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BERICHT/350: "Was zählt, ist die berufliche Teilhabe" (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 134 - Heft 4, Oktober 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Was zählt, ist die berufliche Teilhabe"
Barrierefreier Zugang zu Arbeit - was heißt das für psychisch erkrankte Menschen?

Von Irmgard Plößl


Arbeit hat für psychisch erkrankte Menschen viele positive Auswirkungen. Sie trägt dazu bei, sich zu stabilisieren, Klinikaufenthalte und Rückfälle zu vermeiden (Priebe 1999), verbessert die Lebensqualität und das Selbstwertgefühl (Angermeyer 2000). Um den Zugang zu Arbeit zu ermöglichen, legt die UN-Behindertenrechtskonvention in Artikel 27 das Recht von Menschen mit Behinderungen fest, den Lebensunterhält durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.

Doch ein Blick auf Studien zur Arbeitssituation von psychisch erkrankten Menschen zeigt, dass von einem barrierefreien Zugang zum Arbeitsmarkt nicht die Rede sein kann. Eine psychische Erkrankung bringt ein hohes Risiko mit sich, aus dem Arbeitsleben ausgegliedert zu werden. Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Arbeitsmarktsituation (Warner 2004). In Zeiten der Vollbeschäftigung führte beispielsweise die Schizophrenie deutlich seltener zur Exklusion aus dem Arbeitsleben als in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit. So berichtet Brieger (2006), dass laut Armutsbericht der Bundesregierung von 2001 über 40 Prozent der psychisch Erkrankten dauerhaft aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind. Eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gelingt nur wenigen und wird mit zunehmender Krankheitsdauer immer unwahrscheinlicher. Dabei ist zu beobachten, dass vor allem schwerer psychisch Erkrankte von der Teilhabe am Arbeitsleben ausgeschlossen werden, denn die meisten Maßnahmen der beruflichen Eingliederung zielen vorrangig auf Wiedereingliederung in versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse im regulären Arbeitsmarkt.

Berufliche Teilhabe hat aber viele Facetten, die wir im Blick behalten müssen, wenn es darum geht, Zugangsbarrieren für alle psychisch erkrankten Menschen aus dem Weg zu räumen.


Emotionale Zugangsbarrieren

Zunächst gilt es jedoch, die Frage zu klären, worin diese Zugangsbarrieren eigentlich bestehen. Natürlich gibt es auch für psychisch erkrankte Menschen sachliche Barrieren, die den Zugang zu Arbeit erschweren. Im Vordergrund stehen jedoch die emotionalen Barrieren, die Barrieren in den Köpfen und Herzen, und zwar auf beiden Seiten, bei psychisch Erkrankten und bei Arbeitgebern gleichermaßen.

Emotionale Barrieren aufseiten der Betroffenen entstehen meist vor dem Hintergrund diskriminierender Erfahrungen in der Vergangenheit. In einer Studie von Baer und Fasel (2009) aus der Schweiz äußerten über 90 Prozent der befragten 166 Patienten einer psychiatrischen Tagesklinik, dass sie am Arbeitsplatz bereits einmal die Erfahrung gemacht hätten, diskriminiert worden zu sein. Besonders häufig hatten die Betroffenen erlebt, dass man ihnen mit Unverständnis und Distanz begegnet war. Sie fühlten sich ausgeschlossen und hatten das Gefühl, von anderen gemieden zu werden. Es scheint eine besondere Problematik psychisch Erkrankter im Arbeitsleben zu sein, nicht verstanden zu werden, sich erklären und rechtfertigen zu müssen und doch auf Unverständnis zu stoßen. Immer wieder erlebten Betroffene auch massive Drohungen, beispielsweise Kündigungsandrohungen sowie ständige Kritik auch wegen kleinerer Fehler oder Vorhaltungen wegen ihrer Fehlzeiten. Interessant ist, dass aber nicht nur Unverständnis und Kritik, sondern gewissermaßen auch das Gegenteil als diskriminierend erlebt wurde, nämlich unangemessene Schonung. Viele psychisch erkrankte Mitarbeiter empfanden es als unangenehm, bereits für Kleinigkeiten gelobt oder besonders geschont zu werden. Sie fühlten sich dadurch nicht ernst genommen und erneut nicht wirklich verstanden mit ihrer Problematik.

