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BERICHT/352: (K)ein Wunschkind? Zur Situation von Eltern behinderter Kinder (ISAAC)


UNTERSTÜTZTE Kommunikation - isaac's zeitung
International Society for Augmentative and Alternative Communication 1-2012

(K)ein Wunschkind?
Zur Situation von Eltern behinderter Kinder

von Ursula Braun



Eltern zu werden ist für viele Menschen ein unverzichtbarer Teil ihres eigenen Lebensentwurfes. Entsprechend groß ist in der Regel die Vorfreude auf dieses Ereignis, nicht nur bei den werdenden Eltern selbst, sondern häufig auch bei den nahen Familienmitgliedern. Die neue Rolle als Vater und Mutter ist zwar für alle Menschen eine große Herausforderung, aber im Rückgriff auf tradierte Verhaltensmuster und eigene Erfahrungen, in Gemeinsamkeit mit anderen Familien und im Schutz von öffentlichen Hilfssystemen gelingt es den meisten Familien, eine Atmosphäre zu schaffen, in der ein Kind den Schutz und die Unterstützung erfährt, die es zum Heranwachsen benötigt. Das Leben mit eigenen Kindern bedeutet für die Eltern zwar eine zusätzliche Belastung, doch werden sie von den Erlebnissen mit ihren Kindern, von den kleinen und großen Erfolgen ihrer Sprösslinge und von der gesellschaftlichen Anerkennung, die Eltern zuteil wird, aufgewogen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass das eigene Kind mit einer Behinderung geboren werden könnte, wird von den meisten Menschen verständlicherweise verdrängt. So berichten nahezu alle Eltern, dass die Nachricht über die Behinderung ihres Kindes ein vollkommenes Schockerlebnis für sie darstellte (vgl. Fröhlich 1993, Sarimski 1998, Kallenbach 1999). An die Stelle der zu erwartenden positiven Glücksgefühle tritt für diese Familien Verunsicherung, Traurigkeit und Angst. Die bisherigen Pläne und Wünsche werden durchkreuzt, medizinisch notwendige Maßnahmen und lange Krankenhausaufenthalte des Neugeborenen bedeuten eine zusätzliche Belastung für die Eltern und erschweren die erste Kontaktaufnahme mit dem Baby. Auch die soziale Umwelt zeigt sich in der Regel verunsichert. Bezeichnend erscheint, dass viele Eltern die Erfahrung machen müssen, dass kaum Glückwünsche zur Geburt des Kindes eintreffen und viele Bekannte den Kontakt zur Familie vermeiden (vgl. u.a. Förderer 1999, 105).

In Anlehnung an Jonas (1990), die sich damals auf die Mütter schwerstbehinderter Kinder konzentrierte, lässt sich auch heute noch die Situation von Müttern und Vätern behinderter Kinder als ein dreifaches Verlusterlebnis beschreiben:

1. Der Verlust des idealen Kindes

Alle werdenden Eltern machen sich Vorstellungen davon, wie ihr Kind sein wird und wie das Leben als Familie einmal aussehen könnte. Die Behinderung eines Kindes passt nicht in derartige Fantasien, so dass das Bild, das Eltern sich gemacht haben, anhand des Kindes relativiert und verändert werden muss.

2. Der Verlust der Vorstellung von sich selbst als Eltern

Die speziellen Anforderungen, die die Behinderung eines Kindes an seine Eltern stellt, sprengen alle üblichen Erfahrungswerte. Die Eltern können nur sehr selten auf Vorbilder zurück greifen und müssen nicht nur in die neue Rolle als Eltern eines Kindes hinein wachsen, sondern darüber hinaus auch noch in die Rolle der Eltern eines behinderten Kindes. Auch das erfordert von ihnen eine große Anpassungsleistung und den schmerzhaften Abschied von eigenen Wünschen und Vorstellungen.

3. Der Verlust der sozialen Stellung

Die Geburt eines behinderten Kindes wirkt sich zudem massiv auf die soziale Stellung einer Familie aus. Auf der einen Seite werden hohe Erwartungen an Opferbereitschaft und Selbstaufgabe der Eltern, insbesondere der Mütter, gestellt. Gleichzeitig jedoch sehen sich die Familien häufig einem schleichenden Vereinsamungsprozess ausgesetzt, da der Kontakt mit anderen sich durch die Besonderheit des eigenen Kindes nicht immer problemlos gestalten lässt. Wenn das Verhalten des behinderten Kindes nicht in die erwarteten sozialen Muster passt, so sehen sich die Eltern immer wieder auch versteckten oder offenen Vorwürfen ausgesetzt, die ihre Eignung in der Elternrolle in Frage stellen.

