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GESCHICHTE/026: Zum Gedenken der Verbrechen an Kranken und Behinderten (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2011

RASSISCH VERFOLGT ODER LEBENSUNWERT?

Zum Gedenken der Verbrechen an Kranken und Behinderten

von Burga Torges


In den Jahren von 1939 bis 1945 wurden im nationalsozialistisch beherrschten Europa mindestens 300.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen ermordet. Die genaue Zahl der Opfer wird sich vermutlich nie ermitteln lassen, es ist aber davon auszugehen, dass sie wiederholt nach oben korrigiert werden muss. Diesbezüglich waren sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gedenkfeier "Rassisch verfolgt oder lebensunwert" des Aktionskreises T4 - Opfer am 03.09.2011 in Berlin sicher.



Tod durch Mediziner

Kranke und behinderte Menschen Unterlagen dem perfiden Rassenwahn des nationalsozialistischen Regimes. Den Anfang begründete die Verabschiedung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses am 14. Juni 1933. Mit dem "Euthanasie"-Erlass, den Hitler auf den 1.9.1939 rückdatierte, begann die Tötungsmaschinerie für die als lebensunwert Deklarierten: Mit hunderttausendfach durchgeführten Zwangssterilisationen, skrupellosen Menschenversuchen und unzählbaren Morden an diesen Menschen. Die Zentrale für die Leitung des Massenmords stand damals in der Tiergartenstraße 4 (T4).


Aus der Geschichte lernen

Während Inhaftierte nach Kriegsende befreit wurden, bedeutete das Ende der NS-Zeit für Kranke und Behinderte kein Ende des Leidens. Denn aufgrund der weiterhin eklatanten Mangelsituation in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die Sterbeziffern in vielen Heil- und Pflegeanstalten weiterhin hoch und die Lebenssituation vieler Patienten für Jahrzehnte menschenunwürdig.


Beziehen auf uns und heute

"Es ist wichtig, der fundamentalen Grenzüberschreitung der Medizin im Nationalsozialismus immer wieder nachzuspüren - auch mit Blick auf die Gegenwart. Allen neo-eugenischen Sozialutopien müssen wir das skeptische Wort Immanuel Kants entgegensetzen. "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." Behinderung, Krankheit, Schwäche und Hilflosigkeit gehören - wie Empathie, Respekt, Demut, Erbarmen und Güte - zur conditio humana. Hier kommt gerade auch der Medizin eine große Verantwortung zu (...) Das heißt vielleicht auch: Erwartungen enttäuschen, Zumutungen zurückweisen, Druck standhalten. Am Ende gilt: Ein Gemeinwesen ist dann am stärksten, wenn es vom Schwächsten her denkt", resümierte Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl, Historiker und einer der Festredner der Gedenkfeier.


Lesen Sie Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhls ausführlichen Vortrag unter
www.bag-selbsthilfe.de


Verbindet Vergangenheit und Gegenwart

In Anwesenheit von Vertretern aus Politik, Wissenschaft, Verbänden, Selbstvertretern, Angehörigen von "Euthanasie"-Opfern und der interessierten Öffentlichkeit wurde am 9. November 2011 die Website "gedenkort-T4.eu" bei einer Veranstaltung in der Berliner Stiftung Topographie des Terrors im Internet freigeschaltet. Die Informations- und Gedenk-Internetseite für die 300.000 Opfer der NS-"Euthanasie" soll Menschen, unabhängig von Ort, Alter, Herkunft, Bildung und geistiger Leistungsfähigkeit erreichen. Gedenkort-T4.eu soll darüber hinaus einen Bezug zur Gegenwart herstellen, unter anderem mittels Beiträgen über den Stellenwert von Behinderung in der heutigen Gesellschaft.
www.gedenkort-T4.eu


Gegen das Vergessen

Alljährlich gedenken Menschen der Verbrechen in der NS-Zeit am ersten Samstag im September in der Tiergartenstr. 4 in Berlin.
www.psychiatrie.de


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Quelle:
Selbsthilfe 4/2011, S. 32
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2012