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TAGUNG/287: "Von lokal bis global. Community Based Rehabilitation" (bezev)


Presse - Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V.

Internationale Tagung: Von lokal bis global: Community Based Rehabilitation
- eine Strategie zur Umsetzung einer inklusiven Entwicklung (Bonn, 3.- 4.5.2012)

von Benedikt Nerger



Über 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen vom 3.-4.5.2012 in Bonn zusammen, um sich mit CBR (Community Based Rehabilitation) zu beschäftigen und zu diskutieren, wie Inklusion in der Entwicklungszusammenarbeit praktisch umgesetzt werden kann. Die Tagung wurde gemeinsam organisiert von Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V. (bezev), Caritas international und der Christoffel-Blindenmission (CBM).1

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung hat die Inklusion von Menschen mit Behinderung in entwicklungspolitische Projekte und Programme verbindlich gemacht. Immer mehr Akteure der Entwicklungszusammenarbeit sind sich dessen bewusst, doch viele wissen nicht, wie sie Inklusion in die Praxis umsetzen können. Hierfür kann CBR ein geeigneter Ansatz sein. Wurde CBR ursprünglich für den Gesundheitsbereich entwickelt, kann der Ansatz heute in allen Lebensbereichen angewendet werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), UNESCO und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) haben diesen Ansatz aufgegriffen und mit Unterstützung von Expertinnen und Experten aus der Praxis die CBR-Leitlinien entwickelt. Diese umfassen die Bereiche Gesundheit, Bildung, Lebenssicherung, Soziales und Empowerment. Charakteristisch für CBR ist, dass Projekte gemeindenah durchgeführt werden und Menschen mit Behinderungen und ihr Umfeld an Entscheidungsprozessen und an der Projektdurchführung aktiv beteiligt sind. Dieser partizipative Ansatz von CBR trägt somit entscheidend dazu bei, die von der UN-Konvention geforderte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in die Praxis umzusetzen. Eine weitere Stärke der CBR-Leitlinien ist es, dass sie auch in ländlichen Regionen mit begrenzter Infrastruktur angewendet werden können. Dabei werden alle vorhandenen Ressourcen gebündelt, denn CBR schließt Menschen mit Behinderungen, ihre Familien und Gemeinden sowie Experten mit ein. Wichtigste Akteure für CBR sind Menschen mit Behinderung selbst und ihre Familien sowie Selbstvertretungsorganisationen (DPOs, Disabled People‹s Organisation). In einigen Ländern können auch Kirchen eine bedeutende Rolle innehaben, da sie eng mit Gemeinden zusammenarbeiten und überwiegend in ländlichen Regionen präsent sind.

Im Plenum und in den Arbeitsgruppen stellten die Referentinnen und Referenten CBR-Projekte aus der Praxis vor und diskutierten mit den Teilnehmenden wie CBR in Gesundheit, Bildung, Lebenssicherung und Empowerment umgesetzt werden kann.

Gesundheit

Der Bereich Gesundheit umfasst die Bereitstellung von allgemeinen Gesundheits- und Rehabilitationsdienstleistungen, technischen Hilfsmitteln und Präventionsmaßnahmen. Expertinnen und Experten aus den Niederlanden und Deutschland stellten Beispiele von Gesundheitsprojekten -und programmen aus Nepal vor. Für den Erfolg war vor allem wichtig, dass Gesundheitsdienstleistungen dezentral angeboten werden (z.B. mobile Kliniken) und zugänglich sind (physische Barrierefreiheit). Darüber hinaus übernehmen die CBR-Gemeindehelferinnen und -helfer die wichtige Aufgabe der Wissensvermittlung, indem sie z.B. Müttern Rehabilitationsübungen für ihre Kinder beibringen. Die Fachleute empfahlen, die Themen Behinderung und Inklusion in die staatlichen Institutionen und in der medizinischen Ausbildung stärker zu etablieren. Als bedeutender Akteur neben den staatlichen Institutionen wurden private Gesundheitsdienstleister genannt, die eine immer größere Rolle im Gesundheitssektor spielen. Der Bereich der Prävention (Unfallvermeidung, Impfung, gesunde Lebensweise) und Vorsorge wird nach Meinung der Referierenden immer noch zu stark vernachlässigt.

Auch wenn Behinderung heute nicht mehr so stark aus medizinischer Sicht, sondern unter dem Blickwinkel der sozialen Teilhabe betrachtet wird, ist der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ausschlaggebend für die Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft. Da der Gesundheits- und Bildungssektor häufig die größten Arbeitgeber in vielen Ländern sind, können sie eine große Hebelwirkung entfalten, wenn es gelingt, Inklusion hier zu etablieren.

