National d'Études Spatiales, France), die dem Forschungs- und dem Verteidigungsministerium untersteht. T-SAGE wurde vom öffentlichen französischen Forschungsunternehmen ONERA (Office national d'études et de recherches aérospatiales) entwickelt. Das Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) der Universität Bremen ist an dem Projekt unter anderem mit Untersuchungen im Bremer Fallturm involviert. Außerdem sind an dem Gemeinschaftsprojekt das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), die Physikalisch-Technische-Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig und die europäische Weltraumorganisation ESA beteiligt.

Der Bremer Fallturm ermöglicht Messungen über mehrere Sekunden im freien Fall innerhalb einer Vakuumröhre. Beim ZARM ist die deutsche Ingenieurin Stefanie Bremer an der Zuarbeit für MICROSCOPE tätig. Am 15. März 2017 stellte sie das Projekt in einem Vortrag auf der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) in Bremen unter dem Titel "MICROSCOPE: The first space-based test of the Weak Equivalence Principle in orbit" (MICROSCOPE: Die erste Überprüfung des schwachen Äquivalenzprinzips im Weltraum) vor.

T-Sage enthält zwei gleiche Meßeinheiten. Jede einzelne besteht aus zwei ineinandersteckenden Metallzylindern, welche einen Differentialbeschleunigungsmesser bilden. Ein Zylinder wird im Zusammenspiel von Satellitensteuerung und internem Feinabgleich von allen Kräften freigehalten. Dadurch entsteht für die Ausmessung des Äquivalenzprinzips ein fast schon absolut zu nennender Bezugspunkt, der auf einer äußerst genau definierten Bahn um die Erde läuft. Der zweite Zylinder umgibt den ersten schwebend und in geringem Abstand. Schwerkraft und Trägheitskraft verschieben den äußeren Zylinder gegenüber dem inneren minimal im Laufe des mehrere Monate dauernden Meßvorgangs, falls das Äquivalenzprinzip nicht absolut gilt. Um die Verschiebung beziehungsweise Beschleunigung des äußeren Zylinders messen zu können, wird er mit Hilfe elektrostatischer Kräfte ständig auf seine Ausgangsposition zurückgezogen. Der entsprechende Regelungsvorgang liefert das elektrische Signal, welches bei ONERA ausgewertet wird. Die Meßzylinder wurden von PTB aus Platin und Titan gefertigt, wobei die Zylinder eines Zylinderpaares aus demselben Material bestehen. Sie dienen als Referenz für die eigentliche Messung mit den beiden Zylindern.

Frau Bremer war nach ihrem Vortrag bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu MICROSCOPE zu beantworten.

Schattenblick (SB): Frau Bremer, was ist Ihr Aufgabenbereich an diesem Projekt?

Stefanie Bremer (StB): Ich bin beim ZARM auf einer ganz eigenen Schiene ins MICROSCOPE-Team gekommen. Eingestiegen bin ich im Jahr 2005 mit Simulationen von Satellitenmissionen, da lief das Projekt bereits. Zu dem Zeitpunkt war es schon zu ein paar Verzögerungen gekommen, aber noch war man zuversichtlich, daß man in den nächsten ein, zwei Jahren startet. Dann hieß es auf einmal, es wäre doch interessant, wenn man dort mit Simulationen hineinschauen könnte, die das ganze Projekt begleiten. Man wollte wissen, ob wir richtig vorhersagen können, wie der Satellit fliegt, welche Störungen auftreten und ähnliches.

Am Satelliten selber hatte ich somit keinen Anteil. Das ist letztendlich fast ausschließlich in französischer Hand gelaufen. Die ursprüngliche Idee mit dem FEEP-Propulsion-Modul (Field Emission Electric Propulsion) als Antrieb sollte von italienischer Seite umgesetzt werden. Aber aufgrund vieler technischer Probleme hat man sich letztlich für eine Kaltgaslösung entschieden. Das lief dann auch im ESA-Konsortium, also war es ein bißchen internationaler.

