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TAGUNG/258: Hauptstadtsymposium zur Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung (idw)


Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) - 17.06.2009

Hauptstadtsymposium der DGPPN: Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung

Welcher Patient braucht was, wann und wie in der Lebensspanne?


In Deutschland leben derzeit etwa 500.000 Menschen mit geistiger Behinderung. Die Mehrzahl ist leicht bis mittelgradig geistig behindert, die Minderheit schwer oder schwerstbehindert. Menschen mit geistiger Behinderung haben überdurchschnittlich häufig zusätzliche chronische Erkrankungen und Behinderungen sowie Risiken für akute Krankheiten. Dazu gehört ebenfalls die überdurchschnittliche Belastung mit psychischen Störungen.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) arbeitet seit vielen Jahren dafür, dass der wissenschaftliche und medizinische Fortschritt auch diesen Menschen uneingeschränkt zu Gute kommt. Beim 5. Hauptstadtsymposium der DGPPN am heutigen Mittwoch, den 17. Juni 2009, wurden einige grundsätzliche Aspekte diskutiert. Im Mittelpunkt stand dabei u. a. die Frage nach geeigneten und bedarfsgerechten Versorgungsstrukturen bzw. Behandlungsangeboten oder nach Anforderungen an den Schnittstellen zwischen Kindheit und Jugend zum Erwachsenenalter. Bei alldem ist die ebenfalls die Tatsache zu berücksichtigen, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen immer älter werden und damit auch gerontopsychiatrische Fragestellungen aktuell werden.

Nach Auffassung der DGPPN wird sowohl in der allgemeinen gesundheitspolitischen Diskussion als auch in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Fachdiskussion die Zielgruppe von Menschen mit geistiger Behinderung bzw. deren psychiatrischer und psychotherapeutischer Bedarf noch immer nicht ausreichend beachtet, obwohl in den letzten Jahren der gesundheitliche Versorgungsbedarf von Menschen mit geistiger Behinderung zunehmend thematisiert wurde. Unbestreitbar hat die gesellschaftliche Diskussion seit Mitte der 70er Jahre zu Weiterentwicklungen im Versorgungssystem geführt, selbst wenn innovative Elemente im Hinblick auf deren breite Verfügbarkeit oft noch nicht ausreichen oder nicht sicher finanziert sind. Mit Nachdruck tritt die Fachgesellschaft Positionen entgegen, die den besonderen Bedarf von Menschen mit geistiger Behinderung an psychiatrischen und psychotherapeutischen Hilfen oder die Zweckmäßigkeit solcher Hilfen in Abrede zu stellen versuchen. So werden beispielsweise die mittlerweile vorliegenden positiven Erfahrungen mit psychotherapeutischen Interventionen - freilich oft mit zielgruppenspezifischen methodischen Modifikationen oder Ergänzungen - bei Menschen mit geistiger Behinderung oft nicht zur Kenntnis genommen oder Ergebnisse aus internationalen Fachdiskussion und internationale Positionen mit fachlicher und menschenrechtlicher Fundierung noch nicht ausreichend gewürdigt.


Forderungskatalog der DGPPN: Versorgungsbedarf und Entwicklungsperspektiven

Vor diesem Hintergrund hat die DGPPN nun einen Katalog von Forderungen zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen erarbeitet. Hier die Forderungen im Überblick:

1. Menschen mit geistiger Behinderung haben ein erhöhtes Risiko, im Laufe ihres Lebens zusätzlich psychische Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln. Die Gründe dafür sind vielfältig; diese liegen in biologischen Faktoren, aber nicht zuletzt auch in der erschwerten Bedingungen der individuellen Entwicklung, der Sozialisation, in Erfahrungen der Ausgrenzung und Stigmatisierung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Zusätzliche psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten stellen zusätzliche Hemmnisse für eine gelingende soziale Integration dar. Diese verlangen qualifizierte, auf die Bedürfnisse und Voraussetzungen der Zielgruppe abgestimmte psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfen, aber auch geeignete Maßnahmen, um deren Auftreten womöglich zu verhindern oder bei deren Auftreten rechtzeitig zu intervenieren, um Chronifizierung und nachteilige soziale Folgen zu vermeiden.