Die schwierige Situation, in denen sich Familien nach der Geburt eines Kindes mit Behinderungen befinden, werden in zahlreichen Phasenmodellen zu verdeutlichen versucht (z.B. Schuchardt 2002). Dabei gilt zu bedenken, dass solche Modelle immer einen idealtypischen Charakter haben, der einzelnen Familiensystemen in ihrer spezifischen Besonderheit nur annäherungsweise gerecht werden kann.

Eines der frühesten Modelle, das Verarbeitungsprozesse aufzeigt und auf das sich im wesentlichen die weiteren Modelle stützen, stammt von Elisabeth Kübler-Ross (1983) aus ihrer Arbeit mit Menschen, die von einer unheilbaren Krankheit erfahren haben. Sie schildert einen Verlauf von fünf Phasen, der in ähnlicher Form von vielen Eltern behinderter Kinder erlebt wird:

Phase 1: Nicht-Wahrhaben-Wollen

Die erste Reaktion auf die Diagnose besteht in der Hoffnung, dass es sich um einen Irrtum handeln könnte. Die beunruhigende Information passt so wenig in das bisherige Selbstkonzept, dass häufig die Fachlichkeit des Diagnostikers in Frage gestellt wird und andere Fachleute aufgesucht werden. Für die Psyche ist diese Phase hilfreich, denn sie dient als Puffer zwischen dem emotionalen Entsetzen und der Realisierung der unveränderlichen Tatsachen.

Phase 2: Zorn

In der zweiten Phase entwickeln viele Menschen Gefühle von Zorn, Groll und Wut und die Frage: "Warum gerade ich?" steht im Vordergrund des Verarbeitungsprozesses. Neid auf andere, die nicht vom gleichen Schicksal betroffen sind, kann entstehen und um die eigene Familie herum werden überwiegend Familien mit gesunden Kindern wahrgenommen.

Phase 3: Verhandeln

Häufig folgt eine Zeit, in der die Familien alles erdenklich Mögliche unternehmen, um die Folgen der Behinderung zu minimieren. Hier besteht die große Gefahr der eigenen Überforderung bzw. der Überforderung des Kindes, wenn ein Tagesablauf in erster Linie durch therapeutische und medizinische Maßnahmen geprägt wird und familiäre Bedürfnisse zu wenig Berücksichtigung finden.

Phase 4: Trauer/ Depression

Mit der Erkenntnis, dass trotz aller Bemühungen die Tatsache der Behinderung des eigenen Kindes nicht abgewendet werden kann, folgt ein notwendiger Trauerprozess, denn der Schmerz, den diese Einsicht zwangläufig mit sich bringt, muss Ausdruck finden können. Bei einigen Müttern und Vätern führen unbewusste und unbegründete Schuldgefühle jedoch zu einem Zustand lähmender Depression.

Phase 5: Zustimmung/Annahme

Ein geglückter Verarbeitungsprozess mündet in Phase 5 in die Annahme des eigenen Schicksals und Solidarität, positive Aktivität und häufig Solidarität mit ähnlich betroffenen Familien.

Es wird deutlich, dass die positive Annahme eines behinderten Kindes einen in der Regel krisenhaften, häufig lebenslangen Prozess darstellt. Immer wieder werden die Eltern besonders in den Übergangssituationen (Kindergartenwahl, Schulwahl, berufliche Situation, Leben außerhalb des Elternhauses, Altersversorgung) vor neue Herausforderungen gestellt. Wie schwierig es für diese Eltern angesichts ihrer lange notwendigen permanenten Elternrolle erscheint, sich von ihren jugendlichen und erwachsenen Kindern zu "entpflichten" (vgl. Wilken 2003), lässt sich von Nicht-Betroffenen nur erahnen. Dazu kommt, dass trotz aller politischen Bekenntnisse zur UNO-Konvention gegen die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen faktisch nach wie vor eine behindertenfeindliche Haltung in unserer Gesellschaft vorherrschend ist, man denke nur an die Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche bei behinderten Ungeborenen (vgl. Kunz 2011)

