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TAGUNG/279: Nicht alle sind auf dem Weg in die Gesellschaft (BEB)


BeB - Informationen, Bundesverband evangelische Behindertenhilfe
Nr. 46, April 2012

Nicht alle sind auf dem Weg in die Gesellschaft
Workshop zur "Zukunftsperspektive von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung im Sozialraum"

Von Ulrike Häcker



"Längst nicht alle Kinder und Jugendlichen sind auf einem guten Weg in die Gesellschaft ..." - mit diesen Worten fasst Prof. Dr. Heiner Keupp die Situation von vielen Kindern und Jugendlichen beim Workshop zur "Zukunftsperspektive von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung im Sozialraum" zusammen. Gemeinsam hatten der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (BeB) und die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) am 23. November 2011 zu diesem Workshop ins Haus der Kirche nach Kassel eingeladen.

In seiner Begrüßung hob der Vorsitzende des BeB, Michael Conty, deutlich hervor, wie wichtig dem BeB gerade Kinder und Jugendliche mit Behinderung oder psychischer Erkrankung sind, und betonte deren besondere Schutzwürdigkeit. Dem trage auch die UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung, die Kinder mit Behinderung und deren besonderen Bedürfnisse durch eine eigenständige Vorschrift - verbunden mit Verpflichtungen für die unterzeichnenden Staaten - in den Fokus rücke.

Trotz der bereits seit gut zwei Jahren bestehenden Vorschrift hat sich die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung in Deutschland bislang leider nicht zum Positiven hin verändert. Das Gegenteil ist der Fall: Seit Jahren stagnieren Maßnahmen, die zur Verbesserung der Situation beitragen könnten. Als Stichwort, so der Vorsitzende, sei beispielhaft die nach wie vor nur unzureichend umgesetzte Frühförderung zu nennen. Dennoch scheint die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Idee der Inklusion für den richtigen Weg für das zukünftige gesellschaftliche Zusammenleben zu halten, wie aus einer jüngsten Umfrage hervorgehe. Danach sprachen sich 75 Prozent der Befragten für die inklusive Beschulung aus. Das mache Mut und sei gleichzeitig ein Auftrag für alle verantwortlichen Akteure. Der Vorsitzende der DVfR, Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann, lobte im Anschluss die gelungene Zusammenarbeit der Verbände zum Wohl der im Fokus stehenden Menschen. Das Zusammenwirken vieler Verbände sei im Hinblick auf die Erfolgsaussichten von politischer Lobbyarbeit von unschätzbarem Wert. Gleichzeitig dürfe die Hoffnung auf den Erfolg der politischen Aktivitäten nicht allzu hoch gehängt werden. Die Erfahrungen zeigten die Grenzen des politischen Engagements. Dennoch sei darauf hinzuwirken, dass Ziele verbändeübergreifend verfolgt würden.

Mit seinem Auftaktreferat blätterte Prof. Dr. Heiner Keupp alle Facetten des Themenfeldes auf. Als Vorsitzender der Berichtskommission für den 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung hat er maßgeblich dazu beigetragen, dass erstmalig auch die Situation von Kindern mit Behinderung oder psychischer Erkrankung analysiert und bewertet wurde. Mit der scheinbar so einfachen Feststellung: "Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind in erster Linie Kinder und Jugendliche", schien der Weg gebahnt für die Diskussion zur Zusammenführung von allen Kindern und Jugendlichen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII - so genannte "Große Lösung"). Zunächst hatte diese Idee, so Prof. Keupp, breite Begeisterung ausgelöst. Allerdings sehe er die Gefahr darin, dass hier lediglich proklamatorische Politik ohne die materiellen und strukturellen Voraussetzungen gemacht werde.

Bei der Vorstellung des 13. Kinder- und Jugendberichts stellte Prof. Keupp insbesondere die "Befähigungsgerechtigkeit" in den Mittelpunkt. Die Autoren kommen im Bericht zu dem Schluss, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen auf einem guten Weg in die Gesellschaft seien. In vielen Bereichen seien Benachteiligung und Ausgrenzung zu erkennen. Zudem spiele das individuelle Exklusionsempfinden eine tragende Rolle bei der Verwirklichung von Teilhabe. Dennoch gelänge es etwa 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen auch durch die Unterstützung von staatlichen Angeboten - ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Allerdings seien die verbleibenden 20 Prozent Kinder und Jugendlichen, die diesen Weg nicht meistern, keine Zahl, die von den Verantwortlichen einfach vernachlässigt werden kann. Den Auftrag, Kinder und Jugendliche bei ihrem Weg in die Gesellschaft angemessen zu unterstützen, hätte Deutschland auch nicht erst seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention. Auch bereits in der "Ottawa-Charta" der WHO fänden sich dazu dezidierte Aussagen und Aufgaben für die Staaten.

