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BILDUNG/294: Ende der Sonderbehandlung? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 08/2010

Ende der Sonderbehandlung?
Die Kirchen und das neue Selbstverständnis von Menschen mit Behinderung

Von Simone Bell-D'Avis


Nachdem Deutschland im vergangenen Jahr die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert hat, sind eine Reihe von gesellschaftlichen Veränderungen abzusehen. Auch die Kirchen müssen in Seelsorge und Sozialarbeit darauf reagieren.


Wer heute über 40 Jahre alt ist, kennt den "Großen Preis" mit Wim Thoelke, dessen Erlös der "Aktion Sorgenkind" zu Gute kam. Welch ein Fortschritt, sprach man doch nicht mehr von Krüppeln, Idioten oder Deppen, sondern von "Sorgenkindern", denen Fürsorge und Spendengelder zu Gute kommen sollten. Doch während sich der Begriff des Sorgenkindes in manchen Herzen und Köpfen bis heute erhalten hat, hat die frühere "Aktion Sorgenkind" ihren Namen und den Ansatz ihrer Arbeit längst erneuert. Heute handelt es sich um die "Deutsche Behindertenhilfe - Aktion Mensch".

Welcher Paradigmenwechsel liegt dieser Umbenennung zugrunde? Welche Rolle spielt inzwischen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen? Und inwiefern sind diese Rechte im Blick der Kirche, nachdem die Deutschen Bischöfe 2003 die Erklärung "Unbehindert Leben und Glauben teilen" veröffentlicht haben? Ist es wirklich schon normal, verschieden zu sein?

Eine Gesellschaft ohne Behinderungen ist eine Illusion

In Deutschland leben zurzeit etwa sieben Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung. Als Behinderung gelten körperliche und geistige Behinderungen, Behinderungen der Sinne, also des Hör- und Sehvermögens, Beeinträchtigungen, die durch chronische Erkrankungen und Unfälle entstanden sind und psychische Behinderungen, zu denen die Altersdemenz ebenso zu zählen ist wie Abhängigkeitserkrankungen. Statistisch erfasst werden bei den Menschen mit Behinderungen allerdings nur diejenigen, die im Laufe ihres Lebens einen Schwerbehindertenausweis erhalten haben, also einen Grad von 50 Prozent und mehr an Behinderung aufweisen.

Aufgrund der demografischen Entwicklung nehmen altersbedingte Behinderungen zu. Zurzeit leben in Deutschland rund 3,5 Millionen Menschen über 65 Jahre mit einer Behinderung. Um dieser wachsenden Zahl an älteren und alten Menschen mit einer Behinderung volle Teilhabe am kirchlichen Leben zu ermöglichen, wird es einer Vielzahl von Maßnahmen zur Schaffung von Barrierefreiheit bedürfen. Hierzu zählt die hörbehindertengerechte Ausstattung von Sakral- ebenso wie von anderen kirchlichen Räumen oder die sehbehindertengerechte Aufbereitung von Texten und Internetauftritten. Hinzu kommt: Durch die "Euthanasie" durch die Nazis fehlt in Deutschland eine ganze Generation von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Heute machen wir aufgrund einer insgesamt gestiegenen Lebenserwartung und der besseren medizinischen Versorgung erstmals Erfahrungen mit alten Menschen, die eine geistige Behinderung haben.

Behinderungskompensierende Techniken verändern Selbstverständlichkeiten. So führt beispielsweise die Einführung des "Cochlear Implantats" (einer Hörprothese für Gehörlose), verbunden mit dem Neugeborenen-Hörscreening dazu, dass es immer weniger Kinder gibt, die gehörlos sind und rein gebärdensprachorientiert aufwachsen. Die Vision einer Gesellschaft ohne Behinderungen ist jedoch trotz aller medizinischen Möglichkeiten eine Illusion. Die Ängste werdender Eltern, ein behindertes Kind zu bekommen, sind emotional verständlich. Die meisten Behinderungen werden jedoch im Verlauf des Lebens erworben. Behinderung lässt sich also auch mit vorgeburtlicher Diagnostik nicht vermeiden.


