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MEDIZIN/153: Gesundheit und Teilhabe (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1 - März 2009

Gesundheit und Teilhabe
Präsident der Bundesärztekammer zu Perspektiven der medizinischen Versorgung geistig und mehrfach behinderter Menschen

Von Jörg-Dietrich Hoppe


Menschen mit geistiger Behinderung haben ein Recht darauf, bei Krankheit gut versorgt zu werden. Viele Ärzte kennen sich aber mit Behinderung nicht so gut aus oder haben nicht genug Zeit für die Behandlung. Das soll besser werden.


Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung haben die gleichen Rechte wie Bürgerinnen und Bürger ohne Behinderung. So verlangt es unser Grundgesetz, das jede Benachteiligung wegen Behinderung verbietet. Die Solidarität mit behinderten Menschen und die Achtung ihrer Menschenwürde sind jedoch in der täglichen Lebenspraxis noch keine Selbstverständlichkeit. Die Erfahrung lehrt uns, dass Menschen mit geistiger Behinderung in manchen Bereichen nicht in den Genuss aller ihrer Ansprüche kommen. Dies trifft insbesondere auf den Bereich der gesundheitlichen Versorgung zu.

Wenn man bedenkt, dass Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung überdurchschnittlich häufig von zusätzlichen körperlichen und psychischen Störungen betroffen sind, stimmt die Feststellung der unzulänglichen medizinischen Versorgung sehr bedenklich. Denn die unzureichende Versorgung ist möglicherweise sogar eine Teilursache für die gesundheitlichen Belastungen von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung.

Vor diesem Hintergrund hat sich der 107. Deutsche Ärztetag bereits im Jahr 2004 mit dem Thema "Gleichstellung und Integration behinderter Menschen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe" befasst. Wir greifen das Thema nun wieder auf, weil ein erheblicher Bedarf an qualifizierter und spezialisierter präventiver, kurativer und rehabilitationsmedizinischer Versorgung dieses Personenkreises besteht.

Die Gesundheitsreformen der letzten Jahre waren in dieser Hinsicht alles andere als bedarfsgerecht. Ein Beispiel: Die Gruppe der Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung ist in unserem Land überwiegend von Sozialhilfe abhängig. Die Gesetzgebung der letzten Jahre hat aber die früheren Leistungen der Sozialhilfe, insbesondere die Möglichkeit, Einmalbeihilfen für besondere Versorgungsbedarfe zu leisten, praktisch vollständig beseitigt. Dies steht im Gegensatz zum § 10 Sozialgesetzbuch I, dass Hilfen dazu dienen sollen, Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern.

Schaut man sich die Verhältnisse der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung über die Lebensspanne an, so zeigt sich ein bedrückendes Bild: Für das Kinder- und Jugendalter gibt es vielerorts noch eine Reihe von spezialisierten Angeboten, beispielsweise Sozialpädiatrische Zentren und Frühförderstellen. Nicht verschwiegen sei aber: Vielerorts ist die Finanzierung dieser Angebote nicht ausreichend oder sie wird in Frage gestellt.

Im Erwachsenenalter fehlen fast überall spezialisierte Angebote. Es gibt nur noch wenige Gesundheitsdienste in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Auch dort liegt das Hauptproblem in einer unzulänglichen Finanzierung der überdurchschnittlich aufwändigen Arbeit.

Das Regelversorgungssystem ist - so lehren es viele Erfahrungen von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung - heute bei weitem nicht in der Lage, betroffenen Personen die bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung zu bieten. Dies zu überwinden verlangt Initiative von Seiten der Ärzte in Praxen und Krankenhäusern, der Selbstverwaltung, des öffentlichen Gesundheitswesens, der Gesetzgebung und vieler mehr.

Natürlich kann es nicht darum gehen, dass Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung medizinisch überwiegend oder gar ausschließlich in einem Sonderversorgungssystem betreut werden. Vorrang muss, so weit wie möglich, die Betreuung im Regelversorgungssystem haben. Aber hier kann nicht jede spezielle Kompetenz vorgehalten werden.

Die Fachverbände der Behindertenhilfe haben auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen wiederholt die Forderung vorgebracht und begründet, das Regelversorgungssystem durch zielgruppenorientiert angemessene Angebote zu ergänzen. Für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung sind deshalb qualifizierte Zentren notwendig. Sie sollen sich nicht nur an der medizinischen Versorgung, sondern auch an der Qualifikation von Ärzten und Fachberufen im Gesundheitswesen beteiligen. Es ist sehr zu begrüßen, dass die Bundesarbeitsgemeinschaft der Ärzte für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung sich des Themas "Medizin für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung" annimmt und Fortbildungskurse durchführt.

Aber es ist weit mehr nötig als besonderes Wissen und Fertigkeiten; es ist die Haltung, mit der Ärzte und Beschäftigte anderer Gesundheitsberufe Menschen mit Behinderungen begegnen. Es geht darum, diesen Menschen als Mitmenschen und Mitbürgern zu begegnen. Wenn sie gesundheitliche Hilfen brauchen, sollen diese Hilfen auch ausdrücklich unter dem Aspekt erbracht werden, dass dadurch ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe gefördert werden. Es ist notwendig, allen Ärzten und allen im Gesundheitswesen Tätigen eine klare ethische und fachliche Orientierung an die Hand zu geben.

Wir sollten uns ein Beispiel an der FMH, dem Schweizer Ärzteverband nehmen, der eine Leitlinie zum Umgang mit Menschen mit Behinderungen verabschiedet hat.

Wir wissen natürlich, dass Haltung, Wissen und Fertigkeiten alleine nicht ausreichen. Auch die strukturellen Rahmenbedingungen müssen hergestellt werden. Das beginnt bei einer aufwandsgerechten Vergütung der überdurchschnittlich aufwändigen Leistungen in Praxis und Krankenhaus und endet bei der Schaffung geeigneter Versorgungsstrukturen, zum Beispiel den Medizinischen Zentren für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Die Grundlagen dafür sind in den Gremien der Selbstverwaltung und durch den Bundesgesetzgeber zu schaffen.

Die Bundesärztekammer will sich in den nächsten Jahren verstärkt mit der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung befassen, so auch beim 112. Deutschen Ärztetag 2009 in Mainz, um zur Überwindung der dort eindeutig feststellbaren Unterversorgung beizutragen. Dies tun wir unter Bezug auf unsere ethischen Grundüberzeugungen und auf die menschenrechtspolitischen Forderungen.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jörg-Dietrich Hoppe ist Präsident der Bundesärztekammer (BÄK).


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1/2009, 30. Jg., März 2009, S. 4
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2009