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POLITIK/512: "Inklusion" - behindertenpolitischer Fortschritt? (Sozialismus)


Sozialismus Heft 4/2011

"Inklusion" - behindertenpolitischer Fortschritt?

Von Wolfgang Trunk


"Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein", schrieb Goethe im Jahr 1808; an Worte könne man "trefflich glauben". Seit einiger Zeit wird zunehmend von "Inklusion" gesprochen, wenn es darum geht, die soziale Teilhabe von Behinderten als politische Leitidee auszudrücken. Wie ist das zu bewerten?

Im Unterschied zu der traditionellen Orientierung auf "Integration" bedeute das Gebot der Inklusion vor allem, dass man behinderte Personen nicht erst aus ihren gesellschaftlichen Bezügen hinausfallen lassen sollte, um zu vermeiden, dass man sie anschließend mit großem Aufwand und besonderen Mitteln wieder integrieren muss; sie sollen vielmehr von Anbeginn und durchgängig in die Gesellschaft eingeschlossen sein. Außerdem wird mit dem Inklusionsbegriff die Forderung verbunden, dass sich behinderte Personen nicht nur in abgesonderten Milieus bewegen; sie sollen ihre Beziehungen frei wählen können und gesellschaftlich voll einbezogen sein. So bedeutet "Inklusion" nicht weniger als das Verlangen sicherzustellen, dass sich die Lebenssituation behinderter Personen von jener aller anderen Menschen nicht unterscheide. Gefordert wird im Prinzip die völlige Gleichheit von Behinderten und Nicht-Behinderten; als Kriterium dieser Gleichheit wird das Ausbleiben jeglicher Benachteiligung gesehen. Indem die Inklusionsbewegung auf der unverzüglichen Umsetzung ihrer Vorstellungen besteht, impliziert sie, dass eine Gesellschaft der Gleichen unter den gegebenen Bedingungen erreichbar ist. Und indem sie ihren Kampf separat führt, ohne Verbindung zu den Kämpfen anderer benachteiligter Gruppen, impliziert sie, dass der Unterschied von Behinderten und Nicht-Behinderten für die Sozialstruktur in Deutschland von herausgehobener Bedeutung ist.

Die UNO-Konvention zu den Rechten der Behinderten dient den Anhängern der Inklusion als Referenz. Das geschieht zurecht, denn diese Konvention basiert auf dem Prinzip einer abstrakten Gleichheit aller Menschen. Die "Gleichheit" ist der zentrale Begriff, der in allen substanziellen Bestimmungen der Konvention vorkommt: Behinderte sollen das gleiche Recht auf Arbeit haben, das gleiche Recht auf medizinische Versorgung, oder das gleiche Recht auf freie Meinungsäußerung (Trunk 2010). Vergeblich sucht man dagegen den Begriff der Inklusion. Er wird weder in der deutschen Fassung der Konvention verwandt, noch ist er in der so genannten Schattenübersetzung zu finden, die aus einer Kritik an der offiziellen Übersetzung hervorgegangen ist. Fündig wird man dagegen in der englischen Fassung, in deren Artikel 3 tatsächlich von "participation" und "inclusion in society" die Rede ist. In den deutschen Fassungen ist dieser Passus mit "Teilhabe" und "Einbeziehung in die Gesellschaft" übersetzt. Die Teilhabe gilt hier als das primäre Prinzip; sie soll aber so gestaltet werden, dass sie zu einem Optimum an gesellschaftlicher Einbeziehung führt.

"Inklusion" im Sinne der UNO-Konvention wäre demnach nichts anderes als der Einbezug behinderter Personen in gesellschaftliche Zusammenhänge, die nicht behindertenspezifisch sind. Das ist für die Behindertenhilfe in Deutschland nichts Neues. So pflegen etwa die Werkstätten für geistig und psychisch Behinderte reale Kunden-Lieferanten-Beziehungen, sei es mit der Wirtschaft oder mit Endverbrauchern; nicht wenige der Werkstattmitarbeiter erbringen im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch Dienstleistungen in regulären Milieus und weiten damit ihren persönlichen Horizont; ein kleiner Teil ist sogar in der Lage, die Werkstatt zu verlassen und in ein normales Arbeitsverhältnis zu wechseln. Will man in der Behindertenpolitik weitere Fortschritte erzielen oder wenigstens weitere Rückschritte abwenden, dann wäre zu fragen, welche Faktoren es sind, die zu der gebotenen Teilhabe führen, und worin die Barrieren bestehen, die den Prozess hemmen. Wie in allen Lebensbereichen so gilt auch hier, dass man eine Entwicklung nur fördern kann, wenn man ihre Gesetzmäßigkeiten kennt.