Dass Behinderung eine Realität des Lebens ist, darf allerdings nicht so missverstanden werden, dass die Behinderung das individuelle Problem desjenigen ist, der körperlich oder geistig anders ist als der Rest der Bevölkerung. So wurde Behinderung lange im Rahmen des so genannten medizinischen Modells von Behinderung definiert. Dieses medizinische Erklärungsmodell fasste Behinderung als Defizit auf. Der körperliche, geistige oder psychische Zustand eines Menschen wird als Abweichung von der Norm, und zwar als negative persönliche Eigenschaft, betrachtet. Demzufolge ist ein Mensch mit Behinderung ein Mängelwesen.

Krankheit und Behinderung werden innerhalb des medizinischen Modells gleichgesetzt. Gesundheit wird idealisiert, Krankheit und Behinderung werden als Ausnahmezustand betrachtet. Die umgebende Umwelt wird dementsprechend an der Norm einer Person ohne Behinderung ausgerichtet, die laufen, sehen, hören, lesen und Gelesenes verstehen kann. Wer sich mit Hilfsmitteln fortbewegt, in Gebärdensprache kommuniziert, mit seinen Fingern liest und sich in einfacher Sprache oder mit dem Tastsinn verständigt, hat in der Sichtweise des medizinischen Modells ein individuelles Problem, das als bedauerliche Folge der Behinderung gesehen wird.

Im Rahmen dieses Defizitmodells von Behinderung bleiben Menschen mit Behinderung in vielen Bereichen des Lebens von der Fürsorge, dem Wohlwollen und dem Verständnis von Menschen ohne Behinderung abhängig. In den beiden großen Kirchen hatte dieses Erklärungsmodell über Jahrhunderte Vorrang und beförderte den Fürsorgegedanken, der Menschen mit Behinderungen vor Verelendung und Vereinsamung bewahrt hat.


Das soziale Erklärungsmodell von Behinderung geht im Gegensatz zum medizinischen davon aus, dass Einschränkungen und Probleme von Menschen mit Behinderung nicht ausschließlich, aber in erster Linie durch die Gesellschaft hervorgerufen werden und durch Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen weitgehend gelöst werden können. Behinderung wird hier gerade nicht als individuelles Schicksal gesehen, sondern als eine Ansammlung von Gegebenheiten betrachtet, die durch gesellschaftliche Strukturen hervorgerufen werden.

Zur Überwindung der Schwierigkeiten, denen Menschen mit Behinderung begegnen, ist im Rahmen dieser Sichtweise politisches Handeln erforderlich. Das Einfordern einer barrierefreien Umwelt wird als Bürgerrecht verstanden. Die Gesellschaft insgesamt wird aufgefordert, ihre Bedingungen so zu verändern, dass Menschen mit Behinderung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist. Auf politischer Ebene führt diese Sichtweise dazu, dass die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung als Menschenrechtsthema betrachtet wird. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung basiert auf diesem sozialen Modell von Behinderung.


Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung

Seit März 2009 ist in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Kraft. Bei der Konvention handelt es sich nach Einschätzung vieler Experten um das modernste Menschenrechtsinstrument, das bislang auf UN-Ebene entstanden ist. Bereits ihr Entstehungsprozess selbst, in dem Menschen mit den unterschiedlichen Behinderungen und deren Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter repräsentiert waren, wurde der Forderung "Nichts über uns ohne uns" in voller Weise gerecht (vgl. Klaus Lachwitz, UN-Konvention Rechte für Menschen mit Behinderungen. Konsequenzen für die Teilhabe, in: Behinderung und Pastoral Nr. 14/2010, 4-9).