"Arbeitgeber benötigen phasenweise ebenso viel Verständnis und Unterstützung wie die psychisch erkrankten Klienten"

Vor dem Hintergrund solcher als diskriminierend erlebten Erfahrungen entwickeln psychisch erkrankte Menschen mitunter Ängste vor der Arbeitswelt, die sehr ausgeprägt sein können. Teilweise können auch die Erfahrungen anderer, von denen man gehört hat, ursächlich für die Entwicklung von Ängsten sein. Im Vordergrund steht dabei meist die Angst vor einem Rückfall oder einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Aber auch die Angst, den Anforderungen, die am Arbeitsplatz gestellt werden, einfach nicht gewachsen zu sein, nicht gut genug oder nicht zuverlässig genug zu sein, ist mitunter sehr ausgeprägt. Und nicht zuletzt befürchten viele, dass sie sich erneut unverstanden, ausgeschlossen und abgewertet fühlen werden, wenn sie wieder eine Arbeit aufnehmen. Diese Ängste führen häufig dazu, dass Betroffene nur sehr zögerlich nach einer Arbeit Ausschau halten. Oft möchten sie durchaus arbeiten, zeigen sich dann aber einer konkreten Gelegenheit oder einem realisierbaren Vorschlag gegenüber ambivalent oder sogar abwehrend, eben weil dann erneut die Ängste vor negativen Erlebnissen als emotionale Barrieren in den Köpfen aufgebaut werden. Wenn solche arbeitsbezogenen und erfahrungsbedingten Ängste als fehlende Motivation missverstanden werden, erschwert dies zusätzlich den Zugang zu Arbeit.

Aber auch aufseiten der Arbeitgeber gibt es emotionale Barrieren. Auch diese entstehen durch negative Erlebnisse und Überforderung in der Vergangenheit. Viele Arbeitgeber haben bereits schlechte Erfahrungen mit psychisch kranken Mitarbeitern in ihrem Betrieb gemacht. In einer Studie von Baer (2007) mit 800 Arbeitgebern aus der Schweiz gaben diese an, dass ihre Erfahrungen mit psychisch kranken Mitarbeitern in 80 Prozent der Fälle schlecht waren, während mit anderen Behinderungsarten deutlich weniger negative Erfahrungen geschildert wurden. Arbeitgeber scheinen aus diesen negativen Erfahrungen häufig die Konsequenz zu ziehen, künftig keine psychisch erkrankten Bewerber mehr einzustellen. Diese emotionale Barriere ist eine Ursache für die geringe Erwerbsquote von Menschen mit psychischen Erkrankungen.


Barrieren sachlicher Art

Neben den emotionalen Barrieren gibt es auch die sachlichen. Diese sind jedoch sehr unterschiedlich. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt es keine grundsätzlichen Barrieren, die in jedem Fall problematisch sind und überwunden werden müssen, wie beispielsweise Treppenstufen für Rollstuhlfahrer, die durch Aufzüge überwunden werden können, oder komplizierte Texte für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, gegen die "leichte Sprache" eine für alle Menschen angenehme Abhilfe darstellt. Es gibt keine Arbeitsaufgabe oder Arbeitssituation, die grundsätzlich ungeeignet für psychisch erkrankte Menschen wäre. Frühere Annahmen in dieser Richtung sind im Laufe der Jahre alle widerlegt worden. Psychisch erkrankte Mitarbeiter arbeiten an Maschinen und mit Computern ebenso wie in der Gastronomie oder im sozialen Bereich, selbst in der Pflege gibt es gute Erfahrungen. Natürlich sind solche Arbeitssituationen für viele ungeeignet, für andere aber eben genau das Richtige. Man sollte also keine Möglichkeit von vornherein ausschließen. Jeder Gesundungsweg ist anders, wie wir längst aus der Recovery-Forschung wissen (Amering/Schmolke 2007).

Inhaltliche Barrieren sind natürlich in der enormen Verdichtung im Arbeitsleben zu sehen. Immer weniger Arbeitnehmer müssen immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit erledigen. Eine Entwicklung, unter der auch als psychisch gesund und belastbar geltende Mitarbeitende zunehmend zu leiden haben. Aufseiten der Arbeitgeber bestehen die sachlichen Barrieren im enormen Wettbewerbsdruck, der es schwierig erscheinen lässt, Mitarbeiter zu beschäftigen, die voraussichtlich nicht immer voll belastbar sein werden.


