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BERICHT/351: Aus erster Hand - Einblicke in die Betheler Psychiatrie (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Januar 2012

Aus erster Hand: Einblicke in die Betheler Psychiatrie
Fortschritte mussten hart erkämpft werden

von Petra Wilkening


Wilhelm Biermann kannte fast alle Patienten im Haus Morija mit Namen. Als Sohn des langjährigen Hausvaters wuchs er von 1932 bis 1950 in der größten Betheler Einrichtung für psychisch kranke Menschen auf. "Wir waren Hausgenossen, und die Patienten besprachen ihre Sorgen auch mit uns Kindern." Mit Wilhelm Biermann startete Ende Oktober in der Historischen Sammlung in Bielefeld-Bethel eine Veranstaltungsreihe zur Geschichte des Arbeitsfeldes Psychiatrie.


Die Einrichtung Morija umfasste zwei Häuser mit zehn Stationen und 200 Patienten. Die Eltern von Wilhelm Biermann - der Vater war Nazareth-Diakon - hatten zuvor das kleinere Haus Enon geleitet. Um sich "ein wenig Wissen" über psychisch kranke Menschen anzueignen, habe der Vater den "Irrenpflegekurs" Nazareths absolviert. Aus heutiger Sicht scheint Wilhelm Biermann die Leitung des großen Morija eine "glatte Überforderung" seiner Eltern gewesen zu sein. "Schon damals wäre Teamarbeit notwendig gewesen!" Von Hauseltern sei der "tätige Einsatz mittendrin" erwartet worden. Die Familie, zu der sechs Kinder gehörten, wohnte direkt unter der Station der Selbstzahler. "Darauf mussten wir bei allem Rücksicht nehmen, auch beim Streiten und Weinen", erzählte Wilhelm Biermann, der der Benjamin im Haus war. Die Hausväter hatten dafür zu sorgen, dass umgesetzt wurde, was die Anstaltsärzte anordneten. Erfolgreiche Therapien gab es allerdings noch nicht. "Ich habe die Ratlosigkeit mitbekommen", so Wilhelm Biermann. "Es gab nur große Schlafsäle, und wenn dort jemand 'unruhig' wurde, kam er ins Bad." Nach einer Woche seien die Patienten matt und verschrumpelt wieder herausgekommen. "Das war eine Tortur." Auch die vorübergehende Isolation in "Stübchen" oder die gefürchtete Elektroschocktherapie seien schreckliche Ereignisse für die Patienten, aber ebenso für die Nazareth-Diakone gewesen. "Die Brüder haben es sich damit nicht leicht gemacht."

Wilhelm Biermann lebte mit kultivierten, aber auch ganz schlichten Menschen zusammen. Er sei in einem Klima aufgewachsen, in dem die Würde der Patienten trotz ihrer Erkrankung nicht abhanden gekommen sei. Seine Vorbilder waren die Pastoren in Bethel und Eckardtsheim, und hier galt: Es gibt kein unwertes Leben. Als Kind sei er allerdings vom Antisemitismus angesteckt gewesen. Sein Vater wies ihn aber erfolgreich zurecht. Als eines Tages die Stühle der beiden jüdischen Patienten leer blieben, sei allen klar gewesen, dass etwas Schreckliches passiert sei. Auch die Diakonenkinder hätten irgendwann über Euthanasie und Deportation Bescheid gewusst.

Bettenmachen, Putzen und Füttern - das waren die Aufgaben von Rudolf Kersten und Dieter Thane, als sie Anfang der 1960er-Jahre während ihrer Diakonenausbildung dem Haus Morija zugewiesen wurden. Dieter Thane war 19 Jahre alt, Rudolf Kersten 22. Mit psychisch kranken Menschen hatten sie bis dahin nichts zu tun gehabt. "Wir bekamen den Brüderkittel an, wurden durch fange Gänge zur Station C 3, einem Wachsaal mit 17 Betten, geführt, und dann hieß es: 'So, hier können Sie anfangen'", berichtete Dieter Thane in der zweiten Veranstaltung Mitte November. Er habe an seinem ersten Arbeitstag noch nicht einmal gewusst, wo er abends in dem Haus schlafen würde. "Wir hatten keinen Ansprechpartner. Den Hausvater haben wir erst nach ein paar Tagen gesehen."