Faktisch beinhaltet die UN-Konvention nichts Neues. Sie formuliert quasi die allgemeinen Menschenrechte mit Blick auf Menschen mit Behinderung. Dahinter steht die Erfahrung, dass die Wahrnehmung ihrer Menschenrechte für Menschen mit Behinderung oftmals nicht selbstverständlich ist. "Das Ziel der 'Extra-Konvention' für Menschen mit Behinderung ist es, die 'Extras' im Umgang mit Menschen mit Behinderung in eine gleichberechtigte Teilhabe gemeinsam mit anderen umzuwandeln, den gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte zu gewährleisten und somit die 'Extras' in Form von Sonderbehandlungen abzuschaffen" (Brigitte Faber, Erwartungen der autonomen Behindertenselbsthilfe, in: Behinderung und Pastoral Nr. 14/2010, 14-17, hier: 15).


Im Blick auf zwei interessante Felder lässt sich diese Abschaffung von Extras veranschaulichen: die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung und die Wohnformen von Menschen mit Behinderung. In der UN-Konvention spielt der Schutz vor Diskriminierung eine große Rolle. Diskriminierung wird in Art. 2 der UN-Konvention dahingehend definiert, dass sie "jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung bedeutet, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird".

Dort, wo der Ausschluss eines Kindes mit Behinderung von einem gemeinsamen Schulbesuch den Tatbestand der Diskriminierung erfüllt, kann bereits heute, also noch bevor die Schulgesetzgebung der Länder sich ausdrücklich auf die Forderungen der UN-Konvention umgestellt hat, der Besuch einer Regelschule eingeklagt werden. Menschen mit Behinderung haben auch das Recht, gleichberechtigt mit andern, "ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und sind nicht verpflichtet, in besonderen Wohnformen zu leben" (Art. 19a).


Epochale Einschnitte stehen bevor

Die Kirchen müssen sich deshalb darauf einrichten, dass es mehr gemeinsamen Schulbesuch von Kindern mit und ohne Behinderung geben wird, mit allen Folgewirkungen für die Ausbildung von Religionslehrerinnen und Religionslehrern, für die Ausgestaltung von Schulen in kirchlicher Trägerschaft und für die Organisation und Durchführung von Kommunion- und Firmkatechese, die künftig weniger in Förderschulen stattfinden werden.

Ebenso stehen die Großeinrichtungen für Menschen mit Behinderung vor einem epochalen Einschnitt. Sie werden sich dezentralisieren. Menschen mit Behinderungen werden ganz anders unter Menschen ohne Behinderung leben, als das bislang bekannt war. Dieser Umgestaltungsprozess ist keiner, der die verfasste Caritas allein betrifft, die als Träger solcher Einrichtungen vor den entsprechenden Herausforderungen steht. Es handelt sich um einen Prozess, von dem Gemeinden und Bistümer nicht weniger herausgefordert sind: Menschen mit Behinderungen bilden keine Sondergemeinde mehr in ihrer Einrichtung, sondern sie sind Teil der Gemeinde, in der sie mit ihrer Wohngemeinschaft oder allein leben.

Gemeindebildung oder Gemeinschaftsbildung funktioniert selbstverständlich nicht auf Befehl. Dass es oftmals alles andere als normal ist, verschieden zu sein, hat die Auseinandersetzung um die Sinus-Milieu-Studie eingehend gezeigt, geschieht Gemeinschafts- und Gemeindebildung doch gerne entlang homogener Gruppen. Menschen mit Behinderung bilden allerdings kein eigenes Milieu. Sie finden sich in allen Schichten, bilden aber quer zu diesen auch eigene "Communities".

Wie wichtig diese für die Identitätsfindung sind, zeigt ein Blick in eine Broschüre des Deutschen Gehörlosenbunds zur kritischen Würdigung der UN-Konvention. Hier wird vor einer Segregation durch vordergründige Inklusion gewarnt: Dort, wo etwa gehörlose Kinder gemeinsam mit hörenden und schwerhörigen Kindern unterrichtet werden, soll eine Mindestzahl von vier gehörlosen Kindern in einer Klasse sein, damit kein gehörloses Kind mit seiner Kommunikationsform allein ist und innerhalb einer wenn auch kleinen Gemeinschaft uneingeschränkte Kommunikation möglich ist.