Barrieren thematisieren, Ängste abbauen, Akzeptanz erhöhen

Die Hauptursache für Ausgrenzung und Exklusion psychisch kranker Menschen aus dem Arbeitsleben sind jedoch die emotionalen Barrieren auf beiden Seiten. Sie entstehen zumeist vor dem Hintergrund schlechter, überfordernder Erfahrungen und ausgeprägter Ängste. Wenn die emotionalen Barrieren überwunden sind, lassen sich für die sachlichen Barrieren meist Lösungen finden. Die emotionalen Barrieren müssen deshalb thematisiert werden. Es reicht nicht, sich nur auf sachliche Barrieren zu konzentrieren, auf Hilfsmittel, gesetzliche Vorschriften oder Ähnliches. Hilfreich ist es, Vorbehalte und Befürchtungen sowohl der Arbeitgeber als auch der psychisch erkrankten Bewerber offen anzusprechen und auch aussprechen und benennen zu lassen. Förderlich sind erfahrene, unaufgeregte und zuversichtliche professionelle Helfer, so genannte Job-Coaches, die als kontinuierliche Ansprechpartner sowohl für Mitarbeiter als auch für Arbeitgeber zur Verfügung stehen und dazu beitragen, auf beiden Seiten zumindest Akzeptanz füreinander zu wecken. Wirkliches Verständnis für die Situation des anderen ist oft schwer zu erreichen und vielleicht auch ein zu hoch gestecktes Ziel. Möglich ist aber aufseiten der Arbeitgeber die Akzeptanz, dass psychisch erkrankte Mitarbeiter vielleicht eingeschränkte Leistungen erbringen, dafür aber durch Sachkenntnisse oder Zuverlässigkeit die Defizite aufwiegen. Und die Mitarbeiter können akzeptieren, dass sie nur ein begrenztes Maß an Rücksicht und Verständnis im Arbeitsmarkt erwarten können.

Manchmal ist es auch sinnvoll, den durchaus berechtigten Kern von Ängsten und emotionalen Barrieren auf beiden Seiten direkt anzusprechen. Die Arbeitgeber auf mögliche Leistungseinschränkungen der psychisch erkrankten Bewerber hinzuweisen und im Anschluss direkt auf die Stärken. Und mit den Bewerbern darüber zu sprechen, dass sie durchaus erneut die Erfahrung von mangelndem Verständnis und Abgrenzung machen könnten, aber eben nur bei ein oder zwei Kollegen und dass sie sich an die anderen halten sollten.

Die Vermittlung durch Job-Coaches erschließt Zugänge zur Arbeitswelt und kann helfen, diese Zugänge auf Dauer zu sichern. Dies bedeutet aber auch, dass sich das Zeitbudget professioneller Mitarbeiter verschiebt und Kontakte und Gespräche mit Arbeitgebern und Kollegen am Arbeitsplatz einen größeren zeitlichen Rahmen einnehmen als bisher. Arbeitgeber benötigen phasenweise ebenso viel Verständnis und Unterstützung wie die psychisch erkrankten Klienten.


Sinnstiftende Tätigkeiten und Wahlmöglichkeiten schaffen

Ein hervorragendes Mittel, um sachliche Barrieren abzubauen, ist es, Arbeitsplätze zu "backen". Zu diesem Zweck werden hoch verdichtete, komplexe Arbeitsabläufe entzerrt und entkompliziert. Arbeitgeber werden dabei beraten, wie sie ihre meist überlasteten Arbeitnehmer ein wenig entlasten können, indem alle einen kleinen Teil ihrer Aufgaben abgeben, die dann zu einer neuen Stelle zusammengefasst werden. Diese kann in vielen Fällen durch Zuschüsse teilweise finanziert werden. So haben beide Seiten etwas davon. Dies ist auch der Kern des Erfolgs: Beide Seiten müssen etwas davon haben. Arbeitgeber sind durchaus zugänglich und bereit, psychisch erkrankte Mitarbeiter einzustellen, wenn sie einen konkreten Nutzen für sich sehen und sicher sind, dass sie die Stelle auch finanzieren können. Und Mitarbeiter profitieren am meisten, wenn es "die richtige Stelle" ist, die ihnen angeboten wird. Die Passung zwischen der Persönlichkeit des Bewerbers und dem Profil der Stelle ist deshalb auch in diesem Bereich entscheidend. Wichtig ist es, den richtigen Platz im richtigen Betrieb zu finden, Arbeitsplätze für Menschen zu suchen und nicht Menschen für Arbeitsplätze.

