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BERICHT/357: Informationsforum Epilepsie - "Keine strengen Altersgrenzen für Transition!" (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - August 2012

Informationsforum Epilepsie
"Keine strengen Altersgrenzen für Transition!"

Von Gunnar Kreutner



Der erste Schultag - für Eltern wie Kinder ist das ein großes und eigentlich schönes Ereignis. Ganz anders sieht es oft aus, wenn das Kind an einer Epilepsie leidet. "Dann blicken viele Eltern diesem Tag mit sehr gemischten Gefühlen entgegen", weiß Frank Thies, Leiter der Mamre-Patmos-Schule in Bielefeld-Bethel. Denn genauso wie der erste Kindergartentag oder der Start in eine Berufsausbildung bedeutet dieser Übergang in einen neuen Lebensabschnitt für alle Beteiligten eine enorme Herausforderung.


Wie gelingt es, Kindern und Jugendlichen mit Epilepsie den Übergang in eine neue Entwicklungsstufe ohne übergroße Ängste zu ermöglichen? Auf diese Frage erhielten Eltern Ende Juni Antworten beim Informationsforum Epilepsie in Bielefeld-Bethel. Zehn Referenten - Pädagogen, Psychologen, Ärzte und Eltern - gaben in der Aula der Mamre-Patmos-Schule Hilfestellung aus ihrem jeweiligen Blickwinkel. Die gemeinsame Veranstaltung der Beratungsstelle Bethel und der Kinder-Epilepsieklinik Kidron sollte auch dazu beitragen, die Verständigung zwischen Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten weiter zu verbessern.

Das Thema des Forums "Übergänge gestalten durch Angstbewältigung und sichere Bindungen" beschäftigt die Eltern. Sie waren teilweise von weither angereist, wie Auto-Kennzeichen aus Würzburg, Frankfurt, Hamburg oder Erfurt verrieten. Der zentrale Begriff an diesem Tag lautete "Transition" - der Fachbegriff für "Übergang".


Viele Sorgen

Für Frank Thies ist die Schule "die Transitionsinstanz schlechthin". Denn idealerweise begleite sie den Menschen von der Kindheit bis in das Erwachsenenleben. Der Schulleiter kennt die Befürchtungen und Fragen der Eltern, wenn der erste Schultag naht: Wie wird die Schule mit meinem Kind umgehen? Wird es Freunde finden? Werden die anderen Schüler mein Kind ernst nehmen, wenn sie mit der Epilepsie konfrontiert werden? Und ist es nicht zu gefährlich, wenn es vielleicht unbeaufsichtigt an einem Treppengeländer entlanggeht?

Viele Eltern bitten um eine Zurückstellung ihres Kindes, um Zeit für die Reifung zu gewinnen. Das könne in bestimmten Fällen eine gute Idee sein, um den Schulstart zu erleichtern, zum Beispiel, wenn ein Krankenhausaufenthalt anstehe, findet Frank Thies. Trotzdem solle man das Lebensalter der Kinder bedenken. "Denn sonst wird ein siebenjähriges Kind vielleicht mit einem fünfeinhalbjährigen zusammen unterrichtet, und das ist oft nicht gut", weiß der Pädagoge.

Frank Thies wichtigste Empfehlung für den Übergang in das Schulleben: "Gehen Sie ehrlich mit der Schule bezüglich der Epilepsie Ihres Kindes um! Ansonsten gibt es eventuell kritische Fragen, wenn etwas passiert." Der erste große Anfall könne für alle Beteiligten zu einem großen Problem werden. Außerdem werde das Kind eher zu einem Außenseiter, wenn das Umfeld nichts von der Erkrankung wisse. "Es entsteht Misstrauen und Unsicherheit", so Frank Thies. Offenheit und Aufklärung hingegen sorgten für Handlungssicherheit bei allen.


Emotionale Bindung

Für den Diplompsychologen Friedrich Kassebrock, Leiter der Beratungsstelle Bethel, ist die emotionale Bindung von besonderer Bedeutung für eine gelingende Transition. Die Entwicklung des Kindes baue auf die emotionale Sicherheit auf. Positive Erfahrungen mit den Eltern übertrage es später auf neue Menschen in seinem Umfeld, zum Beispiel beim Übergang in den Kindergarten. "Das fängt schon beim Laufenlernen an", weiß Friedrich Kassebrock. "Ein Kind mit Epilepsie darf keine Angst vor Stürzen haben. Darum sind die Eltern gefordert, es dabei nicht überzubehüten." Wenn Kinder die emotionale Sicherheit und Bindung nicht positiv erlebt hätten, hätten sie später oft Mühe, sich auf neue Herausforderungen außerhalb der Familie einzustellen, und reagierten ängstlich. Gerade Kinder mit Epilepsie benötigten "nachhaltig wirksame Bestätigungen, dass sie mit ihren Stärken und Schwächen akzeptiert werden".

Dr. Tilman Polster, leitender Arzt der präoperativen Diagnostik für Kinder und Jugendliche am Epilepsie-Zentrum Bethel, lenkte das Augenmerk auf die "besonders schwierige Phase des Adoleszenz-Prozesses", also der Pubertät und des Erwachsenwerdens. Das Kind wächst in dieser Zeit aus der pädiatrischen Versorgung heraus und wechselt in die Erwachsenen-Versorgung. Viele Jugendliche mit Epilepsie seien mit 18 Jahren aber noch nicht unbedingt erwachsen. Dann sei es problematisch, zu entscheiden, in welchem Versorgungssystem sie besser aufgehoben seien. Dr. Tilman Polster spricht sich darum dafür aus, dass es keine strengen Altersgrenzen für Transition geben darf. Wichtig für die Entscheidung seien zudem die individuellen Wünsche und Bedürfnisse des Jugendlichen. Genauso sieht es die leitende Abteilungsärztin der Kinderepileptologie Kidron, Dr. Elisabeth Korn-Merker: "Junge Menschen, die vom Geist her wie ein Kind sind, sollten von einem Kinderarzt betreut werden."

Die Pubertät ist für Dr. Elisabeth Korn-Merker auch deshalb eine schwierige Entwicklungsphase, weil die Epilepsie sich in dieser Phase oft verändert. Die Betreuung und Förderung würden entsprechend zeitintensiver werden. Gerade beim Übergang in das Erwachsenenalter sei es zudem wichtig, die Selbstständigkeit zu fördern und eine Überbehütung zu vermeiden.


Zentrum für Erwachsene

Eine besondere Herausforderung stellt für Dr. Elisabeth Korn-Merler das Erwachsenwerden bei behinderten jungen Patienten dar, die eine Rundumversorgung benötigen. Ihr Vorschlag: "Man bräuchte so etwas wie ein sozial-'pädiatrisches' Zentrum auch für junge Erwachsene, weil niedergelassene Ärzte diese enge Versorgung nicht leisten können."

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Quelle:
DER RING, August 2012, S. 12-13
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. August 2012