Menschen mit Behinderung haben angesichts der neuen Herausforderungen die Selbstbestimmung zum Leitbegriff erkoren. Viel zu lange haben auch die Kirchen der Fremdbestimmung mit einem verbrämten Verständnis von Fürsorge scheinbar den Mantel der Nächstenliebe umgelegt. Dass es sich hierbei oft genug um klassische Formen eines Helfersyndroms handelte, hat die Emanzipation und Professionalisierung der sozialen Arbeit ans Tageslicht gebracht. Aber so wie mit der Emanzipation der sozialen Arbeit aus der Bevormundung in einigen Fällen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde, ist auch bei der Selbstbestimmung Behutsamkeit wichtig.

So wie Fürsorge in Fremdbestimmung münden kann, wenn sie nicht in Zusammenhang mit Selbstbestimmung gedacht wird, kann umgekehrt Selbstbestimmung, die sich jeglichen Fürsorgegedankens entledigt hat, zu Vereinsamung und Verwahrlosung führen (vgl. auch Norbert Schwarte, Selbstbestimmung allein genügt nicht - Thesen zu einem strapazierten Leitbegriff der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung, in: Andreas Marker [Hg.], Soziale Arbeit und Sozialwissenschaft, Berlin 2008).


Es kann also nicht darum gehen, Fürsorge aus dem Handlungsrepertoire der Kirche zu streichen, vielmehr wird sie als Assistenz zu selbstbestimmter Teilhabe nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, "gerade in unseren immer mehr an der Marktwirtschaft, der Effektivität und Verwertbarkeit orientierten Zeiten. Fürsorge stellt einen wichtigen und zentralen Wert in einer menschlichen Gesellschaft dar. Doch es macht einen Unterschied, ob Menschen in erster Linie als Akt der Gnade, der Barmherzigkeit oder der Fürsorge Rechte zugestanden werden, oder ob anerkannt ist, dass es sich um unveräußerliche Menschenrechte handelt" (Faber, 14).


In vielen Bistümern kann auf eine ausdifferenzierte Behindertenseelsorge zurückgegriffen werden. Hierbei handelt es sich in der Regel um Mitarbeiter der pastoralen Dienste, die eine jahrelange Erfahrung mit der seelsorglichen Arbeit im Sozial- und Gesundheitswesen haben und in der Lage sind, das Evangelium angesichts von Krankheit und Behinderung zuzusprechen.

Aber auch die Behindertenseelsorge steht vor einem Veränderungsprozess. Über Jahrzehnte war es ihre Aufgabe, vor allem die gesonderten Räume, in denen Menschen mit Behinderungen stationär lebten, aufzusuchen und die (Selbsthilfe-)Verbände zu begleiten. In Zukunft wird es noch stärker als bislang darum gehen, Brücken zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zu schlagen. Nicht dass dadurch eine Seelsorge für Menschen mit Behinderung oder die Sonderräume für diese Seelsorge gänzlich überflüssig würden: Aber so wie sich im Nachgang der UN-Konvention Lebensorte von Menschen mit Behinderungen verändern werden, wird sich auch der konzeptionelle Auftrag der Behindertenseelsorge wandeln. Sie muss Brücken zwischen Menschen bauen, die verschieden sind; und sie muss sich mit den Ängsten vor Verschiedenheit auseinandersetzen.


Die Zukunft der Behindertenseelsorge

Von Interesse ist in diesem Zusammenhang ein Kooperationsprojekt, bei dem geeignete Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus einer katholischen Einrichtung der Behindertenhilfe nach einer Qualifizierung eine stundenweise Freistellung des Trägers erhalten und mit Blick auf diese Einrichtung vom Bischof für fünf Jahre beauftragt werden, als "Begleiter in der Seelsorge" eine Brückenfunktion zur Pfarrgemeinde zu übernehmen, Wortgottesdienste zu feiern und die Bewohner und Bewohnerinnen seelsorglich zu begleiten (vgl. Peter Bromkamp, Praxisbuch Altenheimseelsorge, Ostfildern 2010, 215-227).

