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VERBAND/626: Fachkonferenz der BAG Selbsthilfe - Genese, Form, Funktionen (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2008

Fachkonferenz der BAG Selbsthilfe

Genese, Form, Funktionen


Bei der Fachkonferenz der BAG SELBSTHILFE "Prävention und Gesundheitsförderung als Schwerpunkte der Gesundheitsselbsthilfe" am 11. und 12. September 2008 in Bonn führte Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt in das Thema der Tagung ein.


Die Bewältigung der alltäglichen Sorgen im Lebenslauf und die Wohlfahrtsproduktion der Menschen erfolgt nicht nur in Form von Marktaktivitäten und Staatshandeln, sondern in primären Formen der Vergemeinschaftung wie die der Familie und der Verwandschaften sowie Freundschaften. Alle drei Formen kommen jeweils an spezifische Grenzen.

Soziale Selbsthilfeaktivitäten laufen morphologisch auf der eigentlichen Mikrobene der "betrieblichen" Leistungserstellung in Abgrenzung zum klassischen Ehrenamt in sozialen Gruppen ab, die sich über das Gegenseitigkeitsprinzip des Gehens und Nehmens definieren (Prinzip der Mutualität beziehungsweise der solidarischen Reziprozität). Das gibt diesen Gruppen soziologisch (nicht rechtlich) Eigenschaften von Kleingenossenschaften: Sie sind selbstorganisierte, demokratisch selbstverwaltete Zusammenschlüsse freiwilliger Art zur Deckung des oftmals existenziellen Bedarfs der Mitglieder auf Gegenseitigkeit.

Diese genossenschaftsartige Interpretation mag zunächst überraschen, ist aber kultur- und sozialgeschichtlich zwingend. Denn solche Formen der sozialen Selbsthilfe kennen wir zu allen Zeiten in allen Kulturen. Sie bezeugen den anthropologischen Charakter dieser Form der menschlichen Gesellung und der praktischen Problembewältigung im Dasein der Menschen. Sie stellen positive Formen des "Sozialkapitals" einer Gesellschaft dar. Denn sie produzieren nicht nur Dienstleistungen, sondern dienen auch oftmals zugleich der Identitätsfindung und der sozialen Integration der Menschen.


Staatliche Korrekturen

Um die sozialen, sozialpolitisch relevanten und daher gemeinwohlbezogenen Bedürfnisse dieser Gruppenaktivitäten in der politischen Arena der modernen Demokratie auf die Agenda zu bringen, damit die Themen auch als soziale Probleme anerkannt und einer öffentlich geförderten sozialen Bewältigung zugeführt werden können, haben sich die Selbsthilfegruppen zu Selbsthilfeorganisationen zusammengeschlossen. Diese sind nicht unmittelbare Wohlfahrtproduzenten mit Blick auf die existenziellen Bedarfslagen der Menschen; sie stellen vielmehr eine verbandliche Infrastruktur zur Mitgliederförderung dar und sind zudem politischer Akteur der Artikulation der Anliegen im politischen System. Heute sind sie zu relevanten, legitimen Mitspielern in der Gesetzgebung, in der Gesetzesimplementation und in der Sozialpolitikpraxis geworden.

Soziale Selbsthilfegruppen lassen sich in ihrer Genese auch durch einen Blick auf ihre Funktionen verstehen. Der Markt ist oftmals nicht zugänglich, also sozial selektiv und hat nicht immer das Vertrauen der Menschen (Marktversagen). Die daraus resultierende Korrektur des Staates ist notwendig, erreicht aber infolge eigener Probleme (Verrechtlichung, Formalisierung, Bürokratisierung, fiskalische Knappheiten) wiederum Grenzen (Staatsversagen). Aber auch Familie und Verwandtschaft haben Handlungsgrenzen und sind vielfach angesichts spezifischer Problemlagen ressourcen- und kompetenzbezogen überfordert (Familienversagen). Vor diesem Hintergrund ist die Herausbildung vielfältiger Formen von sozialen Selbsthilfeaktivitäten zu beobachten. Sie sind Teil eines "Dritten Sektors", der zwischen Staat, Markt und Familie/Verwandtschaft angesiedelt ist. Er ist als Sektor der Wohlfahrtsproduktion und Produzent von Lebensqualität nicht mehr wegzudenken.


Personenbezogenes Gesundheitswesen

Dieser Sektor mit seinen verschiedensten Gebildeformen umfasst vielfältige Arten des Non-for-Profit-Wirtschaftens, ist aber nicht vollständig autonom, sondern institutionell und funktional verflochten mit den anderen Sektoren. Die sozialen Selbsthilfeaktivitäten können Marktbezug haben und im Wettbewerb mit den erwerbswirtschaftlichen Unternehmen stehen; sie können förderpolitisch in Interdependenz, auch in Abhängigkeit stehen zu staatlichen Trägern der Sozialpolitik oder zu Trägern des staatsmittelbaren Sektors wie die der Körperschaften des öffentlichen Rechts in Selbstverwaltung (wie zum Beispiel die Sozialversicherungen). Der § 20 (4) SGB V ist ein etabliertes Beispiel für derartige spannungsvolle Interdependenzen. Mit Blick auf die Wohlfahrtsleistungen der sozialen Selbsthilfe ist eine stärker bewußte, gezielte und rechtlich wie gesellschaftspolitisch anerkannte Ausdehnung in die Funktionsbereiche der primären, sekundären und tertiären (sowohl verhaltens- wie verhältnisbezogenen) Prävention und Gesundheitsförderung in verschiedensten Settings angezeigt.


Knappe Ressourcen

Die soziale Selbsthilfe muss jedoch aufpassen, dass sie nicht zum Lückenbüßer wird und öffentliche Leistungen substituieren soll, da die Ressourcen knapp sind. Das wäre eine höchst problematische Form der Risiko-Privatisierung sozialer Probleme. Soziale Selbsthilfeaktivitäten sollen komplementäre Rollen im Verhältnis zu den anderen Sektoren spielen. Sie sollen jene Funktionen übernehmen, die die anderen Sektoren der Wohlfahrtsproduktion aus je eigenen Wesensgründen nicht optimal oder gar nicht erfüllen. Soziale Selbsthilfe kann so zum Beispiel Glied eines integrierten transsektoralen Leistungs-, Behandlungs-, Versorgungs- und Betreuungsystems sein. Sie kann präventiv in allen Episoden des Gesundheits- und Krankheits(bewältigungs)geschehens und -verhaltens wirken. Im Medizinsektor ergänzt sie das Geschehen dort, wo die medizinisch-technische Praxis an ihre Wirkungsgrenzen stößt. Sie trägt dazu bei, dass aus einer reinen Krankenversorgungsindustrie ein ganzheitlich um die Person zentriertes Gesundheitswesen wird.


Der Autor Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt ist Direktor des Seminars für Sozialpolitik und Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.


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Quelle:
Selbsthilfe 4/2008. S. 12-13
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2009