Der Satellit selber ist fast ausschließlich in der Hand von CNES und die Payload in der von ONERA. Wir am ZARM haben das mit Fallturmtests begleitet. Mein Kollege Hans Selig hat noch vor mir angefangen und den ganzen Testaufbau auf der Engineering-Seite mit entwickelt. Im Laufe der Mission bin ich auch in das Team reingerutscht, das dann später die Datenauswertung macht. Ich sage immer, ich programmiere die Sachen, die dann funktionieren, und die anderen Leute interpretieren das. Das ist jetzt vielleicht ein bißchen überspitzt dargestellt, aber manchmal läuft es so.

SB: Bei dem Experiment MICROSCOPE geht es ja um den Vergleich von schwerer Masse mit der trägen Masse von Körpern. Kommt unser Alltagsverständnis von Gewicht und Widerstand diesen Eigenschaften nahe?

StB: Ich stelle immer wieder fest, das das eigentlich eine Sache ist, die einem überhaupt nicht bewußt ist. In der Newtonschen Mechanik wird einfach vorausgesetzt, daß das dasselbe ist. Ich versuche das den Leuten so zu erklären, daß es ein Unterschied ist, ob du dich auf die Waage stellst und deine Gewichtskraft sichtbar machst, oder ob du im Auto sitzt, beschleunigt wirst und merkst, daß da was mit deinem Körper passiert. Genaugenommen sind das zwei unterschiedliche Massen, die sich da entgegenstehen. Im Alltag merkt man das nicht. Die Idee lautet nun, daß die beiden Massen identisch sind. Das sagt auch das Äquivalenzprinzip.

SB: Und warum heißt es bei den Fallturmexperimenten Mikrogravitation und nicht Zero-Gravitation?

StB: Weil man "null g" im Fallturm nicht hinbekommt. Die Beschleunigung im freien Fall konnte man mit den Akzelerometern tatsächlich messen. Es blieb immer noch eine Restbeschleunigung im Bereich von Mikrometer pro Sekundenquadrat, also Mikro-g.

SB: Welchen physikalischen Hintergrund hat diese restverbliebene Gravitation?

StB: Was heißt Restgravitation? Eigentlich handelt es sich um den Widerstand durch die Luftreibung. Der Fallturm wird zwar als ganzes evakuiert, aber er hat natürlich ein riesiges Volumen. Das bekommt man nicht so leicht leergepumpt wie eine kleine Vakuumkammer, in der man dann ein Supervakuum herstellen kann. Das funktioniert nicht, aber man erreicht schon einiges. Für die allermeisten Experimente genügt das. Den freien Fall spürt man beispielsweise schon, wenn man im Schwimmbad vom Sprungturm springt, oder wenn man in einem Karussell sitzt, das sich dreht. Obwohl man da noch gebunden ist, merkt man die Effekte bereits, wie sie auch beim freien Fall auftreten, also daß der Magen hochgeht und ähnliches. Daß aber wirklich exakt Schwerelosigkeit hergestellt wird im Sinne von, es greifen überhaupt keine Kräfte mehr an, das kann auch der Turm nicht gewährleisten.

SB: Wäre das im Erdorbit gegeben?

StB: Da haben wir ähnliche Probleme. Da treten Störungen vom Sonnendruck, Magnetfeld und der Restatmosphäre auf. Die Effekte sind winzig klein, aber sie sind vorhanden. Deshalb wird MICROSCOPE auch mit einem Drag-free-System betrieben. Das ist ein spezielles Lageregelungssystem, das eng an die eigentliche Nutzlast gekoppelt ist. Das macht dieses ganze System auch so schwierig. Im Prinzip reagiert es auf äußere Störungen und versucht diese dann mittels der Triebwerke auszugleichen, so daß innerhalb des Satelliten im Prinzip perfekte Bedingungen herrschen und das Gravitationsfeld als einzige Bewegungsquelle für die Testmassen übrigbleibt. Das ist die Drag-free-Idee.

