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GESCHICHTE/021: Erziehung im Birkenhof in Hannover - Studie beleuchtet 1950er- und 1960er-Jahre (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Januar 2010

Erziehung im Birkenhof in Hannover
Studie beleuchtet 1950er- und 1960er-Jahre

Von Stefan Derschum


Fürsorgeerziehung - der Begriff, der Empathie und Mitmenschlichkeit suggeriert, markiert tatsächlich ein dunkles, bislang unbewältigtes Kapitel der Heimgeschichte. Die Geschäftsführung Bethel im Norden hat sich entschlossen, diese düsteren Seiten der 1950er- und 1960er-Jahre für den Birkenhof nicht geschlossen zu lassen, sondern sie aufzuschlagen und mit den Erinnerungen betroffener Frauen aufzuarbeiten.


So ist die diplomierte Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin Nicola Goerke damit beauftragt worden, jene Tage der Fürsorgeerziehung mit einer Studie ins Bewusstsein zurückzuholen. Die langjährige Mitarbeiterin der Jugendhilfe hat nicht nur vorhandene Akten gesichtet und ausgewertet. Sie sprach zudem mit Zeitzeugen, drei einst im Birkenhof betreuten Frauen und einer Praktikantin. Die Ergebnisse der Arbeit liegen nun vor und sollen, wie Pastor Dr. Werner Hagenah, Geschäftsführer im Stiftungsbereich Bethel im Norden, betont, "eine Einladung an alle sein, über die Vergangenheit ins Gespräch zu kommen". Oder wie es die Autorin Nicola Goerke in ihrem Nachwort formuliert. "Ich hoffe, dass noch viele ihr Schweigen brechen werden."

In dem abschließenden Kapitel der 28-seitigen Arbeit prägt ein Wort die Bilanz der Recherchen: Widersprüche. Sie sei auf große Widersprüche zwischen den Darstellungen des Birkenhofs, den Briefen Ehemaliger, die sich positiv an ihren Aufenthalt im Birkenhof erinnern, und den Aussagen der Ehemaligen, mit denen sie gesprochen habe, gestoßen, schreibt Nicola Goerke. Diese Frauen hätten eine negative Erinnerung an ihre Zeit im Birkenhof. Negative Erinnerungen, die in dem Kapitel, das sich allein den Aussagen der Zeitzeugen widmet, in einer fast flehenden Forderung münden: "Das darf nicht wieder passieren." Was aber war DAS? Was waren die Ereignisse und Umstände der 1950er- und 1960er-Jahre im Birkenhof, die mehr als 40 Jahre später zu einem derartigen Satz führen? Nicola Goerke dokumentiert es eindrucksvoll.

Zunächst führt die Autorin ein in die Bedeutung der Fürsorgeerziehung: "Die Fürsorgeerziehung regelte, dass ein Jugendlicher, der 'verwahrlost' oder sittlich gefährdet war, gerade wenn er von der Polizei aufgegriffen worden war, sehr schnell über vormundschaftsgerichtliche Beschlüsse in die Fürsorgeerziehung kam, den Eltern das Sorgerecht aberkannt und der Jugendliche in die Obhut des Jugendamtes gegeben wurde." Nicola Goerke beschreibt zudem das zugrundeliegende Menschenbild und den "anderen" Blick auf die Jugend, wenn sie eine Liste damaliger Charakterisierungen der Betroffenen nennt: sexuelle oder sittliche Verwahrlosung, Arbeitsunlust, Schwachsinnigkeit, Liederlichkeit, Verkommenheit, Verlogenheit.


Geschlossene Heime

Die in der Regel geschlossene Unterbringung erfolgte in sogenannten Fürsorgeerziehungsheimen - wie dem Birkenhof in Hannover. Dort gab es, so überschlägt Nicola Goerke auf Basis verschiedener Quellen, in den beschriebenen 20 Jahren zwischen 5.000 und 6.000 Aufnahmen. Die Bewohnerinnen waren durchschnittlich 14 bis 18 Jahre alt. Sie wurden ein bis zwei Jahre auf dem Hauptgelände des Birkenhofs in Wohngruppen von 14 bis mehr als 30 Mädchen untergebracht und wechselten dann in die Außenwohnheime oder wurden in Haushalte und Betriebe in und um Hannover vermittelt.