Eindringlich hat Andreas Lob-Hüdepohl darauf hingewiesen, dass diese Begleiterinnen und Begleiter in der Seelsorge keine pragmatische Notlösung sind. Was, wenn mit Begleitern in der Seelsorge "ein eigenständiger Typus von Seelsorge bezeichnet werden soll, der in einer besondern Form seelsorgender Begleitung der ihr anvertrauten Menschen besteht? Eine seelsorgende Begleitung, besser: eine begleitende Seelsorge, deren Profil dadurch besticht, dass sie besonders dicht und über einen längeren Zeitraum hinweg den Alltag der ihr Anvertrauten in einer auch geistlichen Weggemeinschaft teilt" (Begleiter/in in der Behindertenseelsorge. Mehr als ein pragmatisches Muss, in: Behinderung und Pastoral Nr. 9/2006, 38-43, hier: 38f.).

Allerdings darf es nicht dazu kommen, dass auf diese Weise lediglich Spareffekte erzielt werden sollen. So wird etwa in den Niederlanden das Thema Spiritualität in die Ausbildung vor allem des Pflegepersonals aufgenommen, so dass diese dann prinzipiell in der Lage sind, auch die religiöse Versorgung zu übernehmen (vgl. zu diesen Phänomenen: Doris Nauer, Seelsorge in der Caritas. Spirituelle Enklave oder Qualitätsplus?, Freiburg 2007).


Die Ängste und Hoffnungen von Menschen mit Behinderungen sind nicht nur Aufgabe der Behindertenseelsorge. Weil Menschen mit Behinderungen wie andere auch an den so unterschiedlichen Vollzügen kirchlichen Lebens mitarbeiten, mitgestalten und mitfeiern wollen, bedarf es vielfältiger Anstrengungen, das kirchliche Leben auf die besonderen Bedürfnisse behinderter Menschen einzustellen. Damit stellt man sich im Übrigen oftmals ganz automatisch auch auf die Bedürfnisse älterer und alter Menschen sowie junger Familien mit Kindern ein.

Nur wo es gelingt, räumliche wie kommunikative Barrieren abzubauen, können Behindertenseelsorger als Anwälte für die Belange von Menschen mit Behinderungen den Wandel weg von der Sonderseelsorge realisieren. Es geht nicht darum, Menschen mit Behinderung für Gruppen und Gemeinden, für Pfarrgemeinderäte oder Kirchenvorstände, für Verbände und Diözesanräte passend zu machen, um sie dann integrieren zu können. Vielmehr wird es um eine lebendige Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Akteuren gehen, die ein gemeinsames Merkmal qua Taufe haben: katholisch zu sein.

Nur über den Weg der Anerkennung von Verschiedenheit wird zwischenmenschlich realisiert, was die Bibel theologisch längst antizipiert, wenn davon die Rede ist, dass es im Glauben weder Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Männer und Frauen geben solle. Behinderung ist eine Realität des Lebens, "die sich erleichtern lässt, wenn es uns gelingt zu lernen, wie wir uns auf Verschiedenheit einstellen können" (Richard von Weizsäcker).


Simone Bell-D'Avis (geb. 1969) ist Leiterin der Arbeitsstelle Pastoral für Menschen mit Behinderung der Deutschen Bischofskonferenz. Studium der katholischen Theologie, Philosophie und Politik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Promotion in Theologie 2004 (Hilft Gott gegen Sucht? Eine fundamentaltheologische Grundlegung der Suchtseelsorge, Münster 2005). Sie war die Behindertenbeauftragte des XX. Weltjugendtags 2005 in Köln.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 8, August 2010, S. 418-422
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2010