Man darf den Anhängern der Inklusion zugute halten, dass auch sie um die Grenzen einer jeden Behinderung wissen. Personale Funktionsbeeinträchtigungen, die physisch oder psychisch bedingt sind, lassen sich durch politische Willenserklärungen nicht aus der Welt schaffen. Prüft man die Losung von der Inklusion wohlwollend, dann kann sie für eine grundlegende Einsicht stehen: die "Barriere", von der so oft gesprochen wird, liegt nicht primär in den individuellen Eigenschaften von behinderten Personen begründet, sondern sie ist in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu suchen. Behinderung hat mit der sozialen Stellung einer Person zu tun. Der rationelle Kern der Gleichheitsforderung besteht in der Einsicht, dass sich die Behinderung in den Beziehungen des beeinträchtigten Individuums zur Gesellschaft abspielt. Insofern kann von Gleichheit nur auf einer höheren Ebene gesprochen werden. Mögen auch die physischen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigungen relativ stabil sein, so ist doch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinflussbar. So, wie die Gesellschaft die Lebensqualität von Personen beeinträchtigen kann, so kann sie diese Lebensqualität auch verbessern.

Umso mehr fällt auf, dass die Inklusionsanhänger über kein tragfähiges Gesellschaftsbild verfügen. Soziale Strukturen und Interessen kommen hier ebenso wenig vor wie Faktoren oder Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung. Im Prinzip wird die Gesellschaft auf die Summe der Individuen und auf deren jeweiliges Verhalten reduziert. Damit werden die objektiven Verhältnisse einer Gesellschaft in die kollektive Psyche ihrer Mitglieder verlagert; die Gesellschaft wird als Gegenstand der Betrachtung idealistisch verfehlt. Als Hauptfaktor der Benachteiligung müssen dann die persönlichen Einstellungen erscheinen, von denen sich die Menschen in ihrem Handeln leiten lassen. Veränderungen des gesellschaftlichen Status quo sollen dementsprechend über die massenhafte Veränderung dieser Einstellungen erreicht werden.

Nun ist in der Inklusionsdebatte fraglos eine berechtigte Reaktion auf die unbefriedigende Lebenssituation von behinderten Bürgerinnen und Bürger enthalten. Nachdem die langjährige Politik der Diskriminierungsverbote und Gleichstellungsgesetze an der realen Lage der Behinderten nichts geändert hat, soll jetzt ein behindertenpolitischer Durchbruch erzielt werden. Bislang ausgegrenzt und benachteiligt, sollen die Behinderten künftig ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft einnehmen. In diesem Sinne bedeutet Inklusion so etwas wie ein "Mainstreaming"-Konzept für die Behinderten. In Wirklichkeit stellt es allerdings eine Befangenheit dar, wenn man sich darauf beschränkt, einen Ansatz zu radikalisieren, der sich bereits als untauglich erwiesen hat; Paul Watzlawick (1974) spricht in solchen Fällen von der Strategie eines "Mehr desselben", die eher geeignet sei, Probleme zu schaffen als sie zu lösen.

Schon jetzt ist zu beobachten, wie "Inklusion" zur Desorientierung im Handlungsfeld der Behindertenhilfe führt. Es ist verständlich, wenn die Inklusionsanhänger versuchen wollen, beeinträchtigte Personen gar nicht erst aus ihren sozialen Bezügen hinausfallen zu lassen. Aber dies verkennt, dass es in der Biographie jeder Person eine entscheidende Klippe gibt: sobald sich die Notwendigkeit stellt, dass die Person ihren Lebensunterhalt selbst verdient, trifft sie auf die Barriere des Wertgesetzes, die darin besteht, dass einer Erwerbsarbeit nur derjenige nachgehen kann, der mit seiner Arbeitskraft mehr Werte schafft, als er selbst zum Leben braucht. Die Vorstellungen von der Inklusion können günstigstenfalls so lange funktionieren, wie sich die Person als Kind im Reproduktionsbereich bewegt. Die Stunde der Wahrheit schlägt unweigerlich beim Übergang in das Erwachsenenalter, wenn die Person in der Mitte der Gesellschaft ankommt.

Mit der Losung von der Inklusion können die legitimen Interessen der Behinderten nicht auf den Punkt gebracht werden. Bekanntlich stammt der Inklusionsbegriff aus der formalen Logik; er bezeichnet dort die Beziehung des Enthaltenseins oder Eingeschlossenseins zweier Klassen: wenn alle Elemente der Klasse B auch Elemente der Klasse A sind, dann besteht zwischen diesen beiden Klassen die Beziehung der Inklusion (Klaus 1973: 195). So ist etwa die Klasse der Feuerwehrautos in der Klasse der Nutzfahrzeuge enthalten, aber auch in der Klasse der rot-weißen Gegenstände oder in der Klasse der urbanen Krachmacher. Ein logischer Begriff dieser Art ist auf der Ebene der einfachen Verallgemeinerung angesiedelt; es fehlt ihm die theoretische Qualität, sodass er das Spezifikum seines Gegenstands von bloßen Äußerlichkeiten nicht unterscheiden kann.

