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MEDIEN/224: Internet - Alte und neue Barrieren (impulse - Uni Bremen)


impulse aus der Forschung -
das Autorenmagazin der Universität Bremen Nr. 2/2011

Gesellschaftliche Teilhabe im Internet für Menschen mit Behinderungen
Alte und neue Barrieren

Von Herbert Kubicek, Jutta Croll und Ulrike Peter


Gesellschaftliche und politische Teilnahme ist eine wichtige Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Für Menschen mit Behinderungen sind das Internet und die damit verbundenen technischen Hilfen eine Chance, besser am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Viele Behörden tun sich aber immer noch schwer, ihre Angebote barrierefrei zu gestalten. Das Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib) an der Universität Bremen und die Stiftung Digitale Chancen haben eine Vielzahl von Behördenseiten exemplarisch getestet.


Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen verspricht Menschen mit Behinderung die "volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft". 2006 von den UN verabschiedet, hat Deutschland die Konvention im Februar 2009 ratifiziert. Neben den Bereichen Arbeit und Beschäftigung, Bildung, Mobilität, Kultur und Freizeit sowie Persönlichkeitsrechten nennt das Übereinkommen ausdrücklich auch die gesellschaftliche und politische Teilhabe. Nicht die Betroffenen sollen ihre Bedürfnisse an (angebliche) gesellschaftliche Notwendigkeiten anpassen, sondern die Gesellschaft soll sich in allen Lebensbereichen auf die Bedürfnisse der Betroffenen einstellen.

Wahlen, Bürgerbegehren, Anhörungen, Petitionen, das Anrufen von öffentlichen Stellen sowie Unterschriftensammlungen und Demonstrationen sind Wege der politischen Teilhabe. Voraussetzung ist zumeist der Zugang zu amtlichen Informationen. Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder Sinneswahrnehmung treffen dabei auf unterschiedliche Barrieren. Das beginnt beim Zugang für Rollstuhlfahrer und geht über die Gestaltung von Informationen für Sehbehinderte bis zur Diskussionsrunde, in die sich auch Hör- und Sprachbehinderte einbringen können. Zudem sind Informationen in "Leichter Sprache" erforderlich, damit sie z.B. auch für Menschen mit Lernbehinderung verständlich sind.

Solche Barrieren können durch bauliche Maßnahmen, durch eine bessere Gestaltung von Informationsangeboten sowie durch persönliche und technische Assistenz überwunden werden. In vielen Bereichen gibt es bereits gesetzliche Vorschriften. So können Blinde verlangen, dass ihnen amtliche Dokumente vorgelesen werden und Gehörlose haben Anspruch auf einen Gebärdendolmetscher. Große Hoffnungen richten sich auf das Internet. Das Online-Angebot kann zu Hause genutzt werden, die schriftliche Kommunikation ist für Hörgeschädigte wahrnehmbar und Screenreader lesen Blinden die Texte vor. Aber erfüllt das Internet die Erwartungen oder werden dort neue Barrieren errichtet?


Informationen müssen für alle zugänglich sein

Nach dem Behindertengleichstellungsgesetz ist die bundesstaatliche Verwaltung verpflichtet, ihre Internetangebote so zu gestalten, dass sie von Menschen mit Behinderungen grundsätzlich uneingeschränkt genutzt werden können (BGG Paragraph 11). Einzelheiten regelt die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV), die im September 2011 nach langem Ringen novelliert wurde. Die BITV 2.0 übernimmt internationale Standards und sieht drüber hinaus vor, dass Behörden Informationen für gehörlose und hörbehinderte sowie lern- und geistig behinderte Menschen in Deutscher Gebärdensprache sowie in Leichter Sprache zur Verfügung stellen.

Im Rahmen der eGovernment Strategie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) sollen nun bestehende E-Partizipationsangebote auf ihre Eignung für Menschen mit Behinderungen geprüft und Empfehlungen für Online-Abstimmungen und Beteiligungsangebote entwickelt werden. Dazu hat das BMAS das Institut für Informationsmanagement Bremen und die Stiftung Digitale Chancen beauftragt.


BIENE testet die Barrierefreiheit

Beide Einrichtungen testen seit Jahren Web-Angebote auf ihre Barrierefreiheit, insbesondere in dem BIENE-Wettbewerb, der seit 2003 in Zusammenarbeit mit der Aktion Menschen jährlich stattfindet (www.biene-wettbewerb. de). Dazu wurden über 100 Prüfschritte für die Vorgaben der Barrierefreiheit und der Usability festgelegt und im Internet veröffentlicht. So können Entwickler selbst prüfen, inwieweit sie diese Anforderungen erfüllen.