Erschreckend sei allerdings in diesem Zusammenhang, dass es im Land nur sehr wenige Kenntnisse über die gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung gebe. Die Datenlage sie äußerst unbefriedigend. Aus seiner Sicht, so Prof. Keupp, müsse Gesundheitsförderung immer das Ziel verfolgen, Kinder und Jugendliche zu einer selbstbestimmten Lebensweise zu befähigen. Mit Empfehlungen für die Weiterentwicklung von unterschiedlichen Ansätzen in der Kinder- und Jugendhilfe - wie beispielhaft die Förderung der Gesundheit durch ein integriertes System früher Förderungsmaßnahmen oder die bessere Verklammerung von Schule und Kinder- und Jugendhilfe sowie die Vernetzung unterschiedlicher Hilfefelder - beendete Prof. Keupp seinen Vortrag. Den Aufschlag für die folgenden vier Impulsreferate übernahm Norbert Müller-Fehling, Vorsitzender des Bundesverbandes für körper- und mehrfach behinderte Menschen (bvkm). In seinem Referat beleuchtete er die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung aus der Perspektive der Familien und Angehörigen. Müller-Fehling stellte dabei klar, dass nicht die Eltern versagen, sondern das System versage. Familien mit Kindern mit Behinderung sitzen zumeist zwischen allen Stühlen und tragen die Nachteile des gegliederten Sozialsystems, wenn sie für ihre Kinder die notwendigen Hilfen einfordern. Mit der "Großen Lösung" war und ist daher die Hoffnung verbunden, auch die Situation von Familien und Angehörigen deutlich zu verbessern. Im Koalitionsvertrag hatten sich die Regierungsparteien verpflichtet, diese Lösung zu prüfen. Eine interministerielle Arbeitsgruppe wurde eingesetzt, Ergebnisse stünden aber noch aus.

Mit dem zweiten Impulsreferat übernahm Prof. Jo Jerg von der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg den Staffelstab. Prof. Jerg ging in seinem Referat vorrangig der Frage nach, welche Rolle Bildung als Voraussetzung für Teilhabe spiele. Aus seiner Sicht seien so genannte lokale Bildungslandschaften erforderlich, um das Recht auf Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen zu verwirklichen. Bei den frühen Förder- und Bildungsangeboten könne bereits ein Inklusionsgrad von 61 Prozent festgestellt werden. Diese Zahl ginge allerdings bei den sich anschließenden Bildungseinrichtungen deutlich zurück. Obwohl es inzwischen eine ganze Reihe von "Leuchttürmen" für inklusive Schulen gebe, ist es nicht gelungen, die Fläche damit zu infizieren. Für den gelungenen Start in einer Bildungseinrichtung "komme es auf den Anfang an", so Prof. Jerg. Inklusive Bildung fange in der Grundschule an, umfasse aber deutlich mehr als nur das Schulsystem. Abschließend forderte er die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Schulgesetzen der Bundesländer und betont, dass Inklusion ein "Denken ohne Geländer" erfordere. Es gäbe für jeden Menschen ein Recht auf "soziale Zugehörigkeit".

Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann legte in seinem Referat den Schwerpunkt auf die Vernetzung der Professionen als Voraussetzung für einen inklusiven Sozialraum. Ein umfassender - von der WHO formulierter - Auftrag für die handelnden und verantwortlichen Akteure bestünde bereits seit 1981. Die WHO hatte hier schon sehr früh einen Freiheitsbegriff geprägt.

Aus seiner Sicht müsse ein inklusiver Sozialraum Angebote so gestalten, dass alle in einem bestimmten Sozialraum lebenden Menschen diese auch in Anspruch nehmen können. Es bedarf dafür zwingend integrierter Angebote. Damit formulierte Schmidt-Ohlemann den Auftrag an die Professionen, sich weit stärker zu vernetzen als dies bislang der Fall sei. Die Professionen müssten dabei die Bereitschaft zeigen, voneinander zu lernen und sich gegenseitige in ihrer jeweiligen Fachkompetenz anzuerkennen. Professionsspezifische Angebote werden nicht dem Anspruch nach einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen und dessen vielfältigen Bedürfnissen gerecht. Auch in diesem Feld gäbe es schon eine Reihe von vielversprechenden Beispielen, die ebenfalls ihren Weg in die Fläche finden müssten.