Somit erscheint die Lebensaufgabe, der Eltern behinderter Kinder als eine ausgesprochen schwierige Leistung, die es zu würdigen gilt. Umso weniger kann toleriert werden, wenn diese Eltern in der Praxis immer wieder auf vermeintliche Fachleute stoßen, die ihnen subtil oder offen unterstellen, "die Behinderung ihres Kindes noch nicht ausreichend verarbeitet zu haben". Anstelle von derartigen Pseudo-Psychologisierungen benötigen Eltern ressourcenorientierte Unterstützung durch Fachkräfte, die ihnen im Sinne des "Empowerments" (vgl. Wilken 1997) auf ihrem individuellen Bewältigungsprozess zur Seite stehen. Entscheidend für den gelingenden Familienalltag, so haben Befragungen von betroffenen Eltern gezeigt, sind dabei folgende Faktoren (Seifert 2003, 44ff).

• Innerfamiliäre Ressourcen (Persönlichkeitsmerkmale, Beziehungen, Interaktion, Lebensbedingungen und Lebenserfahrungen der Familienmitglieder)

• Soziale Netzwerke (Unterstützersysteme über andere Familienangehörige, Freunde, Selbsthilfegruppen, Gemeinde etc.)

• Formale Unterstützungssysteme (Frühförderzentren, Kindergärten, Schulen, teilstationäre und stationäre Einrichtungen, familienentlastende Hilfen, Beratungsangebote etc.)

• Materielle Hilfen

Festzuhalten bleibt also: Kein Elternteil wünscht sich ein behindertes Kind, aber in ihren Familien sind Kinder mit Behinderungen dennoch berechtigterweise Wunschkinder, die das Leben bereichern!


Literatur:

Förderer, M. (1999): Stephan - Rückblick auf ein kurzes Leben. In: Kallenbach,K. (Hrsg.): a.a.O., 101-107

Fröhlich, A. (1993): Die Mütter schwerstbehinderter Kinder. Heidelberg

Jonas, M. (1990): Behinderte Kinder - behinderte Mütter? Die Unzumutbarkeit einer sozial arrangierten Abhängigkeit. Frankfurt am Main

Kallenbach, K. (1999) (Hrsg.): Väter behinderter Kinder. Düsseldorf Kübler-Ross, E. (1983). Interviews mit Sterbenden. Stuttgart

Kunz, H.: Soll mein Kind leben?
http://www.oeko-net.de/kommune/kommune2-98/dkunz2.htm, Stand Dezember 2011

Sarimski, K. (1998): Pädagogisch-psychologische Begleitung von Eltern chromosomal geschädigter Kinder. In: Geistige Behinderung 4/98, 323-334

Schuchardt, E. (2002): Warum gerade ich? Leben lernen in Krisen, 11. überarbeitete und erweiterte Auflage, Göttingen

Seifert, M. (2003): Mütter und Väter von Kindern mit Behinderungen. Herausforderungen - Erfahrungen - Perspektiven. In: Wilken, U.; Jeltsch-Schudel, B. (Hrsg.). a.a.O., 43-59

Terbeck, S. (2002). "Wenn das Lachen plötzlich erlischt". Eine empirische Untersuchung zur Lebenssituation von Familien mit einem schwerstbehinderten Intensivkind. Diplomarbeit. Katholische Fachhochschule Münster

Wilken, U. (1997): Empowerment. In: Sonderpädagogik 1

Wilken, U. (2003): Der Beratungsbedarf von Eltern in der Begleitung und Betreuung volljähriger behinderter Kinder. In: Wilken, U.: Jeltsch-Schudel, B. (Hrsg.): a.a.O., 156-173

Wilken, U., Jeltsch-Schudel. B. (2003) (Hrsg.): Eltern behinderter Kinder. Stuttgart

Kontakt:
Ursula.Braun@gmx.de

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Quelle:
UNTERSTÜTZTE KOMMUNIKATION - ISAAC's Zeitung, 17. Jahrgang 2012, Nr. 1/2012, S. 7-8
Herausgeberin:
ISAAC, Gesellschaft für unterstützte Kommunikation e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2012