Bildung

Eine inklusive Bildung ist eine wichtige Grundlage für eine inklusive Gesellschaft. Innerhalb der CBR-Leitlinien umfasst diese die frühkindliche Bildung, Primär- und Sekundärbildung, außerschulische Bildung und lebenslanges Lernen. Anhand eines Beispiels aus Indien diskutierten die Teilnehmenden wie inklusive Bildung umgesetzt werden kann. Trotz der schwierigen Bedingungen im Schulbereich (fehlende und schlecht ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer), entstanden in Indien viele positive Beispiele für inklusive Bildung. Neben den Grundvoraussetzungen wie Barrierefreiheit der Schulen und der Nicht-Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, sind die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler sowie die Ausbildung der Lehrenden entscheidend für den Erfolg. Trotz anfänglicher Skepsis ist es auch gelungen, Kinder mit intellektueller Beeinträchtigung zu beteiligen. Auch das Engagement der Eltern und die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung in der Gemeinde sind notwendig. Ein Hindernis für inklusive Bildung ist die Stigmatisierung von Behinderung. Dies kann dazu führen, dass Kinder mit Behinderung von ihren Familien versteckt werden und keine Schule besuchen dürfen.

In den Diskussionen mahnten die Teilnehmenden an, für Entwicklungsländer nicht die gleichen Maßstäbe anzulegen wie für Industrieländer (z.B. Anzahl der Schülerinnen und Schüler in einer Klasse). Außerdem fehlt es in vielen Ländern an einem öffentlichen Transportsystem, um entfernt gelegene Schulen zu erreichen. Inklusive Bildung bedeutet nicht, dass kein Fachpersonal (z.B. Sonderpädagogen) mehr benötigt wird, dieses werden nur anders eingesetzt. Ferner sollten die Akteure die Grenzen der Inklusion kennen und spezifische Schutzräume oder Rückzugsmöglichkeiten aufrecht erhalten.

Lebenssicherung

Lebenssicherung ist ein besonders signifikanter Bereich innerhalb der CBR-Matrix. Sie ist Voraussetzung, dass sich Menschen aus der Armut befreien und ein selbstständiges Leben führen können. In der Arbeitsgruppe stellten Referenten Projekte aus Ägypten und anderen Ländern vor. Diese umfassten Maßnahmen in der Entwicklung von beruflichen Fähigkeiten, zur Förderung von Selbstständigkeit, zur Vermittlung in abhängige Beschäftigung, zu Kleinkrediten und zur sozialen Sicherung. Wichtige Akteure sind neben den Familien vor allem die zuständigen Ministerien (Arbeit und Bildung), Unternehmen und Arbeitnehmerorganisationen. Dabei ist es vor allem in Entwicklungsländern ratsam, Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten realistisch einzuschätzen, über traditionelle Arbeitsfelder für Menschen mit Behinderung (z.B. Handwerk) hinauszuschauen und Marktlücken zu erkennen. Die Teilnehmenden nannten als größte Herausforderung, die Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen (besonders bei Arbeitgebern) und den Übergang von Schule in die Erwerbsphase zu realisieren.

Empowerment

Empowerment macht es möglich, dass Menschen mit Behinderung und ihr Umfeld in die Lage versetzt werden, ihre Rechte und Interessen selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu vertreten und zu gestalten. Maßgebliche Akteure hierfür sind die DPOs. Mainstreaming von Behinderung bedeutet nicht, dass keine behinderungsspezifischen Maßnahmen mehr notwendig sind. Besonders im Bereich Empowerment sind spezifische Projekte notwendig, um z.B. Selbstvertretungsorganisation von Menschen mit Behinderung zu stärken.2 Zwei Experten aus Norwegen und Indien stellten Beispiele aus afrikanischen Ländern und Indien vor, in denen es gelungen ist, Empowerment von der lokalen bis zur nationalen Ebene umzusetzen. Entscheidend für den Erfolg von Empowerment-Projekten ist, dass die Verantwortung bei den DPOs verbleibt und dass die Mitglieder Selbstbewusstsein entwickeln und ihre Rechte kennen. Darüber hinaus kann die Vernetzung unter DPOs oder mit anderen Selbstvertretungsorganisationen hilfreich sein, um mit einer "stärkeren Stimme zu sprechen". Die Fragmentierung der Behindertenbewegung (z.B. nach Behinderungsarten) kann die Vernetzung erschweren, ebenso die Geschlossenheit einiger DPOs. Fachleute stellten zuweilen fest, dass DPOs eine Zusammenarbeit mit anderen Partnern zunächst skeptisch sehen. Dies kann jedoch daran liegen, dass sie anfangs einen Schutzraum brauchen, um genügend Selbstbewusstsein zu entwickeln, was wiederum zum Empowerment beiträgt.

Weitere Herausforderungen und Empfehlungen

Des Weiteren nannten die Teilnehmenden aller Arbeitsgruppen folgende Punkte, welche die Umsetzung von CBR-Projekten und Inklusion erschweren:

- Wissensmonopol: Fachpersonal neigt dazu, Wissen und damit verbundene Macht ungern an andere weiterzugeben. Die Weitergabe von Wissen (z.B. Rehabilitationsübungen) und Ausbildung von CBR-Gemeindehelferinnen und -helfer ist jedoch ein Wesensmerkmal von CBR.