Es ist auch der erste Satellit, der auf diese Weise in niedrigen Erdumlaufbahnen unterwegs ist. Die CNES jedenfalls ist höchst zufrieden mit dem, was sie da geleistet hat. In einer Pressemitteilung vom September vergangenen Jahres zog sie einmal den Vergleich, daß sie, als der Mond ungefähr 15 Prozent der Sonnenstrahlung abgedeckt hat, das detektieren und auch ausgleichen konnte. Größenmäßig entspricht die Kraft, die da noch angreift und ausgeglichen wird, dem Gewicht eines Sandkorns.


Beim Interview - Foto: © 2017 by Schattenblick

Stefanie Bremer
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Physikalisch sagt man wohl, alle am Meßlabor angreifenden Kräfte einschließlich der Trägheitskräfte heben sich auf. Die beschreibende Gleichung lautet, die Summe aller Kräfte ist gleich null. Wie könnte sich ein Laie erklären, daß eine Gleichung oder eine Nullsumme etwas beschreibt, was sich im Wandel befindet?

StB: Um das zu erklären, muß man vielleicht doch auf den Aufbau beziehungsweise das Meßprinzip eingehen. Bei MICROSCOPE ist es so, daß die Testmasse in Wirklichkeit gar nicht frei fliegen darf. Dafür hat man sich entschieden, weil sich technisch herausgestellt hat, daß es besser funktioniert, wenn man einen Punkt festhält. Das ist der sogenannte Drag-free-Punkt, um den es geht. Das kann man natürlich auch nur für jeweils eine Testmasse machen. Die andere liegt als Zylinder außenherum und ist räumlich separiert. Einen puren Gravitationsorbit kann man sozusagen nur für eine Masse herstellen. Das ist dann der Referenzpunkt für die Messungen. Alles, was da an Kräften angreift, bewegt die Testmasse ein bißchen. Aber sie wird immer wieder auf diesen Nullpunkt zurückgeführt. Die bewegt sich dann also nicht. Aber man hat Kraft aufgewendet, um sie dahin zu bekommen. Über diese Kraft und über die Masse der Testmasse kann man nachher die Beschleunigung ausrechnen, die dann doch noch gewirkt hat.

SB: Im Ausschlußverfahren?

StB: Im Ausschlußverfahren, richtig. Deswegen sind es Differentialakzelerometer, man bildet die Differenz aus beiden Testmassenbewegungen. Dann sollten sich Einflüsse, die wie der Solardruck auf beide Massen gleich wirken, eigentlich alle "rausheben" und wirklich nur noch Faktoren übrigbleiben, die entweder mit wirklich gravitativ anderen Kräften und einer Verletzung des Äquivalenzprinzips oder intrinsisch irgend etwas mit der Testmasse selber zu tun haben, weil die vielleicht schief eingebaut wurde oder doch nicht ganz rund ist oder ähnliches. Das sind Dinge, die man in Kalibrierungs-Sessions herauszufinden und auszuschließen versucht hat. Dafür schaut man sich das Differenzsignal an. In den Einzelsignalen oder auch in dem kombinierten Modus, wenn man diese aufaddiert, wird das verwendet, um das Lageregelungssystem mit Eingaben zu füttern und vom Satelliten gegenzusteuern.

SB: Kann denn die Ruhemasse, also die träge Masse ohne
Beschleunigung, gemessen werden?

StB: Im Weltall ist sie immer beschleunigt. Im Orbit, auf der Kreisbahn, ist sie permanent in Bewegung.

SB: Die Frage zielt darauf, an den Begriff der Masse heranzukommen, der ja für das Alltagsverständnis nicht besonders griffig ist. Wäre es denkbar, irgendwie diese Ruhemasse zu messen?

