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RECHT/674: Versagung von Eilrechtsschutz (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 1/2011

GRUNDGESETZ
Versagung von Eilrechtsschutz
für die Anschaffung eines mundgesteuerten Elektrorollstuhls ist Grundrechtsverletzung

Von Peter Brünsing


Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einem Beschluss festgestellt, dass die Versagung von Eilrechtsschutz verfassungswidrig sein kann.

Dem Beschluss lag die Beschwerde einer an amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankten Frau zugrunde, die nach nahezu vollständiger Lähmung der Muskulatur auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Da sie kaum noch sprechen kann, erfolgt die Kommunikation über einen Sprachcomputer. Sie bezieht Leistungen der Pflegeversicherung der Pflegestufe III und lebt mit ihrem Ehemann im eigenen Haushalt. Im September 2007 beantragte sie unter Vorlage einer entsprechenden Verordnung einen speziell für sie hergerichteten Elektrorollstuhl samt elektronischer Mundsteuerung. Nachdem der TÜV Rheinland festgestellt hatte, dass die Beschwerdeführerin damit keine Fahrtauglichkeit im Straßenverkehr erreichen könne, lehnte die Krankenkasse (KK) die begehrte Versorgung ab.

Dagegen wehrte sich die Beschwerdeführerin durch Beantragung einer einstweiligen Anordnung, in der u.a. ausgeführt wurde, dass der Elektrorollstuhl nur im häuslichen Umfeld genutzt werden solle. Dieser Antrag wurde jedoch vom Sozialgericht (SG) Duisburg mit der Begründung abgelehnt, dass das Begehren auf eine Vorwegnahme der Hauptsache abziele, da der Elektrorollstuhl mit Joystick-Mundsteuerung extra für sie hergestellt werden müsse. Außerdem sei auch im häuslichen Bereich die Gefahr eines Unfalls nicht auszuschließen. Auch die dagegen eingelegte Beschwerde wurde durch das Landessozialgericht (LSG) NRW durch Beschluss zurückgewiesen. Das LSG führte in seiner Entscheidung aus, dass es bereits fraglich sei, ob ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen sei, das für eine Hilfsmittelversorgung allein in Betracht komme. Die Fortbewegungsmöglichkeit als solche sei durch die Versorgung mit einem Schiebe- und einem Multifunktionsrollstuhl ausreichend sichergestellt. Es bestehe Aufklärungsbedarf, ob die Beschwerdeführerin überhaupt noch in der Lage sei, sich alleine ohne die Anwesenheit von Betreuungspersonen in der Wohnung aufzuhalten.

Dagegen legte die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde, verbunden mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein, und rügte eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG. Es sei im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG ein untragbarer Zustand, dass die SG die schwerwiegenden Folgen der Versagung des Eilrechtsschutzes für ihre Situation nicht einbezogen hätten. Der beantragte Elektrorollstuhl gebe ihr einen letzten Rest an eigenverantwortlicher Mobilität. Ohne diese Hilfe sei sie verurteilt, an der Stelle auszuharren, wo sie im Rollstuhl abgestellt worden sei, bis ihr berufstätiger Ehemann nach Hause zurückkehre. Die leihweise Überlassung eines entsprechenden Elektrorollstuhls habe gezeigt, dass sie allein in der Lage sei, den Rollstuhl funktionsgerecht zu bedienen. Ihre Anregung, dies dem Gericht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung auch zu demonstrieren, sei nicht aufgegriffen worden.

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten der Beschwerdeführerin angezeigt sei, hob die vorangegangenen Beschlüsse auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück an das SG.

Art. 19 Abs. 4 GG verlange auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann einen vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Die Gerichte seien gehalten, die Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung widerstreitender Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientierten. Sei dies dem Gericht im Eilverfahren nicht möglich, müsse anhand einer Folgenabwägung entschieden werden. Auch in diesem Fall seien die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssten sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen, besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen gehe. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung müsse verhindert werden, auch wenn sie nur möglich erscheine oder nur zeitweilig andauere. Je schwerer die Belastung des Betroffenen wiege, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sei, umso weniger dürfe das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden.

