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RECHT/662: Krankenkasse muß zahlen - Selbstständigkeit durch E-Rolli (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 1/2010

KRANKENKASSE MUSS ZAHLEN

Selbstständigkeit durch E-Rolli


Krankenkassen müssen behinderte Menschen so versorgen, dass sie sich im Umfeld ihrer Wohnung möglichst selbstständig bewegen können.


Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden, dass einem behinderten Menschen zum Zwecke der möglichst selbstständigen Bewegung im Umfeld der Wohnung bei Bedarf ein elektrischer Rollstuhl zu finanzieren ist. Die behinderten Menschen müssten sich nicht darauf verweisen lassen, dass genügend Angehörige da seien, die sie schieben könnten.

Dem Kläger waren wegen einer schweren Diabetiserkrankung beide Beine amputiert worden. Die Versorgungsverwaltung hat einen Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G und aG festgestellt. Mit den von den beklagten Krankenversicherung (KV) zur Verfügung gestellten Prothesen kann der Kläger lediglich wenige Meter und auch nur mit zusätzlicher haltgebender Hilfe einer Begleitperson gehen. Die KV hatte ihn mit einem handbetriebenen "Aktivrollstuhl" versorgt, den er zu Hause benutzt. Außerhalb der Wohnung verwendet er einen weiteren Aktivrollstuhl, den er selbst angeschafft hat. Betreut und gepflegt wird er von seiner Ehefrau, die sich ganztägig im Haus befindet.

Wegen Kreislaufbeschwerden, eingeschränkter Herzleistung und einer aus der ständigen Überbeanspruchung beider Arme resultierenden chronischen Epicondylitis beantragt der Kläger unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung einen Elektrorollstuhl, da er sich außerhalb der Wohnung praktisch nur noch mit Hilfe einer Begleitperson bewegen könne, die den Rollstuhl schiebe. Seine Frau sei mit der Schiebehilfe überlastet, weil sie an einer Sattelgelenksarthrose beider Hände leide und dauernd Belastungsschmerzen verspüre. Sein Schwiegersohn sei berufstätig und könne ihn deshalb nur an den Wochenenden begleiten. Auf sonstige Hilfspersonen könne er nicht zurückgreifen, er möchte gerne ohne fremde Hilfe Spazierfahrten in die Umgebung machen, das Schwimmbad im benachbarten Langenau erreichen, das er fünfmal wöchentlich zur Stärkung der eigenen Fitness aufsuche und an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen. Die beklagte KV lehnte den Leistungsantrag nach Einholung von Gutachten des Medizinischen Dienstes der KV ab, weil der Kläger mit den vorhandenen Rollstühlen in der Lage sei, sich zu Hause und im - allein maßgeblichen - Nahbereich der Wohnung selbstständig bewegen könne. Für sämtliche Formen der Freizeitgestaltung außerhalb des Nahbereichs (Spazierfahrten, Besuch des Schwimmbads und kultureller Veranstaltungen) bestehe keine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Auch topografische Besonderheiten des Nahbereichs könnten einen Anspruch auf Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V nicht begründen. Nachdem der Kläger in dem Vorverfahren jeweils unterlegen war, wendet er sich nun an das BSG mit der Rüge der Verletzung von § 33 SGB V. Er macht geltend, die Hilfsmittelversorgung müsse dem Ziel dienen, nach Möglichkeit von der Hilfe Dritter unabhängig zu werden und so die Selbstständigkeit eines behinderten Menschen zu unterstützen.

Das BSG hat das Berufungsurteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen. Es hat dabei die Feststellung getroffen, dass die bisherigen Feststellungen keine abschließende "positive oder negative" Entscheidung darüber zuließen, ob der geltend gemachte Anspruch auf Gewährung eines Elektrorollstuhls nach § 33 SGB V begründet sei.