StB: Es stimmt, Masse ist nicht so griffig. Zu Ihrer Frage fällt mir gerade nichts Gutes ein, wie ich das schön ausdrücken könnte. Da könnten meine Kolleginnen, die Physikerinnen, eher etwas zu sagen.

SB: Das gilt vielleicht auch für die nächste Frage, dem Gegenstück dazu. Kann man in der Schwerelosigkeit die Schwere messen?

StB: In der Schwerelosigkeit? Da muß ich erstmal darüber nachdenken, wie ich das beantworten soll. Die Schwere im Sinne von Gewicht, nein. Das machen wir ja auch nicht. Die Massen, die auf die Waage gebracht werden, sind vorher natürlich ganz genau bestimmt worden.

SB: Aber beide Messungen gleichzeitig, geht das dann? Sonst könnte man das Äquivalenzprinzip doch nicht prüfen, oder?

StB: Das liegt daran, daß es dann, wenn man sich die Bestandteile der kompletten Gleichung anschaut, Teile gibt, an denen sozusagen die Gravitationsbeschleunigung angreift. Da müßte man, was man sonst immer nicht beachtet, eigentlich für mg für die gravitative Masse und mt für die träge Masse schreiben. Dann treten zum Beispiel noch Kopplungskräfte auf, weil die Masse irgendeine Wechselwirkung mit dem Satelliten hat. Das kann man dann als Feder-Masse-System modellieren. Da geht aber die andere Masse ein. Wenn man die Gleichung nachher von beiden Massen zusammenschreibt und dann voneinander abzieht, bleibt ein Vorfaktor, nämlich die eine Masse im Verhältnis zur anderen, übrig. Das entspricht tatsächlich den unterschiedlichen Beschleunigungskomponenten, also der gravitativen auf der einen Seite mit der Gewichtskraft und auf der anderen der Trägheitskraft, die allen anderen Beschleunigungen entgegengesetzt ist. Es ist tatsächlich so, daß hier unterschiedliche Komponenten wirken. Wenn man es genau nimmt, steht immer ein anderes m in der Gleichung. Das läßt sich am Ende sehr schön - ein bißchen langwierig vielleicht - auf einen Faktor runterbrechen, der als Eötvös-Parameter bekannt ist.

SB: Wie vergleichen Sie in der Meßeinheit T-Sage die Masse der Probenkörper? Geht der Vergleich letztlich über eine Wegmessung?

StB: Über eine Beschleunigungsmessung. Nullmessungen sind immer auch schwierig. Eigentlich erwartet man ja null. Und dann muß man irgendwas formulieren, was übrigbleibt, was zehn hoch minus x hat.

SB: Von jedem Schritt her, den wir machen, kennen wir das Problem der Körperschwingungen. Diese kommen besonders beim Loslösen vom Boden zur Wirkung. Hatten Sie das gleiche Problem auch bei MICROSCOPE, als Sie die Probenmassen aus ihren Halterungen in die Schwerelosigkeit entließen?

StB: Das ist auf jeden Fall so. Deswegen wurde eine lange Zeit auch gar nicht gemessen. Als die Massen losgelassen wurden, haben sie natürlich erst irgendeine Bewegung gehabt, sind dann aber sehr schnell eingefangen worden. Mein Kollege aus Frankreich hatte da auf Twitter ein Bild versandt, auf dem man schön sieht, daß es zunächst "irgendwie" losgeht und dann sind die Massen von elektrostatischen Kräften schnell an ihren Nullpositionen eingefangen worden. Das hat prima geklappt. Man konnte da nicht viel riskieren, die Testmassen haben nur rund 600 Mikrometer Platz. Da wollte man natürlich nicht, daß die irgendwo herumdengeln. (lacht)