Um Barrieren abzubauen, ist alles hilfreich, was wir aus dem Bereich Empowerment kennen und gelernt haben (Knuf 2006). Dazu gehört die Verstehbarkeit. Es muss leicht sein, einen Zugang zu Arbeit zu bekommen, Angebote müssen transparent sein, der Zugang muss einem erleichtert werden. Schon auf dieser Ebene besteht in den meisten Regionen ein ganz enormer Nachholbedarf Psychisch erkrankte Menschen warten oft sehr lange und nicht selten vergeblich auf Arbeitsangebote. Gerade diejenigen, die nicht durch professionelle Helfer oder tatkräftige Angehörige unterstützt werden, finden oft gar keinen Zugang zu Arbeit.

Auch die Sinnhaftigkeit spielt eine entscheidende Rolle. Arbeit muss in den Augen desjenigen, der sie ausführt, sinnvoll erscheinen. So sollten auch professionelle Kräfte darauf achten, nicht selbst Zugangsbarrieren aufzubauen, beispielsweise in Form von Anforderungen an Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit, die von den Klienten erst erfüllt werden müssen, bevor sie einen Versuch auf dem Arbeitsmarkt unternehmen können. Denn auch scheinbar unmotivierte Klienten können für andere Tätigkeiten plötzlich sehr motiviert sein. Wir müssen uns fragen, wie motivierend die Arbeitsalternativen sind, die wir im Angebot haben, und ob sie für Menschen so sinnstiftend sind, dass sie motiviert werden, emotionale Barrieren zu überwinden.

"Ein barrierefreier Zugang zu Arbeit muss ganz entscheidend von Hoffnung und Zuversicht geprägt sein"

Um Empowerment zu stärken, ist auch die Eröffnung von Wahlmöglichkeiten wichtig. Dazu gehört auch das Recht auf Irrtum und Risiko, die Möglichkeit, auch wieder einen Schritt zurückzugehen, wenn man sich verschätzt hat. Professionelle Mitarbeiter neigen manchmal dazu, ihre Klienten vor schlechten Erfahrungen, Überforderungen und Enttäuschungen bewahren zu wollen. Dies kann aber zur Folge haben, dass sich zu wenige Chancen eröffnen. Sinnvoll ist es vielmehr, Erprobungsmöglichkeiten zu eröffnen, den Zugang zu erleichtern und mit Rückschlägen konstruktiv umzugehen und diese als Erfahrung und nicht als Scheitern zu werten.

Der beste Weg, um Barrieren kleiner zu machen, ist es, Zugänge so leicht wie möglich zu gestalten: Betriebsbesichtigungen, kurze "Schnupperpraktika", Praktika mit geringern Stundenumfang, intensive Begleitung durch Job-Coaches inklusive Unterstützung am Arbeitsplatz sind Möglichkeiten, Ängste abzubauen und motivierende, stärkende Erfahrungen machen zu können. Letztlich müssen professionelle Helfer manchmal auch stellvertretend für die Betroffenen Hoffnung bewahren. Aber gerade im Bereich der Arbeit macht sich oft ein gewisser Pessimismus breit, nicht nur bei den psychisch erkrankten Klienten, sondern auch bei professionellen Helfern, der mitunter dazu führt, es nicht einmal mehr zu probieren. Hintergrund sind oft die bereits genannten emotionalen Barrieren. Ein barrierefreier Zugang zu Arbeit muss daher ganz entscheidend von Hoffnung und Zuversicht geprägt sein.


Entschleunigung

Sachliche Barrieren ließen sich auch abbauen, wenn es leichter wäre, Leistungseinschränkungen durch die psychische Erkrankung dauerhaft finanziell auszugleichen. In manchen Fällen wäre ein dauerhafter, höherer Minderleistungsausgleich sinnvoll bei Mitarbeitern, die langfristig nicht in der Lage sind, eine volle Arbeitsleistung zu erbringen. In anderen Fällen sind es eher die Schwankungen der Leistungsfähigkeit in Krisenzeiten bis hin zu längeren Klinikaufenthalten und Regenerationsphasen, die ausgeglichen werden müssen. Hier könnte man beispielsweise an eine Art "Ausfallversicherung" für den Arbeitgeber denken, die es erlaubt, für personelle Vertretung während längerer Ausfallzeiten zu sorgen.