Im vorliegenden Falle gehe es um die erstmalige Versorgung mit einem Elektrorollstuhl. Dieses Hilfsmittel stelle wegen seiner andersartigen Konstruktion und Betriebsform ein "aliud" zu einem Aktivrollstuhl dar. Deshalb könne nicht von einer "Ersatzbeschaffung" gesprochen werden, wenn der außerhalb der Wohnung benutzte, vom Kläger selbst beschaffte Aktivrollstuhl von der Beklagten bereitgestellt worden wäre.

Weiterhin führt das Gericht aus, dass die Benutzung des Elektrorollstuhls hier zum Behinderungsausgleich erforderlich sein könne. Dieser in § 33 Abs. 1 Satz SGB V genannte Zweck eines von der GKV zu leistenden Hilfsmittels bedeute allerdings nicht, dass über den Ausgleich der Behinderung als solcher (sog. unmittelbarer Behinderungsausgleich) hinaus auch sämtliche direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen wären (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich). Aufgabe der GKV sei allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktion einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel sei von der GKV im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkung der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitige oder mildere und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betreffe. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats gehörten zu diesen allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehöre u.a. auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grund- bzw. Schulwissens.

Den mittelbaren Behinderungsausgleich - und damit auch das hier allein in Betracht kommende Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums - hat die Rechtsprechung des BSG schon in den 1990er Jahren immer nur im Sinne eines Basisausgleichs der Folgen der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines Gesunden verstanden. So hat der Senat zwar die Bewegungsfreiheit als allgemeines Grundbedürfnis bejaht, dabei auch nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein gesunder Mensch üblicherweise noch zu Fuß zurücklegt. Später sei dies dahingehend präzisiert worden, sich in der eigenen Wohnung bewegen und die Wohnung verlassen zu können, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen (z.B. Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post) zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien. Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden sei, seien immer zusätzliche qualitative Momente verlangt worden. Deshalb habe der Senat bei Jugendlichen zwar diejenigen Entfernungen als Maßstab genommen, die ein Jugendlicher üblicherweise mit dem Fahrrad zurücklegt; das die Mobilität über den Nahbereich hinaus ermöglichende Hilfsmittel sei aber nicht wegen dieser rein quantitativen Erweiterung des Bewegungsradius zugesprochen worden, sondern wegen der dadurch geförderten Integration jenes behinderten Klägers in seiner jugendlichen Entwicklungsphase in den Kreis gleichaltriger Jugendlicher. Auch bei Schulkindern sei nicht die "Fortbewegung auch zu und in Orten außerhalb des Wohnortes" der maßgebliche Gesichtspunkt gewesen, sondern die Ermöglichung des Schulbesuchs an sich. In der Sache bestehe für den so gezogenen räumlichen Bewegungsradius ein Anspruch auf die im Einzelfall für den gebotenen Behinderungsausgleich ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Deshalb bestehe kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit eine kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell ebenfalls geeignet sei. Andernfalls seien die Mehrkosten gemäß § 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V von dem Versicherten selbst zu tragen. Demgemäß hätten die Krankenkassen (KK) nicht für solche "Innovationen" aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern sich auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken.

Nach diesen Vorgaben habe das LSG insoweit einen zutreffenden Ansatz gewählt, indem es - allein - auf das Bedürfnis eines Menschen nach Mobilität in der Wohnung selbst sowie im Nahbereich der Wohnung aufgestellt habe. Unzutreffend sei jedoch die Ansicht des LSG, das Grundbedürfnis der Bewegungsfreiheit innerhalb des Nahbereichs sei hier befriedigt, weil der Kläger diesen Bereich jedenfalls mit Hilfe einer Begleitperson und dem vorhandenen Aktivrollstuhl erreichen könne, sodass der begehrte Elektrorollstuhl im vorliegenden Einzelfall kein zum Behinderungsausgleich notwendiges Hilfsmittel darstelle. Denn die Möglichkeit, die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen, schließe den Versorgungsanspruch nach § 33 SGB V nicht aus.