Im vierten Impulsreferat widmete sich Prof. Dr. Christian Lindmeier von der Universität Koblenz-Landau den Voraussetzungen für die Gestaltung von Übergängen insbesondere bei Jugendlichen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung. Einleitend weist Prof. Lindmeier auf die Sonderlebensläufe von Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung im Unterschied zu den so genannten Normalbiographien von Menschen ohne Behinderung hin. Mit Blick auf die Übergänge junger Erwachsener erscheine die Konstellation von Normallebenslauf und Normalbiographie zunehmend als Auslaufmodell, das im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung "erodiere".

Lindmeier sprach sich dafür aus, dass es für die Gestaltung von Übergängen - insbesondere die Gestaltung von barrierefreien Übergängen - Verantwortliche brauche, die die einzelnen Biographiephasen eines Menschen und möglicherweise die dazugehörigen Hilfefelder miteinander verzahnen. Dies stelle auch insbesondere an Pädagogen besondere Herausforderungen. Eine Pädagogik des Übergangs frage aus Sicht Prof. Lindmeiers daher nicht nur nach der Bewältigung von schwierigen Übergängen, sondern auch nach den biographischen Kompetenzen, die für eine subjektiv sinnvolle und systemisch tragfähige Gestaltung dieser Übergänge notwendig seien.

An Marlene Rupprecht (MdB) war im Vorfeld von den Organisatoren die Bitte ergangen, sich am Ende des Workshops in ihren Ausführungen damit zu befassen, welche politischen Strategien für einen Verband sinnvoll und zielführend sein könnten, um Themen zu platzieren und Entwicklungen anzustoßen. Marlene Rupprecht war insbesondere in ihrer Funktion als Kinderbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion und ihrer Zugehörigkeit zur Kinderkommission eingeladen worden. Einführend nahm sie Bezug auf die Kindersegnung im Lukasevangelium. In der Geschichte würden alle Kinder zu Jesus gebeten, unabhängig von Beeinträchtigungen.

Sie würden zu Jesus gebeten in ihrer Eigenschaft als Kinder. Damit sei der Inklusionsgedanke schon deutlich älter als zwei Jahre. Rupprecht stellte fest, dass die Versäulung des Sozialsystems in Deutschland eine der grundlegenden Ursachen für die vielen Probleme ist. Zudem folge das Sozialsystem einer inneren Logik der "Nichtzuständigkeit".

Weiterhin führte Rupprecht aus, welche Voraussetzungen eine gute Lobbyarbeit erfüllen müsste. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass Menschen mit Behinderung derzeit keine Lobby bei den Abgeordneten der politischen Ebenen haben. Um das Thema dennoch gezielt platzieren zu können, müsse die aktuelle politische Situation analysiert werden. Sie empfiehlt, alle Fraktionen einzeln in den Blick zu nehmen. Dies müsse sich auf die Bundes-, Landes- und Kommunalebene beziehen. Die derzeit sehr dünne Basis, die sich für Menschen mit Behinderung engagieren, müsse verbreitert werden.

Dafür sei es notwendig, einzelne Abgeordnete gezielt anzusprechen und zwar dort, wo diese selbst leben, also in ihrem Wahlkreis. Sie plädierte dafür, dass die Verbände nicht nachlassen dürfen in ihrem Bemühen, die Abgeordneten immer wieder um ein persönliches Gespräch zu bitten.

Die Herausforderung für die Verbände bestünde bei einem solchen Gespräch darin, komplexe Sachverhalte möglichst knapp und verständlich darzulegen. Wichtig sei ebenfalls, im Gespräch als Partner auf gleicher Augenhöhe aufzutreten - und immer wieder bei allen Themen, insbesondere bei der Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen, deutlich zu machen, dass es sich hierbei nicht um ein sektorales Problem handle. Marlene Rupprecht schloss ihre Ausführungen mit einem Zitat von Caspar David Friedrich: "Es ist ein weiter Weg von der Wahrheit zur Wirklichkeit".


Ulrike Häcker
haecker@beb-ev.de


Die Dokumentation der Veranstaltung steht zum Download bereit unter
http://www.beb-ev.de/content/artike_865_15.html

Zum Thema Inklusive Bildung siehe auch das BeB-Schulprojekt "Vielfalt-in-Bildung. Eine Schule für alle - jetzt!"; Informationen hierzu unter
www.vielfalt-in-bildung.de

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Quelle:
Verbands-Informationen, Nr. 46, April 2012, S. 21-23
Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers:
Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e.V. (BEB)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2012