Gespräche unnötig

Dauerbäder erlebten die beiden Anfang der 1960er-Jahre nicht mehr, und es gab schon die ersten Psychopharmaka, aber von grundlegenden Veränderungen war die Psychiatrie noch weit entfernt. Schizophren, manisch-depressiv, dement - diese Differenzierungen habe man damals noch nicht gekannt. "Und niemand horchte in die Patienten hinein, um zu erfahren, was sie beschäftigt. Das war ja nicht nötig, denn die Ärzte wussten selbstverständlich, was gut ist", blickte Rudolf Kersten zurück. "Man sollte nicht unnötig mit den Patienten reden, um sie nicht zu erregen oder auf dumme Gedanken zu bringen", bestätigte auch Schwester Lisa Lahmann, die zur selben Zeit in Kidron, damals eine Einrichtung für psychisch kranke Frauen, arbeitete. Das Gebot wurde von ihr aber nicht befolgt. "Die Arzte kamen einmal in der Woche zur Visite und verordneten Medikamente, als es die dann gab. Aber die Therapie kam nicht von den Ärzten, die haben wir Mitarbeiterinnen gemacht, indem wir uns um die Patientinnen gekümmert haben", so die Diakonisse, die elf Jahre lang in Kidron tätig war. Ihr Ziel war es, für die chronisch kranken Frauen in der Einrichtung einen möglichst normalen Alltag zu schaffen. Dazu redete sie mit ihnen und erkundigte sich nach ihren Interessen und ihrem Befinden.


Große Verwerfungen

Wer es wagte, die Gegebenheiten in der Psychiatrie zu kritisieren, habe als aufsässig gegolten, betonte Diakon Thane. Anfang der 1970er-Jahre ließen sich Veränderungen aber nicht mehr aufhalten. Impulse seien auch von den Zivildienstleistenden gekommen, die viel hinterfragt hätten, erläuterte Diakon Rudolf Kersten. "Wir begannen, mit den Patienten therapeutische Gemeinschaften zu bilden. Jeder war Therapeut und Therapierter." Die Patienten zu Wort kommen zu lassen brachte eine neue Qualität in die Psychiatrie. Da das alte System einfacher zu handhaben gewesen sei, habe es allerdings innerhalb der Mitarbeiterschaft große Verwerfungen gegeben. Und auch die Patienten seien nicht alle begeistert davon gewesen, dass sie die bisherige "Totalversorgung" gegen eine gewisse Selbstständigkeit eintauschen sollten, so Rudolf Kersten. Sich auf einmal das Brot selbst schmieren zu müssen sei von manchen als Verlust empfunden worden.

Im Sommer 1984 kam Dr. Niels Pörksen nach Bethel. Bereits 1979 hatte Bethel einen Teil der psychiatrischen Pflichtversorgung in der Stadt Bielefeld übernommen und bereitete sich seit 1981 mit dem "Aktionsprogramm Psychiatrie" auf die Versorgung der gesamten Stadt vor. Zu den Neuerungen gehörte, dass die Patienten aus Morija in neue Langzeithäuser zogen und Morija an das Krankenhaus Gilead angegliedert wurde. Niels Pörksen kam in Begleitung seines Assistenten Günther Wienberg, der heute dem Bethel-Vorstand angehört. Beiden habe der Ruf einer revolutionären Zelle angehaftet, berichtete Dr. Pörksen im dritten Teil der Veranstaltungsreihe Ende November. "Die Betheler Ortschaftsphilosophie besagte: Wir beheimaten die Menschen hier und holen noch ein paar normale Leute herein." Niels Pörksen aber war ein führender Vertreter der Gemeindepsychiatrie und Mitinitiator des Mannheimer Kreises, dem kritische reformwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Psychiatrie angehörten.

"Man muss die Menschen aus den großen Häusern holen. Jeder muss einmal im Leben die Tür hinter sich zumachen können", beschrieb Dr. Niels Pörksen die damals neue Leitidee. "Enthospitalisierung" war das Ziel, und der "Leitfaden zur Entwicklung von Lebensperspektiven" von Jürgen Lempert aus der Planungsabteilung wurde ein wichtiges Instrumentarium in den Langzeitbereichen. Das Echo auf die angestrebten Reformen war geteilt. Bethel habe Angst gehabt, dass das ganze Anstaltsgefüge zusammenbrechen würde - und Bielefeld habe befürchtet: "Jetzt kommen alle zu uns", so Dr. Niels Pörksen.


