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VERBAND/685: Psychiatrie-Konzept - Diagnostik mit pädagogischem Auge (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Januar 2012

Bundesweit einmaliges Psychiatrie-Konzept
Diagnostik mit pädagogischem Auge

von Gunnar Kreutner


Die Statistik des Behandlungszentrums für akut psychisch kranke Erwachsene mit geistiger Behinderung in Berlin-Lichtenberg spricht eine deutliche Sprache: Bei etwa 30 Prozent der Patienten, die wegen starker Verhaltensauffälligkeiten aufgenommen werden, ist die Ursache letztlich keine psychiatrische oder körperliche Erkrankung. Sie ist im sozialen Umfeld dieser Menschen zu finden. Als Konsequenz unterstützt seit einem Jahr eine Pädagogin das Team - ein bundesweit einmaliges Konzept.


Sabine Zepperitz beobachtet tagtäglich aus pädagogischer Sicht die Patienten im Behandlungszentrum des Ev. Krankenhauses Königin Elisabeth Herzberge (KEH). "Ich versuche herauszufinden, woran es liegt, dass zum Beispiel jemand in seinem Wohnheim andere Menschen schlägt", erklärt die 39-jährige Diplom-Pädagogin. Sie gewährleistet, dass bei der Diagnose und Therapie pädagogische Gesichtspunkte nicht vernachlässigt werden.

Bis zu 16 Menschen mit schweren geistigen Behinderungen werden auf der Station P8 behandelt. Ein interdisziplinäres Team aus Psychologen, Heilerziehungspflegern, Therapeuten und Pflegenden ist an der Erarbeitung der richtigen Diagnose und an der Therapieplanung beteiligt. Seit Januar 2011 bringt Sabine Zepperitz ihre pädagogische Fachlichkeit in die Behandlung mit ein. "Eine enorme Bereicherung für uns als Ärzte und Psychotherapeuten", freut sich der leitende Arzt im Behandlungszentrum, Dr. Samuel Elstner.


Zu viel Psychopharmaka

Der Chefarzt der KEH-Abteilung Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Prof. Dr. Albert Diefenbacher, hatte die Idee, dauerhaft eine Pädagogin in die Arbeit des Behandlungszentrums einzubinden. Der Auslöser für seine Entscheidung war eine intensive Analyse der Patientenstatistik der vergangenen zwölf Jahre. "Streng gesehen, konnten wir bei vielen unserer Patienten, die wegen Verhaltensauffälligkelten zu uns gekommen waren, keine rein psychiatrische Ursache diagnostizieren", berichtet er.

Bei 15 Prozent der Patienten war eine körperliche Erkrankung die Ursache für ihr auffälliges Verhalten. Bei weiteren 15 Prozent waren sowohl eine körperliche als auch eine psychiatrische Erkrankung verantwortlich. Und nur bei 40 Prozent konnten die Ärzte und Therapeuten eine "echte" psychiatrische Diagnose stellen. Bei den übrigen 30 Prozent hat sich letztlich ergeben, dass das soziale Umfeld die Ursache ist.

Viel zu oft und vorschnell werde bei Menschen mit geistiger Behinderung mit Psychopharmaka gearbeitet, wenn sie auffällig würden, kritisiert Prof. Dr. Albert Diefenbacher. Eine Ansicht, die Dr. Samuel Elstner teilt: "An der Medikation sieht man oft die Verzweiflung des ambulanten Systems. Wir versuchen, nach einer Beobachtungsphase innerhalb der ersten ein bis zwei Wochen die Medikation zu optimieren. Oft können wir dadurch unsere Patienten neu bewerten. Und häufig bleibt am Ende nicht viel von den Medikamenten übrig", sagt er.

Besonders für die Arbeit von Sabine Zepperitz ist ein "unverfälschter" Blick auf die Patienten wichtig: "Je geringer der Einfluss von Medikamenten ist, desto besser kann ich beurteilen, ob es ein pädagogisches Problem gibt." In intensiven Einzelförderungen macht sich Sabine Zepperitz ein möglichst genaues Bild von den Eigenarten, Stärken und Schwächen der Patienten. Vieles läuft auch über die Beobachtungsbogen der Pflege. Auch die Eindrücke der Musik- und Kunsttherapeuten berücksichtigt sie.

Sabine Zepperitz forscht nach, ob der Patient möglicherweise in seinem Wohnheim überfordert ist, weil er von den Mitarbeitenden überschätzt wird. Die Pädagogin untersucht das "sozio-emotionale Entwicklungsniveau". Denn eine 30-jährige geistig behinderte Frau kann kognitiv auf dem Stand einer Zehnjährigen sein, emotional aber einem Kleinkind entsprechen. "Eine Leistungsdiagnostik ist wichtig, damit die Menschen eine angemessene Betreuung erhalten", erläutert sie.

Als Pädagogin sieht Sabine Zepperitz ihre Hauptaufgabe darin, das Umfeld der Patienten zu beraten. Denn oft sind es ganz einfache Dinge, die dafür sorgen, dass jemand aggressiv wird oder sich isoliert. Eine "Visualisierung" von alltäglichen Vorgängen über Bilder und Symbole hilft zum Beispiel Menschen, die Probleme haben, zu kommunizieren. "Oft ist auch kein Neuroleptikum notwendig, weit die Menschen einfach nur Kontaktschwierigkeiten haben."


Wertvolle Empfehlungen

Ihre Eindrücke und Empfehlungen bringt Sabine Zepperitz in das Team ein. "Da wird schon mal viel diskutiert, wenn wir nicht einer Meinung sind", bemerkt Dr. Samuel Elstner. "Bisher haben wir aber immer eine gemeinsame therapeutische Linie gefunden. Und die positiven Rückmeldungen aus den Wohnheimen und ambulanten Diensten zeigen, wie erfolgreich das neue Konzept und unsere Empfehlungen sind."

Sabine Zepperitz arbeitete zuvor in der Clearingstelle des KEH. Davor leitete sie einen Ambulanten Dienst für Betreutes Wohnen und entwickelte spezielle pädagogisch-therapeutische Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung. Von ihren Erfahrungen profitieren nicht nur Mitarbeitende in den Wohneinrichtungen der Patienten, sondern auch die Kolleginnen und Kollegen auf der eigenen Station. "Die Sichtweise unserer psychiatrischen Pflege und Ärzte hat sich geändert. Die Pädagogik hat einen großen Stellenwert bei uns bekommen", stellt Dr. Samuel Elstner fest.

Zu den Neuerungen, die mit der neuen Funktion von Sabine Zepperitz einhergingen, gehören ihre Anmerkungen auf einer Informationstafel im Stationszimmer. Zu jedem einzelnen Patienten vermerkt die Pädagogin hinter dem Namen ihre Erkenntnisse und Empfehlungen, zum Beispiel "extrem geräuschempfindlich" oder "psychotisch; bitte möglichst reizreduzierend arbeiten" - für die Pflegenden sind das hilfreiche Informationen für den Umgang mit den Patienten.


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Quelle:
DER RING, Januar 2012, S. 12-13
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2012