2. Das System der Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung befindet sich im Wandel. Mehr und mehr werden gemeindenahe Formen der Unterstützung entwickelt. Die traditionellen Formen stationärer Hilfen in großen, wohnortfernen Einrichtungen werden abgelöst von gemeindeintegrierten stationären und vor allem von ambulanten Hilfen. Dies alles geschieht im Gleichklang mit internationalen fachlichen Entwicklungen, die für Menschen mit Behinderungen selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe am sozialen Leben, soziale Inklusion, möglichst normale und möglichst wenig ausgrenzende Lebensbedingungen anstreben.

3. Aus dem Wandel der Hilfeformen für Menschen mit geistiger Behinderung in Richtung auf eine gemeindeintegrierte Begleitung und Assistenz resultieren neuartige Anforderungen an das psychiatrisch- psychotherapeutische Hilfesystem.

4. Vor allem und in erster Linie das psychiatrisch-psychotherapeutische Regelversorgungssystem muss sich auf die besonderen Bedürfnisse und Voraussetzungen dieser Zielgruppe einstellen. Dabei kommt es darauf an, mit den übrigen an der Begleitung dieser Menschen beteiligten Personen, darunter Angehörige oder Mitarbeitende der Einrichtungen und Dienste, intensiv zu kooperieren und den interdisziplinäre Zugang zur Interpretation von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten und für die Planung geeigneter Interventionen zu nutzen.

5. Die niedergelassenen Psychiater und Psychotherapeuten, die Mitarbeitenden in psychiatrischen Kliniken und Fachkrankenhäusern, in Tageskliniken und in Psychiatrischen Institutsambulanzen brauchen noch mehr Kompetenzen in der Kommunikation mit Menschen mit geistiger Behinderung und diejenigen fachlichen Kenntnisse, die zur Bewältigung diagnostischer, differentialdiagnostischer und therapeutischer Anforderungen bei dieser Zielgruppe aneignen. Dazu gehört vor allem die Aneignung entwicklungspsychologischer, entwicklungspsychiatrischer und kontextorientierter Sichtweisen, um sog. Verhaltensauffälligkeiten (z.B. selbstverletzendes Verhalten) von psychischen Störungen (z.B. depressive Störungen) im engeren Sinne zu unterscheiden und geeignete Beratungs- und Behandlungsstrategien zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund ist diese Thematik stärker als bisher im Medizinstudium und in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung zu berücksichtigen.

6. Viele fachliche Fragen bedürfen noch der Klärung. Dies betrifft sowohl psychiatrische und psychotherapeutische Fragen im engeren Sinne als auch Aspekte der angemessenen Versorgungsstrukturen im Hinblick auf Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen. Daraus resultiert, dass solche Fragestellungen mehr als bisher in der Grundlagen- und klinischen Forschung als auch in der Versorgungsforschung bearbeitet werden müssen.

7. Das gegenwärtige psychiatrisch-psychotherapeutische Regelversorgungssystem muss für diese Patientengruppe weiterentwickelt werden Dies gilt für besonders schwierige differentialdiagnostische und therapeutische Fragen, etwa jene hinsichtlich seltener genetisch bedingter Syndrome und deren psychischer Symptomatik. Weitere Beispiel sind die Analysen von komplexen Faktoren im Kontext bestimmter Verhaltensauffälligkeiten oder hinsichtlich der Diagnostik und Therapie psychischer Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten bei sehr schwerer geistiger Behinderung.

Die DGPPN als wissenschaftliche Fachgesellschaft erkennt ausdrücklich ihre Verantwortung dafür, dass der wissenschaftliche Fortschritt auf dem Gebiet von Psychiatrie und Psychotherapie auch Menschen mit geistiger Behinderung uneingeschränkt zugute kommt. Die Fachgesellschaft ist sich ihrer Aufgabe bewusst, die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung für diese Personengruppe zu verbessern. Die DGPPN nimmt die zunehmende Beschäftigung der internationalen wissenschaftlichen Welt mit den Fragen der Gesundheit und speziell der psychischen Gesundheit von Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur zur Kenntnis, sondern und beteiligt sich mit ihrer Arbeit aktiv an dieser wichtigen gesellschaftlichen Diskussion. Gleiches gilt für die zunehmende Aufmerksamkeit, die das Thema der medizinischen Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung derzeit in Deutschland erfährt, so zuletzt im Rahmen des 112. Deutschen Ärztetag im Mai 2009.

Weitere Informationen finden Sie unter http://www.dgppn.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution805


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde (DGPPN), Dr. Thomas Nesseler, 17.06.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2009