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BERICHT/359: Wenn jemand plötzlich nicht mehr spricht (ISAAC)


UNTERSTÜTZTE Kommunikation - isaac's zeitung
International Society for Augmentative and Alternative Communication 2-2012

Wenn jemand plötzlich nicht mehr spricht

Von Peter Zürcher



Peter Zürcher schildert in seinem Beitrag, wie mit Hilfe von Unterstützter Kommunikation der Kontakt zu einer erwachsenen Frau mit geistiger Behinderung gehalten werden konnte, als sie sich in einer zeitweiligen mutistischen Phase befand.


Wenn eine Person, mit der man fast jeden Tag zusammen ist, plötzlich nicht mehr spricht, tut es etwas mit einem. Schlimmer noch, wenn dieser Mensch, wie bei Selektivem Mutismus, zwar mit andern (meist der Familie) noch spricht, nicht aber mehr mit mir. In solchen Situationen muss nicht nur der betroffenen Person Hilfe angeboten werden, sondern auch den Betreuungspersonen in der Einrichtung. Dabei können u.a. Hilfsmittel der Unterstützten Kommunikation eine Entlastung bewirken und die Kommunikation/Interaktion trotz Verstummens aufrechterhalten. Dass diese Maßnahmen zudem auch noch einer kommunikativen Entwicklung förderlich sind, dies zeigt sich in folgendem Bericht.

Frau S. ist eine sympathische Frau mit einem gewinnenden Lächeln. Sie ist 36 Jahre alt und lebt fast ebenso lange in der Stiftung Wagerenhof in der Schweiz auf einer Wohngruppe zusammen mit sechs Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern. Tagsüber arbeitet sie abwechslungsweise in einem Textil- und einem Lebensmittel-Atelier. Dort ist sie mit ihrer Ausdauer und Zuverlässigkeit eine geschätzte Mitarbeiterin.

Frau S. hat das Down-Syndrom und ist ziemlich selbständig. So kann sie sich auf dem dorfähnlichen Gelände gut orientieren und geht selbständig zur Arbeit oder in die Cafeteria. Sie nimmt gerne Kontakt mit den Leuten, insbesondere den Betreuungspersonen, auf und liebt es, sie zu umarmen. Sie spricht sie mit "Du" an oder, falls bekannt, mit dem entsprechenden Namen. Ihr Wortschatz ist relativ groß, von sich aus spricht sie in der Regel aber nicht viel. Statt sich direkt zu äußern, wird sie in Situationen, die für sie nicht stimmig sind, still oder fängt an zu weinen, Oft muss sie dann zum Sprechen aufgefordert werden. Darauf gelingt es ihr aber meist, ihre Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken. Gefühle und ihre Ursachen zu nennen, dies jedoch ist für sie sehr schwierig. Frau S. hat das Glück, dass einige der Betreuungspersonen auf ihrer Wohngruppe schon seit vielen Jahren dort arbeiten. Ihr ist es nämlich wichtig, dass sie sich auf den ihr bekannten Alltag verlassen kann. Auch möchte sie wissen, was auf sie zukommt.

Vor ein paar Jahren hatte sie eine längere Phase, in der sie mit den Leuten in der Einrichtung nicht mehr sprach, wohl aber mit ihrer Patin. Diese war bis zu ihrem Tod ihre wichtigste Bezugsperson außerhalb der Einrichtung. Sie nahm sich immer wieder Zeit für Frau S., sei es für einen gemeinsamen Ausflug oder für ein Wochenende bei sich zu Hause. Wie es Frau S. in dieser stillen Phase ging, dies lässt sich schwer einschätzen. Offen aber sprachen die Mitarbeitenden ihre Schwierigkeiten im Umgang mit Frau S. aus. Für sie war es nicht einfach, mit einem Menschen zusammen zu sein, der plötzlich nicht mehr mit ihnen sprach. Mitleid, Ungeduld und Unverständnis kamen in ihnen auf und sie erlebten in dieser Situation ihre eigene Ohnmacht Frau S. gegenüber. Leicht kann dies weiteren Druck erzeugen: Sag doch endlich was! Wie geht es dir? Aber du kannst doch sprechen! Warum sprichst du nicht?


Entlastung

Wie kann in solchen Situationen der Druck, der auf beiden Seiten lastet, verringert werden? Verhaltensweisen, die sich nicht erklären und einordnen lassen, können einem oft zu noch mehr Druck verleiten. Deshalb war zu Beginn eine genaue Abklärung durch den internen Arzt angesagt. Die bis anhin noch nicht erfolgte Diagnose "Selektiver Mutismus" brachte eine erste Entlastung. Das Wissen darum entlastet von den eigenen Schuldgefühlen und der oft ergebnislosen und allzu hypothetischen Suche nach den Ursachen des Schweigens. Sie ermöglicht von der eigenen Betroffenheit loszulassen und sich wieder auf sein Gegenüber ausrichten zu können.