Erst ein theoretischer Begriff wäre in der Lage zu definieren, worum es sich bei einem Feuerwehrauto eigentlich handelt. Wendet man einen formal-logischen Begriff direkt auf das menschliche Individuum und seine Beziehung zur Gesellschaft an, dann dringt man nicht zu den wesentlichen Faktoren vor, von denen dieses Verhältnis bestimmt wird, und die als Ansatzpunkte für ein praktisches Eingreifen dienen können. So ist der Inklusionsbegriff in der Behindertenpolitik zwar ein Symbol für einen normativen Willen, aber es fehlt ihm die analytische Kraft. Die Lage der Behinderten soll entscheidend verbessert werden, aber es bleibt weiterhin unklar, wie das gehen soll.

Bemüht man sich um einen vollständigen Begriff von Behinderung, dann muss man über den Aspekt des äußeren Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft hinausgehen und die Frage der Persönlichkeit aufwerfen. Die soziale Teilhabe des Einzelnen ist ja kein Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung seiner Persönlichkeitsentwicklung. Klaus Holzkamp geht davon aus, dass jeder Mensch erst lernen muss, über die Lebensmöglichkeiten zu verfügen, die auf dem jeweiligen Stand der Gesellschaft bereitstehen. Das ist der eigentliche Einbezug des Individuums in die Gesellschaftlichkeit. Der Einzelne ist darauf angewiesen, seine Handlungsfähigkeit zu entwickeln, indem er sich Kenntnisse und Fertigkeiten aneignet. "Erfolgen Aneignungsprozesse über lange Zeit nicht, so wächst das Individuum unter Bedingungen der Isolation vom gesellschaftlichen Erbe auf". Die Verbindung des Einzelnen zu den kulturellen Gütern der Menschheit ist dann gestört oder unterbrochen. "Behinderung" fasst Holzkamp dementsprechend als "Isolierung des Individuums von den gesellschaftlichen Verfügungsmöglichkeiten" auf (1993: 217).

Im Wesentlichen ist Behinderung darin zu sehen, dass eine Person durch ihre eingeschränkten Möglichkeiten in ihrer Entwicklung behindert wird; dabei geht es im Kern um die Behinderung von Lernprozessen. Auch Wolfgang Jantzen begreift Behinderung als "Isolation von der Aneignung des gesellschaftlichen Erbes"; die Behinderung aufzuheben bedeute "somit Aufhebung der isolierenden Bedingungen" (1984: 203f.). Es ist die gezielte Förderung der Persönlichkeitsentwicklung, die der Behinderung entgegenwirkt, und diese Förderung setzt gesellschaftliche Bedingungen voraus. Dazu zählen auch soziale Dienste und Einrichtungen, die über die Kompetenz und die Mittel verfügen, Teilhabe und Entwicklung behinderter Personen angemessen zu unterstützen. Die regulären Strukturen einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft sind mit dieser Aufgabe überfordert.

Die Linkskräfte sind gut beraten, wenn sie gegenüber den Losungen der neoliberalen Sozialpolitik einen Sicherheitsabstand einhalten. "Inklusion" eignet sich weder zur programmatischen Positionsbestimmung noch als gemeinsame Orientierung für eine Bündnispolitik. In Deutschland stellt die Inklusionsdebatte vor allem die ideologische Begleitmusik für eine neue Runde des Sozialabbaus dar. Ganz im Sinne von Thilo Sarrazin und seiner Vorstellung vom "intelligenten Sparen" soll die Behindertenhilfe mittelfristig zu Arbeitskonzepten geführt werden, die unter dem Strich günstiger sind. Im Zeichen der Inklusion sollen spezielle Angebote für Behinderte dabei ausgedünnt werden oder wegfallen.

Aus der Sicht einer Kostendämpfungspolitik ist das nachvollziehbar, denn im laufenden Jahr werden etwa 14 Milliarden Euro für die Behindertenhilfe aufgewandt - ein Batzen, der immerhin zwei Drittel der offiziellen Sozialhilfeleistungen ausmacht. Hier ist noch etwas zu holen. Die entsprechende Gesetzesänderung ist bereits auf den Weg gebracht (ASMK 2009).


Wolfgang Trunk war früher in der Abteilung Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall tätig; heute führt er die Geschäfte der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Hessen.


Literatur

ASMK (2009): 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz; Beschluss zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen.

Goethe, Johann Wolfgang von: Faust I.

Holzkamp, Klaus (1993): Lernen - subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt am Main/New York.

Jantzen, Wolfgang (1984): Behinderung, in: Eyferth, Hanns (Hrsg.); Handbuch zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Neuwied.

Klaus, Georg (1973): Moderne Logik, Berlin.

Trunk, Wolfgang (2010): Gleichheit ohne Brüderlichkeit, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 3, Baden-Baden.

Watzlawick, Paul u.a. (1974): Lösungen - Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern.


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Quelle:
Sozialismus Heft 4/2011, Seite 46-48
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2011