Eingereichte Seiten, die den Mindestanforderungen genügen, werden von zwei Experten unabhängig voneinander geprüft, eventuelle Bewertungsunterschiede werden erörtert. Die besten Seiten müssen sich zusätzlich in einem Praxistest in der häuslichen Umgebung von vier oder fünf Menschen mit Behinderungen bewähren. Da zu Hause oft ältere Reader oder Browser oder andere assistive Technologien eingesetzt werden als im Testlabor und die Nutzungsgewohnheiten der Testpersonen sehr unterschiedlich sind, sind Abweichungen zwischen dem Expertentest und dem Nutzertest nicht ungewöhnlich.

Die Evaluation der Barrierefreiheit der E-Partizipationsangebote erfolgt auf der Basis des selben Verfahrens. Auf der Grundlage der Ergebnisse der Untersuchung wird ein Leitfaden zur barrierefreien Gestaltung von Online-Beteiligung erarbeitet, der Ende November 2011 auf einer gemeinsamen öffentlichen Veranstaltung von ifib, Stiftung Digitale Chancen und BMAS vorgestellt wird.


Viel geregelt, aber wenig geprüft

Der BIENE-Wettbewerb zeigt, dass eine barrierefreie Gestaltung möglich ist, auch ohne die Attraktivität der Seiten für Menschen ohne Behinderungen zu beeinträchtigen. Im Gegenteil, die Preisträgerseiten illustrieren den von der Aktion Mensch formulierten Slogan, dass barrierefreie Angebote "einfach für alle" sind. Institute wie das ifib können öffentliche Stellen bei der Abnahme der von Agenturen gelieferten Web-Seiten unterstützen und einen Test auf Barrierefreiheit durchführen. Ein regelmäßiges Monitoring der Web-Angebote durch eine unabhängige Stelle und die Veröffentlichung in einem entsprechenden Bericht könnte einen stärkeren Anreiz liefern Angebote barrierefrei zu gestalten.


AUTOREN:

Herbert Kubicek ist frisch pensionierter Professor für Angewandte Informatik an der Universität Bremen, sowie Wissenschaftlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Digitale Chancen. Er arbeitet weiter als Leitender Wissenschaftler am Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib) unter anderem zu Fragen der Nutzbarkeit und Nützlichkeit von Informationssystemen insbesondere in der öffentlichen Verwaltung.

Jutta Croll ist Geschäftsführerin und Mitglied des Vorstands der Stiftung Digitale Chancen, einer gemeinnützigen Organisation unter der Schirmherrschaft des BMWi und des BMFSFJ. Die Stiftung arbeitet an dem Ziel der Digitalen Integration von Bevölkerungsgruppen, die bei der Internetnutzung bisher unterrepräsentiert sind. Sie entwickelt Projekte und innovative Strategien zur Förderung der Medienkompetenz.

Ulrike Peter ist Diplom-Behindertenpädagogin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Projekten für das ifib und die Stiftung Digitale Chancen. Sie ist Software-Ergonomie-Expertin insbesondere in den Bereichen der allgemeinen Usability und der Barrierefreiheit. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Durchführung von Nutzertests zu Web-Anwendungen und in der prozessorientierten Begleitung bei der Erstellung von barrierefreien Internetauftritten.

Weitere Informationen: www.ifib.de


BILDTEXTE
[Texte zu den im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen - siehe Originalpublikation im Internet unter:
http://www.uni-bremen.de/universitaet/presseinfos/publikationen/impulse/aeltere-ausgaben-impulse.html#c2529]

Seite 25:
Zugang für Rollstuhlfahrer: Die Seite www. wheelmap.org informiert darüber ob und wieweit Orte, hier als Beispiel Bremen, rollstuhlgerecht sind.

Seite 26:
Arbeit am Laptop: Die motorisch beeinträchtigte Nutzerin steuert die Maus über ein Fußpedal.

Ein rollstuhlgerechter Arbeitsplatz, Spezialtastatur und Akustikverstärkung erleichtern diesem Mann mit Beeinträchtigung den Umgang mit dem Rechner.

Blinder Nutzer vor seinem Laptop, ausgestattet mit Screenreader, Lautsprecher und Kopfhörer

Seite 27:
Informationen auch in Gebärdensprache für Nutzerinnen und Nutzer mit Hörschwierigkeiten (Quelle: www.bmas.de)


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Quelle:
impulse aus der Forschung -
das Autorenmagazin der Universität Bremen Nr. 2/2011, Seite 25-27
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
Pressestelle der Universität Bremen
Postfach 330440, 28334 Bremen
Telefon: 0421/218-60 150, Fax: 0421/218-42 70
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Internet: www.uni-bremen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2012