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RECHT/660: Keine Hilfsmittel von der Krankenkasse für soziale Teilhabe (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1 - März 2010

Das Bundessozialgericht sagt:
Keine Hilfsmittel von der Krankenkasse für soziale Teilhabe

Von Norbert Schumacher


Viele Menschen mit Behinderung sind auf Hilfsmittel angewiesen. Nur so können sie am Leben in der Gemeinschaft teilhaben. Oft zahlt dafür die Krankenkasse. Wenn sie sich aber weigert, müssen Richter ein Urteil sprechen. Das Bundessozialgericht hat jetzt zum Beispiel entschieden: Die Kosten für ein behindertengerechtes Fahrrad muss die Krankenkasse nicht übernehmen. Dafür ist sie nicht zuständig.


Das Problem: Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit. Eine darüber hinaus gehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) jüngst in mehreren Entscheidungen bestätigt.

In Bezug auf den Ausgleich einer Behinderung bedeutet dies, dass die gesetzliche Krankenkasse über den unmittelbaren Ausgleich einer Behinderung hinaus nicht auch sämtliche direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen muss. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Seit jeher besonders umstritten sind die Fälle, in denen es um das Grundbedürfnis des Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums geht. Die Rechtsprechung bejaht die Bewegungsfreiheit als allgemeines Grundbedürfnis. Sie beschränkt den Anspruch aber auf diejenigen Entfernungen, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklegt (Mobilität in der eigenen Wohnung sowie im unmittelbaren Nahbereich).

Hinzu kommt, dass es im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung immer nur um einen Basisausgleich der Behinderung selbst gehen kann. Es besteht kein Anspruch auf eine Optimalversorgung im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Das BSG hatte im vergangenen Jahr mehrfach die Möglichkeit, zur Versorgung mit einem behindertengerechten Fahrrad Stellung zu nehmen. Es hat seine Rechtsprechung dahingehend konkretisiert, dass die Ermöglichung des Fahrradfahrens an sich und die Wahrnehmung von Geschwindigkeit und Raum allein nicht zu den von der gesetzlichen Krankenversicherung zu finanzierenden Grundbedürfnissen gehören. Gleiches gelte für gemeinsame Fahrradausflüge mit der Familie außerhalb des Nahbereichs, der Wohnung (Näheres im Rechtsdienst 1/2010).

Leistungen zur sozialen Teilhabe werden als Leistung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und damit im Rahmen der Sozialhilfe erbracht. Da die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft somit eine nachrangige Fürsorgeleistung sind, liegt der Zuständigkeitsstreit in vielen Fällen auf der Hand: Häufig lässt sich eben nicht einfach feststellen, ob ein Hilfsmittel im konkreten Einzelfall der beruflichen, der medizinischen oder der sozialen Rehabilitation zuzuordnen ist. Für die betroffenen behinderten Menschen bedeutet dies eine langwierige Auseinandersetzung, oft mit Klagen über mehrere Instanzen. Dies kann faktisch zur Leistungsverweigerung führen; denn längst nicht immer gibt es die Möglichkeit der vorläufigen Leistung im gerichtlichen Eilverfahren oder der Selbstbeschaffung der Leistung.

Eine Reform ist überfällig. Aus Sicht von Menschen mit Behinderung sollten die Zuständigkeiten klar strukturiert und damit vereinfacht werden. Die Zuordnung der sozialen Rehabilitationsleistungen zum Fürsorgerecht ist langfristig aufzuheben.

Dies wäre auch im Sinne der von Deutschland ratifizierten Behindertenrechtskonvention.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1/2010, 31. Jg., März 2010, S. 11
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Leipziger Platz 15, 10117 Berlin
Telefon: 030/20 64 11-0, Fax: 030/20 64 11-204
E-Mail: LHZ-Redaktion@Lebenshilfe.de
Internet: www.lebenshilfe.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2010