Den diversen Schriften, unter anderem von Amtsgerichten und Ärzten, hat die Autorin Unterbringungsgründe wie Verwahrlosung, Einlassen mit (älteren) Männern, früher Geschlechtsverkehr, Trotzverhalten oder Lügen entnommen. Eine Erzieherin wohnte als sogenannte "Familienmutter" zusammen mit der Gruppe. Die baulichen Bedingungen, die Nicola Goerke für das Hauptgelände beschreibt, geben allein schon ein Gefühl für die Denkweise der damaligen Zeit, die den Maßgaben heutiger konstruktiver Pädagogik vollkommen entgegensteht: "Das Gelände war schon damals mit dem hohen Zaun umgeben. Dieser war größtenteils im oberen Bereich mit Stacheldraht versehen und zur Eilenriede hin in zwei Reihen angeordnet, zwischen denen nachts ein Wachhund laufen konnte."

Demgegenüber stehen die Eindrücke aus den Jahresberichten des Birkenhofs der Jahre 1952/53 und 1957/58, die die Sozialpädagogin ausgewertet hat. Hier dominieren durchweg positive Darstellungen die Umstände und Ziele des Heims: Miteinander - Füreinander, Achtung der Mädchen, Mut machen, Rücksichtnahme, Verantwortlichkeit. Auch positive Meinungen Entlassener hat Nicola Goerke gefunden. Ein Mädchen ist beispielsweise "dankbar", dass sie im Birkenhof überhaupt dahingeführt worden sei, über sich einmal nachzudenken. Ein anderes schreibt 1968: "Wenn man aber einen normalen Menschenverstand hat, sieht man mit der Zeit ein, dass es wirklich eine große Hilfe ist. Ich würde ja sehr gerne mal zu Besuch kommen." Die Worte stammen allerdings aus Schriften des Birkenhofs und stehen im eklatanten Widerspruch zu den teils vernichtenden und traumatisch geprägten Urteilen der von Nicola Goerke interviewten Frauen.

Die Widersprüchlichkeit existiert dabei nicht nur in der grundsätzlichen Bewertung des Birkenhofs, sondern in vielen Details der Recherche-Ergebnisse. In der Hausordnung ist von einem Psychiater die Rede, die Interviewpartnerinnen erklären laut Autorin Goerke indes, dass sie sich an keinerlei Gespräche mit einem Psychiater erinnern können. Die Hausordnung sagt, Religionsunterricht sei für jedes Mädchen freiwillig. Später spricht der Birkenhof in einem Schreiben an das Landesjugendamt Hannover hingegen von "Pflicht", und eine Antwort der ehemals Betreuten lautet: "Im Birkenhof war nichts freiwillig." Auch hinsichtlich der Züchtigungen der Mädchen hat Nicola Goerke eine Palette unterschiedlicher Aussagen ausgearbeitet.


Zensur der Briefe

Doch nicht nur derartige Widersprüchlichkeiten wirken verstörend, sondern es sind viel mehr noch die entwürdigenden Lebensumstände und das drakonische Regelwerk des Birkenhofs, die die Fürsorgeerziehung als dunkle Zeit der Heimgeschichte erkennen lassen. So nennt die Autorin beispielsweise strengste Zensur des Briefverkehrs, Essenspflicht, Schlafentzug, Arreststrafen bis zu vier Wochen in einem kargen Isolierraum und regelmäßige gynäkologische Zwangsuntersuchungen.

Diese Untersuchungen sind das vielleicht grausamste Kapitel in den aktuellen Ergebnissen, was sich in den Zitaten der Betroffenen niederschlägt: "Ich wusste nicht, was jetzt mit mir passieren soll, und habe mich geweigert. Deshalb wurde ich gezwungen und festgehalten. Ich habe geschrien und geweint." Oder: "Dieser Arzt hat mich entjungfert. Hinterher habe ich geweint und geblutet." Und: "Seitdem bin ich nicht mehr zum Frauenarzt gegangen."

Nicola Goerke dankt diesen Frauen, die den ersten Schritt der Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung im Birkenhof mit ihrer Offenheit und ihrem Mut zur Erinnerung maßgeblich mitgetragen haben. Sie nennt sie "stark und kraftvoll", Frauen, "die ihr Leben in die Hand genommen haben, trotz der Erlebnisse, die sie für immer geprägt haben". Trotz des Birkenhofs - nicht wegen dieses Fürsorgeerziehungsheims, wie es wohl in jener düsteren Zeit begründet worden wäre.


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Quelle:
DER RING, Januar 2010, S. 16-17
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2010