Novum in Klinikleitung

Klausuren fanden statt, um neue Strukturen zu entwickeln und Zuständigkeiten zu klären. "Das war dringend notwendig, weil wir ab 1985 für ganz Bielefeld zuständig waren", schilderte der Psychiatrie-Experte. "Trotzdem mussten wir uns bis hin zur Vorstandsebene rechtfertigen." Es sei eine schwierige, konfliktreiche Zeit gewesen, und er habe manches Mal mit seiner Entlassung gerechnet. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten die neuen Entwicklungen begrüßt, aber es sei nicht gelungen, alle ins Boot zu holen. "Wenn man das will, bekommt man keine Veränderungen hin", gab Niels Pörksen zu bedenken. "Teilweise mussten Leitungen ausgewechselt werden. Kränkungen waren unvermeidbar." Kränkungen, die bis heute anhalten, wie Bärbel Bitter, Leiterin der Historischen Sammlung Bethel und Organisatorin der Veranstaltungsreihe, aus Telefonaten erfahren hat.

Lange hatten die Ärzte eine Vormachtstellung eingenommen. Noch Anfang der 1980er-Jahre, als es bereits neue therapeutische Berufe gab, durften Psychologen laut einer Dienstanweisung nicht mit psychisch kranken Patienten in einer Krise reden. Das habe als antitherapeutisch und schädlich gegolten, so Dr. Pörksen. Mit Diplom-Psychologin Renate Schernus, die auch zum Mannheimer Kreis gehörte, wurde zum ersten Mal eine Nicht-Ärztin Leiterin einer Klinik. Sie übernahm 1985 die Leitung der Rehabilitationsklinik Pniel für mittelfristige psychiatrische Behandlung.


Dynamische Zeit

Das Haus Westeck mit Angeboten wie Wohntreff und Freizeitinitiativen, die Behandlungsvereinbarung und der Trialog - das Dreiergespräch zwischen Patienten, Professionellen und Angehörigen -, der Verein Psychiatrie-Erfahrener, die gerontopsychiatrische Tagesstätte und Tagesklinik in der Moltkestraße - sie sind Beispiele für den damaligen Fortschritt in der Psychiatrie. "Es war eine unglaublich lebendige und dynamische Zeit", erinnerte sich Niels Pörksen. Von Renate Schernus aus dem Publikum gab es Zustimmung: "Wir haben Glück gehabt, dass wir diesen Aufbruch erlebt haben. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen gar nicht, wie das, was heute selbstverständlich ist, erkämpft werden musste."

Aber auch heute ist die Arbeit in der Psychiatrie nicht frei von Veränderungen und Konflikten. Die Fachlichkeit nehme ab, weil es eine Spezialisierung unter ökonomischen Gesichtspunkten gebe, eine Modularisierung, die nicht mehr ganzheitlich denke, kritisierte Renate Schernus. Und Bethel-Mitarbeiterin Else Leuthardt benannte neue Sorgen durch die Umstrukturierungen im heutigen Bereich Integrationshilfen des Stiftungsbereichs Bethel. regional. Aufgrund fachlicher Überschneidungen wurde die Trennung von Psychiatrie, Sucht und Wohnungslosenhilfe 2010 aufgehoben, und es wurden Zentren gebildet, in denen alle Hilfen aus einer Hand angeboten werden. "Mitarbeitende fühlen sich unsicher, weil sie nicht entsprechend geschult sind", so Else Leuthardt. Und auch mit einer anderen Veränderung sei nicht jeder einverstanden: Seit 2010 sind die Arbeitsaufträge Hilfeplanung, Präsenzdienst, Alltagsbegleitung und Tagesstruktur getrennt und werden von unterschiedlichen Teams übernommen. "Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind aber nach wie vor bereit, Neues auszuprobieren. Das ist beachtlich hier in Bethel", gab es Lob aus dem Publikum.


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Quelle:
DER RING, Januar 2012, S. 19-21
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2012