Das Instrument war erst eine gute Woche nach dem eigentlichen Satellitenstart eingeschaltet worden. Zunächst mußte der Satellit beruhigt werden, denn normalerweise geraten Satelliten bei Separationsmanövern ins Taumeln. Auch wurden die Solarzellen ausgeklappt, die für den Start angelegt waren. Da gab es einen Öffnungsmechanismus, so daß sie dann ausschwingen und einrasten. Während dieser Phase brauchte das Instrument überhaupt nichts zu machen. Aber selbst dann, als alles erledigt war, wurde als nächstes geprüft, ob es auf alle Richtungen reagiert. Ab Juni tauchte dann der Satellit immer kurzzeitig in den Erdschatten ein. Dadurch schwankten die Kräfte so stark an den Punkten von Ein- und Austritt, daß man entschieden hat, dies nicht in die Messungen aufzunehmen. Da hätte man in jeder Meßrunde einen Fehler reinbekommen.

SB: Wie ein Stoß?

StB: Wie ein Stoß, ja. Wir reden da über einen Bereich von Mikronewton, so empfindlich ist das Instrument. Es ist extra so konzipiert worden, daß es auf einem Orbit kreist, der möglichst lange immer gleiche Umweltbedingungen hat.

SB: Woher wissen Sie, was Störsignale sind?

StB: Aus alten Missionen ist schon hinlänglich bekannt, was alles passieren kann. Das wird an vielen Stellen modelliert. Das hat die CNES selbstverständlich ebenfalls gemacht. Wir gehen noch ein bißchen mehr ins Detail und schauen uns zum Beispiel den Solardruck an. Aber nicht einfach nur, wie es gerne gemacht wird, mit dem Satelliten als einer einzigen großen Referenzfläche, auf die die Sonnenstrahlung mit irgendeiner Kraft wirkt. Wir modellieren richtig detailliert die Oberfläche mit unterschiedlichen Reflexionskoeffizienten für die unterschiedlichen Komponenten. Dann schauen wir uns auch mal an, ob es tatsächlich einen Unterschied macht, wenn der Satellit von dieser oder jener Seite beschienen wird. So etwas kann man modellieren und auch messen. Wir hoffen, daß wir da vielleicht noch den Datensatz der Franzosen bekommen, der das dann belegt. Dafür brauchen wir teilweise Signale, die das Lageregelungssystem betreffen. Aber der Teil ist nicht immer unbedingt öffentlich. Auch bei uns im Team ist es nicht so, daß man alles bekommt. Solange man jedoch nur die Umrechnungsfaktoren der Rohdaten hat, hilft es einem auch nicht weiter, wenn man nicht weiß, was das Instrument einem sagen wollte, wenn es beispielsweise fünf Volt gemessen hat.

SB: Sollte bei MICROSCOPE eine Verletzung des Äquivalenzprinzips von schwerer und träger Masse festgestellt werden, welche Bereiche der Physik wären dann von dieser Erkenntnis betroffen?

StB: Zunächst einmal wäre das eine riesige Sensation. Im Prinzip wäre dann alles betroffen, was irgendwie mit Relativitätstheorie verbunden ist. Das Äquivalenzprinzip ist nun mal ein Grundpfeiler der Allgemeinen Relativitätstheorie. Es gibt bestimmt Bereiche, die sind in ihrer Definition so angelegt, daß sie nicht auf diese kleinen Größenordnungen runtergehen. Da müßte man wahrscheinlich keine Änderungen vornehmen. Jedoch müßte jedes Postulat, welches auf der Annahme der Äquivalenz beruht, überdacht oder revidiert werden. Oder es müßte geschaut werden, wie weit oder ab wo das Prinzip gilt und ob Einschränkungen vorgenommen werden müssen. Dann müßte man da noch mal richtig ran an die ganze Geschichte.