Im vorliegenden Fall kam das BVerfG zu der Entscheidung, dass die Versagung von Eilrechtsschutz für die Beschwerdeführerin unter Beachtung ihrer grundrechtlich geschützten Position ein schwerer Nachteil sei. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V hätten Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die erforderlich seien, um eine Behinderung auszugleichen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei ein Hilfsmittel erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbewältigung im Rahmen der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens benötigt werde. Maßstab sei dabei der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der behinderte Mensch mit Hilfe des Hilfsmittels wieder aufschließen solle. Für die Herstellung einer ausreichenden Bewegungsfreiheit seien dabei solche Hilfsmittel erforderlich, die dem behinderten Menschen einen Bewegungsradius verschafften, wie ihn ein nichtbehinderter Mensch üblicherweise noch zu Fuß erreiche. Hierzu gehöre im gegebenen Fall auch ein Elektrorollstuhl.

Die Beschwerdeführerin sei während der Abwesenheit ihres Ehemannes im häuslichen Umfeld an den Platz gebunden, an dem sie "abgestellt" wurde. Bei einem unter ALS leidenden Menschen mit völligem Verlust der eigenen Mobilität sei der Zwang zum Verharren in einer Situation der Hilflosigkeit eine schwerwiegende Einschränkung, die seine Persönlichkeitsrechte berühre.

Vor diesem Hintergrund genügten die angegriffenen Entscheidungen nicht dem Gebot eines effektiven Rechtsschutzes. Sie seien nicht auf eine Erörterung der Erfolgsaussichten der Beschwerdeführerin in der Hauptsache gestützt, sondern hätten den Eilantrag schon mit Hinweis auf die Notwendigkeit näherer Sachverhaltsfeststellung zur Frage möglicher Gefahren durch den Betrieb eines Elektrorollstuhls abgelehnt. Dies berücksichtige die grundrechtlich geschützten Interessen der Beschwerdeführerin nicht ausreichend. Sie ließen ihr Interesse, einen Rest an Mobilität zu erhalten, wegen einer lediglich für möglich gehaltenen Gefahr beim Betrieb des Elektrorollstuhls zurücktreten, obwohl dies mit Hinweis auf die Erprobung eines leihweise überlassenen Rollstuhls unter Beweisantritt bestritten worden war. Diesen Vortrag durften die Gerichte nicht unter Hinweis auf eine lediglich denkbare Gefahrenlage beiseite schieben. Erst recht stelle es eine Verkürzung des gebotenen Rechtsschutzes dar, wenn das LSG die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung aufgrund von Mutmaßungen über das Vorhandensein von Hilfspersonen verneine, welche die Mobilität der Beschwerdeführerin sicherstellen könnten.

Die Ausführungen der Gerichte bezüglich der Vorwegnahme der Hauptsache überzeugten nicht, weil diese bei drohenden schweren und unzumutbaren Nachteilen durchaus geboten sein könne. Auch wenn der Elektrorollstuhl speziell für die Beschwerdeführerin hergerichtet werden müsse, könne diese Anordnung nachträglich für die Vergangenheit korrigiert werden. Die angegriffenen Entscheidungen entsprächen nicht dem Gebot einer umfassenden Abwägung der mit einer einstweiligen Anordnung eingetretenen Folgen unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Belange der Beschwerdeführerin.

Die aufgezeigten Rechtsverstöße führten letztlich zur Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Beschlüsse, die deshalb aufzuheben seien. Die Sache werde daher zur erneuten Entscheidung an das SG zurückverwiesen, das unter Berücksichtigung der Gründe dieser Entscheidung erneut über den Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz zu entscheiden habe.


Der Beschluss des BVerfG vom 25.02.2009 trägt das AZ: 1 BvR 120/09


DER AUTOR
Peter Brünsing ist Leiter des Referats Recht und Justiziar der BAG SELBSTHILFE.


*


Quelle:
Selbsthilfe 1/2011, S. 40-41
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2011