Wesentliches Ziel der Hilfsmittelversorgung sei es, dass behinderte Menschen nach Möglichkeit von der Hilfe anderer Menschen unabhängig, zumindest aber deutlich weniger abhängig werden. Hier liege der ausschlaggebende funktionelle Gebrauchsvorteil des Elektrorollstuhls darin, dass der Kläger beim Befahren des Nahbereichs nicht von der Begleitung seiner Ehefrau, seines Schwiegersohnes oder sonstiger Dritter abhängig wäre, die bisher Schiebehilfe hätten leisten müssen, sobald er sich überanstrengt fühlte. Die selbstständige Lebensführung und die zeitliche Dispositionsfreiheit wären daher in weit größerem Maße gesichert, als wenn er auf die Hilfe seiner Ehefrau oder seines - ohnehin nur am Wochenende anwesenden - Schwiegersohnes warten müsste. Das LSG habe also zu Unrecht auf die Möglichkeit der familiären Schiebehilfe verwiesen, als es die Notwendigkeit der Ausstattung mit einem Elektrorollstuhl verneinte. Demgemäß komme es auch nicht darauf an, ob die Ehefrau des Klägers wie behauptet körperlich mittlerweile außerstande sei, diese Schiebehilfe zu leisten. Ebenso sei es unerheblich, ob der Kläger mit Hilfe seines Pkw und dem darin mitgeführten Aktivrollstuhl den Nahbereich erschließen könne, weil er dabei ebenfalls auf die Unterstützung einer Begleitperson beim Umstieg in den und aus dem Pkw angewiesen wäre.

Die spezielle Pflicht der GKV, behinderten Menschen durch eine angemessene Hilfsmittelversorgung eine möglichst selbstständige Lebensführung zu bewahren, ergebe sich zunächst aus der allgemeinen Pflicht der Sozialversicherungsträger, in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich die sozialen Rechte der Versicherten und sozialen Rechte bei der Auslegung der Vorschriften des Sozialgesetzbuches (SGB I bis SGB XII) und bei der Ausübung des Ermessens zu beachten; dabei sei sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht würden. Der Bereich der Hilfsmittelversorgung durch die Krankenkassen sei speziell in § 4 Abs. 2 Nr. 1 SGB I angesprochen, wonach Versicherte im Rahmen der GKV ein Recht auf die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit hätten. Die Hilfsmittelversorgung diene dabei der Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung, der Vorbeugung gegen eine drohende Behinderung und dem Behinderungsausgleich (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Bei der Wahl zwischen mehreren geeigneten Hilfsmitteln sei darüber hinaus § 33 SGB 1 zu beachten: "Ist der Inhalt von Rechten oder Pflichten nach Art oder Umfang nicht im einzelnen bestimmt, sind bei ihrer Ausgestaltung die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten oder Verpflichteten, sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit sowie die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen. Dabei soll den Wünschen des Berechtigten oder Verpflichteten entsprochen werden, soweit sie angemessen sind." An diese Regelung knüpfe auch das "Wunsch- und Wahlrecht" behinderter Menschen bei der Rehabilitation und der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft an, das in § 9 Abs. 1 SGB IX niedergelegt und im Rahmen der medizinischen Rehabilitation auch von den KK zu beachten sei.

Nach diesen Grundsätzen habe der Kläger - vorausgesetzt, er ist nicht (mehr) in der Lage, den Nahbereich der Wohnung mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl aus eigener Kraft zu erschließen - Anspruch auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl, weil dies dem Ziel diene, dem behinderten Menschen eine selbstständigere Lebensführung zu ermöglichen, indem sein Bewegungsspielraum im Nahbereich der Wohnung durch die Unabhängigkeit von fremder Schiebehilfe spürbar erweitert werde. Es gehe nicht lediglich um die Erhöhung der Bequemlichkeit des Klägers, was einen Versorgungsanspruch grundsätzlich nicht rechtfertigen könnte, sondern um eine nachhaltige Erweiterung des persönlichen Freiraums und des Umfangs der selbstständigen Lebensführung.

Mit dieser rechtlichen Wirkung hat das BSG den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.


Die Entscheidung des BSG vom 12.08.2009 trägt das AZ: B 3 KR 8/08 R.


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Quelle:
Selbsthilfe 1/2010, S. 40-42
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2010