Dafür bin ich allerdings nicht die Expertin. Das sind teilweise schon, wie manche sagen, exotische Bereiche der Physik. Wie die Stringtheorie. Die ist in einem Bereich angesiedelt, in dem MICROSCOPE bereits mißt. Sollte der Nulltest wieder null als Ergebnis liefern, müßten die Leute, die in diesem Größenordnungsbereich eine Verletzung des Äquivalenzprinzips vorhergesagt haben, dann ihre Theorien vielleicht aufgeben oder neu formulieren. Aber umgekehrt, wenn das Äquivalenzprinzip wirklich verletzt wäre, würde das in einem sehr viel größerer Teil der Physik-Community für helle Aufregung sorgen.

SB: Bekommen Sie angesichts der Größe der Konsequenzen, die das Projekt unter Umständen hat, manchmal Alpträume?

StB: Manchmal schon. Ich bin allerdings ganz froh, daß wir als Projektpartner da immer nur mal mit draufgucken. Wir steuern ein paar Analysen dazu bei, die manche Dinge untermauern, aber es sind die französischen Kollegen, die das ganze Experiment entwickelt und gebaut haben und die die ganze Zeit noch näher dran waren als wir. Das muß man ganz klar so sagen. Sie sind diejenigen, die die Sachen erstmal in den Raum werfen. Wenn man dann nur in der Rolle der Person ist, die das vielleicht noch mal bestätigt, dann ist das schon wieder ganz gut. Egal, ob das Äquivalenzprinzip verletzt wird oder nicht - es wird sich um ein Statement handeln, das wirklich gut untermauert sein muß. Auch wenn die richtigen wissenschaftlichen Messungen erst im Dezember angefangen haben und wir die ersten Ergebnisse gerne im Juni publizieren wollen, müssen wir uns wirklich sicher sein. Es wäre wissenschaftlich ziemlich fatal, wenn da etwas Falsches geschrieben würde.

Es ist vom französischen Gesetzgeber so vorgesehen, daß alle, die auch öffentlich gefördert worden sind, in den nächsten Jahren die Daten veröffentlichen müssen. Wie schnell das dann umgesetzt wird, kann ich nicht sagen. Die Daten werden jedoch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit irgendwann zur Verfügung stehen. Damit kann die Auswertung noch mal nachvollzogen werden und deshalb muß sie wasserdicht sein. Es ist ja auch wichtig, daß das gegengecheckt wird. Ein so kompliziertes Experiment nur einmal auszuwerten, wäre keine gute Idee. Es ist immer gut, wenn da von unabhängiger Seite nochmal jemand draufguckt.

SB: Vielen Dank für das ausführliche Gespräch.


Teilüberdachte Fußgängerzone mit angrenzenden, vorwiegend aus Beton errichteten Universitätsgebäuden - Foto: © 2017 by Schattenblick

Boulevard des Bremer Campus
Foto: © 2017 by Schattenblick


Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT zur DPG-Frühjahrstagung in Bremen erschienen:

BERICHT/004: Die DPG stellt vor - Verantwortung der Wissenschaft ... (SB)
INTERVIEW/009: Die DPG stellt vor - unzureichend treibt voran ...    Prof. Dr. Claus Lämmerzahl im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Die DPG stellt vor - Schwingungen und Perspektiven ... Prof. Dr. Klaus Fredenhagen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/011: Die DPG stellt vor - Fortschreitendes Verständnis (Teil 1) ...    Prof. Dr. Domenico Giulini im Gespräch (SB)
INTERVIEW/012: Die DPG stellt vor - das Mögliche auch nutzen ...    Prof. Dr. Dr. Claus Beisbart im Gespräch (SB)
INTERVIEW/013: Die DPG stellt vor - die Maßstäbe prüfen ...    Martina Gebbe im Gespräch (SB)
INTERVIEW/014: Die DPG stellt vor - unbekannten Emissionen auf der Spur ...    Dr. Stefan Schmitt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/015: Die DPG stellt vor - Zusammenschau ...    Dr. Irena Doicescu im Gespräch (SB)


31. März 2017


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