Sachliche Barrieren können auch abgebaut werden, indem man versucht, die Arbeitsplätze für psychisch Erkrankte zu entschleunigen und ihre innere Uhr zu respektieren, beispielsweise Arbeitszeiten anzupassen, zu flexibilisieren etc. Hilfreich für psychisch Kranke ist auch die Möglichkeit, soziale Stimulation und Lärm oder Ablenkung zu kontrollieren, beispielsweise durch Rückzugsmöglichkeiten in einem Großraumbüro. Ebenso profitieren sie von übersichtlichen betrieblichen Strukturen und klaren Ansprechpartnern. Aber all dies ist nicht nur gut für psychisch erkrankte Mitarbeiter, sondern für alle Arbeitnehmer. Allgemein kann man sagen, dass psychisch Erkrankte nichts anderes brauchen als andere Arbeitnehmer auch, allerdings ein bisschen mehr davon. Viele psychisch erkrankte Menschen fühlen sich wie "Teststäbchen". Sie spüren die Belastungen in der Arbeitswelt früher und deutlicher als andere, aber auch die Kollegen leiden irgendwann darunter. Inklusion bringt insofern auch Vorteile für das Klima in der Arbeitswelt. Die Gesellschaft lebt auch von der Verschiedenartigkeit ihrer Mitglieder.

Emotionale Barrieren gedeihen besonders gut, wenn man wenig miteinander zu tun hat. Deshalb ist Inklusion ein guter Weg, voneinander zu lernen durch echten Austausch. So steigt bei Arbeitgebern, die selbst beruflich oder privat psychisch erkrankte Menschen kennen, deutlich die Bereitschaft, einen psychisch erkrankten Bewerber einzustellen (Baer 2007). Inklusion führt aber manchmal auch dazu, dass man die Verschiedenheit stärker spürt, im Kontakt mit anderen Arbeitnehmern vorgelebt bekommt, was man selbst nicht ist. Deshalb haben auch Sonderwelten wie beispielsweise Werkstätten für behinderte Menschen für einen Teil der Betroffenen ihre Berechtigung, nämlich dann, wenn Ängste und Befürchtungen so ausgeprägt sind, dass nur in diesem Umfeld ein barrierefreier Zugang zu Arbeit möglich ist, zumindest für eine gewisse Zeit. Sonderwelten völlig abzuschaffen hieße, neue Barrieren beim Zugang zu Arbeit für psychisch Kranke aufzubauen.

Firmen, Betriebe und Arbeitsplätze sind immer auch Sozialräume, in denen es gelingen kann, Menschen zu aktivieren und nicht psychiatrische Unterstützung zu mobilisieren. Eine der größten Barrieren in den Köpfen ist die Gleichsetzung von versicherungspflichtiger Beschäftigung mit Erfolg. Was zählt, ist die berufliche Teilhabe. Diese ist bunt und vielfältig; es gibt viele Möglichkeiten, Arbeit so zu gestalten, dass psychisch Kranke und ihre Arbeitgeber positive, stärkende Erfahrungen machen.


Dr. Irmgard Plößl ist Diplom-Psychologin und Leiterin des Rehabilitationszentrums Rudolf-Sophien-Stift in Stuttgart. Bei dem Artikel handelt es sich um die bearbeitete Fassung ihres Vortrags, gehalten am 11. Februar 2011 in Stuttgart auf dem Fachtag "Arbeit für alle" des DGSP-Fachausschusses Arbeit und Beschäftigung.
Kontakt: Dr. Irmgard Plößl, Rehabilitationszentrum Rudolf-Sophien-Stift, Schockenriedstr. 40, 70565 Stuttgart; E-Mail: ploessl@rrss.de


Literatur:

AMERING, M./SCHMOLKE, M. (2007): Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn.
ANGERMEYER, M.C. (2000): Schizophrenie und Lebensqualität. In: Fortschr. Neurol. Psychiat. 68. Sonderheft 1. S2-S6.
BAER, N. (2007): Würden Sie einen Behinderten anstellen? In: Zeitschrift für Sozialhilfe, 1, 32-33.
BAER, N./FASEL, T. (2009): "Sie wäre so begabt". Die Arbeitssituation von Menschen nach Psychosen. In: Familiendynamik, 4, 346-359.
BRIEGER, P./WATZKE, S./GALVAO, A./HÜHNE, M./GAWLIK, B. (2006): Wie wirkt berufliche Rehabilitation und Integration psychisch kranker Menschen? Ergebnisse einer kontrollierten Studie. Bonn.
KNUF, A. (2006): Empowerment in der psychiatrischen Arbeit. Bonn.
PRIEBE, S. (1999): Welche Ziele hat psychiatrische Rehabilitation, und welche erreicht sie? In: Psychiatr. Praxis, 26, Sonderheft 1, S. 36-40: Psychiatr. Praxis, 29, S. 68-75.
WARNER, R. (2004). Recovery from Schizophrenia. Psychiatry and Political Economy (3rd ed). Hove and New York.


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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 134 - Heft 4, Oktober 2011, Seite 18 - 20
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2011