- Stigma Behinderung: Behinderung ist in vielen Gesellschaften noch immer mit einem Stigma belegt. Auch bei Regierungen und Arbeitgebern gibt es viele Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung. In vielen Gesellschaften und Religionen wird Behinderung noch aus karitativer Sicht gesehen ("Menschen mit Behinderung benötigen Hilfe"). Dass sie selbst aktiv werden können, passt nicht in diese Sichtweise.

- Schlechte Datenlage: Es gibt immer noch zu wenig verlässliche Daten über die Situation von Menschen mit Behinderung.

- Fehlende Studien: Es gibt bisher noch zu wenig Studien, die den Erfolg von CBR-Projekten wissenschaftlich bestätigen.

- Falsche Annahmen über Inklusion: Viele Akteure glauben, dass inklusive Entwicklung (besonders Barrierefreiheit) zu teuer sei. Hier wären Untersuchungen hilfreich.

- Fehlendes Wissen: Personal von entwicklungspolitischen Organisationen fehlt Wissen über Menschen mit Behinderung und ihre Bedürfnisse3 und inklusive Entwicklung. Selbst wenn der Wille zur Inklusion vorhanden ist, scheitern viele, da sie nicht wissen, wie sie diese umsetzen können.

Die Tagungsbesucher empfahlen, das Thema Inklusion innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit stärker zu etablieren. Dies gilt sowohl für die staatlichen als auch die zivilgesellschaftlichen Akteure. Beispielsweise sollte das BMZ-Personal stärker für das Thema sensibilisiert werden und das BMZ bei Ländergesprächen auf die UN-Konvention aufmerksam machen. Nichtregierungsorganisationen sollten mit kleinen Pilotprojekten beginnen und Projekte Schritt für Schritt inklusiv gestalten. Ferner wurde empfohlen, erfolgreiche Beispiele inklusiver Projekte stärker zu publizieren. Fortbildungen für Personal von EZ-Organisationen zum Thema Inklusion könnten zudem eine wichtige Unterstützung bei der Umsetzung sein. Auch empfahlen die Teilnehmenden den entwicklungspolitischen Organisationen, mehr Menschen mit Behinderung einzustellen. Damit Inklusion in die Agenda der internationalen Entwicklungspolitik aufgenommen wird, sollten die entwicklungspolitischen Akteure bei internationalen Initiativen und Konferenzen, wie z.B. Rio+20 und MDG, auf das Thema aufmerksam machen.

Fazit

Inklusion kann nicht von heute auf morgen umgesetzt und "von oben" verordnet werden. Sie ist ein permanenter Prozess, der von allen Gesellschaftsmitgliedern umgesetzt werden muss. CBR eignet sich als Strategie, um die Inklusion in der Entwicklungszusammenarbeit umzusetzen. Wurde CBR ursprünglich für Menschen mit Behinderung im Gesundheitsbereich entwickelt, so kann CBR heute für alle Lebensbereiche und für alle benachteiligten Gruppen angewendet werden. CBR befähigt Menschen mit Behinderung, ihr Potenzial zu nutzen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das Umfeld nimmt sie mehr und mehr als aktive und vollwertige Mitglieder der Gemeinde wahr und das Thema Behinderung rückt dadurch stärker in die Mitte der Gesellschaft. CBR verdeutlicht außerdem, dass Inklusion nicht Aufgabe von Expertinnen und Experten ist, sondern in der Verantwortung jedes Einzelnen liegt. Zwar wird ein Fachwissen weiterhin benötigt, doch die Durchführung von Projekten liegt in der Verantwortung der Gemeinden. Dies ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor, wie es Chapal Khasnabis von der Gesundheitsorganisation WHO während der Tagung formulierte: "Entwicklung geht schneller und ist besser, wenn die Menschen sie selbst gestalten und die Verantwortung übernehmen."

Die Vorträge der Referentinnen und Referenten und Ergebnisse der Arbeitsgruppen stehen zum Download unter www.bezev.de und www.cbm.de zur Verfügung.


Anmerkungen:

1 Die Tagung wurde zusätzlich gefördert von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) aus Mitteln des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), von Misereor, von Engagement Global aus Mitteln des Landes NRW, vom Evangelischen Entwicklungsdienst und von der Heidehof Stiftung.

2 Diese Strategie (Behinderung als Querschnittsaufgabe für alle entwicklungspolitische Maßnahmen + behinderungsspezifische Maßnahmen) ist der Twin-Track-Approach.

3 In diesem Zusammenhang wurde mit dem "Photovoice" ein innovatives Instrument vorgestellt. In Nepal bekamen Personen mit Behinderungen eine Kamera, mit der sie Barrieren und ihre Bedürfnisse in ihrem Alltag festhielten.

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Quelle:
Pressemitteilung 18.09.2012
Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V.
- Disability and Development Cooperation -
Wandastr. 9, 45136 Essen
Tel.: 0201 - 17 88 963, Fax: 0201 - 17 89 026
Internet: www.bezev.de
E-Mail: presse@bezev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2012