Andererseits geht es auch darum, Interaktion/Kommunikation aufrecht zu erhalten. Es ist ja ein bekanntes Phänomen in der Begleitung von Menschen, die auf unsere einfühlsame Beobachtung und Interpretation angewiesen sind, dass auch wir in der Gefahr sind zu verstummen. Damit dies nicht geschieht, dazu kann auch die Unterstützte Kommunikation einen Beitrag leisten. Sie bietet Hilfsmittel, die auch die Betreuungspersonen zur Kommunikation anregen und ihnen beispielsweise im Rahmen einer Betreuungsplanung die Gelegenheiten für positive Zuwendungen vorstrukturieren.

Als weitere Maßnahmen - bei der Diagnose Selektiver Mutismus wird ein mehrdimensionaler Therapieansatz empfohlen - ging Frau S. einige Jahre mit großer Freude in die Musiktherapie. Sie singt sehr gerne, stimmt selber ein Lied an oder fällt mit ein, wenn jemand zu singen beginnt. Interessant ist, dass sie auch in Zeiten, wo sie wenig spricht, dennoch (wenn auch weniger) singen mag. Unterstützend bei Stimmungsschwankungen nimmt sie zudem regelmäßig ein Johanniskrautpräparat.


Hilfsmittel aus der UK

Wenn die gesprochene Sprache, auch zeitweise, nicht möglich ist, dann greifen wir im Alltag auf Gestik und Mimik zurück. Denken wir an Gefühle, die uns wörtlich die Sprache zerschlagen. Da genügt uns auch mal ein kurzes Kopfnicken. Es gilt also einen Schritt zurück zu machen und auf kleinste Äußerungen sowie Initiativen zu achten und diese für Frau S. auszusprechen. Sie bekommt so das Gefühl, dass ihr zugehört und sie verstanden wird.

Orientierung ist, wie schon angesprochen, für Frau S. sehr wichtig. Einerseits orientiert sie sich an den gewohnten Abläufen, andererseits hat sie eine Wochentafel mit Piktogrammen. Dort kann sie selber lesen, was angesagt ist und Änderungen können mit ihr dort visualisiert werden. Dabei hat sie gelernt, dass sie auch auf die Bilder zeigen kann, um etwas zu sagen. Abhängigkeit und Druck zum Sprechen werden so kleiner. Auf einer weiteren Tafel für die ganze Wohngruppe kann sie, die Schrift nicht versteht, lesen, welche Betreuungsperson kommt oder wer in den Ferien ist. Dabei kann es wichtig sein, dass eindeutig bezeichnet wird, wo genau abwesende Mitarbeitende sind. So wird für Frau S. verständlicher, dass diese möglicherweise wieder zurückkommen. Die Piktogenda (Agenda mit Piktogrammen) ist ein weiteres Hilfsmittel, um mittels alternativen sprachlichen Zeichen zu kommunizieren. Regelmäßig eingesetzt, bietet sie willkommene Sprachanlässe nicht nur für Frau S., sondern auch für die Betreuungspersonen. Jeden Abend wird der vergangene wie auch der kommende Tag besprochen. Erlebtes wird sowohl zu Hause, wie auch an der Arbeit eingeschrieben, bzw. eingeklebt (vorbereitete Kleber mit Piktogrammen, Fotos) oder hinein gezeichnet. So kann Frau S. anderen Personen, die nicht direkt dabei waren, darüber erzählen bzw. die Gesprächspartner können Frau S. zu einem Gespräch animieren.


Kommunikative Entwicklung

All diese Maßnahmen dienen natürlich nicht nur dazu, die Kommunikation trotz Verstummens aufrecht zu erhalten. Sie fördern auch die sprachlichen Möglichkeiten von Frau S.. So ist nicht nur die "Sprachlosigkeit" überstanden, bzw. werden die Zeiten, in denen Frau S. weniger sprechen mag und die es immer noch gibt, als etwas akzeptiert, was zu ihrer Persönlichkeit gehört. Sichtbar wird auch, dass Frau S. sprachliche Fortschritte gemacht hat und sich vermehrt von sich aus meldet, etwas erzählen möchte oder eine Feststellung macht: "Es isch Früehlig!" - "Was willst du machen?" - "Go schaukle." (Es ist Frühling! - Schaukeln gehen.)


Kontakt:

Peter Zürcher
Stiftung Wagerenhof
Unterstützte Kommunikation
Asylstrasse 24
CH-8610 Uster
peter.zuercher@wagerenhof.ch

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Quelle:
UNTERSTÜTZTE KOMMUNIKATION - ISAAC's Zeitung, 17. Jahrgang 2012, Nr. 2/2012, S. 22-23, 26
Herausgeberin: ISAAC, Gesellschaft für unterstützte Kommunikation e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2012