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INTERVIEW/007: Irren ist menschlich - Perspektiven eines Umbruchs, Klaus Dörner im Gespräch (SB)


Plädoyer für eine vollständige Sichtweise

Interview am 16. Januar 2014 in Hamburg-Eppendorf (Teil 3)



Auf einen Streifzug durch prägende Stationen der Lebensgeschichte Prof. Dr. Dr. Klaus Dörners im ersten Teil des Interviews folgte eine Vertiefung seiner Kritik an der institutionellen Psychiatrie in Teil zwei. Im dritten und abschließenden Teil des Gesprächs berichtet er über sein heutiges Engagement für eine Gesellschaft ohne Heime im Kontext aktueller Entwicklungen.

Portrait im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Klaus Dörner warnt vor Pessimismus
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: In jüngerer Zeit legen manche Entwicklungen wie etwa der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung den Eindruck nahe, die Situation der Patientinnen und Patienten im Dunstkreis der Psychiatrie wende sich zum Besseren. Andererseits sind wir im Verlauf unseres Gesprächs auf verschiedene grundsätzliche Mißstände gestoßen, die Anlaß zu nach wie vor gebotener Kritik an der Zielsetzung und Beschaffenheit dieser Institution geben. Sehen Sie die Gefahr eines Rückfalls in überwunden geglaubte Epochen der Psychiatrie?

Klaus Dörner: So eine pessimistische Sichtweise kann ich mir nicht leisten. Ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe, und dann so pessimistisch von der Welt zu gehen, würde keinen guten Eindruck machen. Deswegen habe ich ja in meinem letzten Büchlein "Helfensbedürftig" diese These aufgestellt, an der ich immer mehr Spaß habe. Wie das meistens so ist, wenn man eine Idee hat, suche ich überall nach Argumenten, die für meine Idee sprechen und sie noch verstärken. Mir ist natürlich klar, wie fehlerbehaftet das sein kann. Meine These ist folgende: Will man verstehen, was sich in den letzten 30 Jahren in Deutschland und vergleichbaren anderen Ländern getan hat, ist man gut beraten, von einem Epochenumbruch auszugehen. Der letzte derartige Umbruch war der Übergang vom Handwerk zur Fabrikarbeit, also die industrielle Revolution. Sie war tiefgreifend, doch da, Gott sei Dank, alles einen Anfang und ein Ende hat, neigt sich nun auch die Industrieepoche ihrem Ende zu. Wir sind gewissermaßen im Begriff, in eine neue, natürlich noch unbekannte Epoche einzutreten, die wir vorab nicht benennen können. In dem Maße, wie diese Hypothese zutreffen könnte, haben wir nicht nur die Erlaubnis, sondern geradezu die Pflicht, alle Begriffe, Normen und Werte, die bisher in der Industriegesellschaft gegolten haben, gegen den Strich zu bürsten. Was ist heute und in Zukunft angemessen, was ist nicht angemessen und muß verworfen werden? Ich halte das für einen relativ cleveren Kunstgriff, weil er bei allen damit verbundenen Schwierigkeiten doch die Bereitschaft verstärkt, überhaupt in diese Richtung zu denken.

Davon abgesehen kann man tagtäglich im Wirtschaftsteil der Zeitungen nachlesen, daß Industriearbeiter auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen mehr haben, weil man alles mit Maschinen wesentlich billiger herstellen kann. Will man keine Massenarbeitslosigkeit in Kauf nehmen, muß man den sogenannten Dienstleistungsbereich stärken, also im entfernteren Sinne Handel, Banken und Verkehr ausbauen oder im näheren Sinne Dienstleistungen mit und für Menschen betreiben. Nimmt man das zur Kenntnis und überlegt, welche Konsequenzen wie etwa den Anstieg der Erwerbsquote der Frauen bei stagnierendem Anteil der Männer das hat, ahnt man die revolutionären Implikationen dieses Umbruchs, über die nachzudenken sich lohnt.

Oder die ökologische Wende: Ab 1980 ist vom Anspruch her anstelle der ungehemmten Ausbeutung die Pflege der Natur politikfähig geworden. Die Parteigründung der Grünen beeinflußte die politische Stimmungslage im Sinne der Ökologie, und derartige Diskussionsprozesse führten von einer verstärkten Beschäftigung mit der Natur auch zum Menschen zurück. Nimmt man den menschheitsgeschichtlich noch nie dagewesenen Fall hinzu, daß wir heute alle älter und pflegebedürftiger werden, so müssen wir lernen, mit dem wachsenden Anteil der Dementen unter uns umzugehen. Er wird so groß, daß er irgendwann - in diesem Lernprozeß stecken wir mittendrin - nur noch als ein Teil von Normalität wahrgenommen werden kann. Bislang waren die Bürger vom Industriezeitalter ganz begeistert, weil es ihre Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung immer weiter zu steigern versprach. Sie wollten möglichst viel davon, und alles andere war ihnen egal.

Wie man inzwischen jedoch auch empirisch nachweisen kann, wollen die Menschen zwar immer noch wahnsinnig gerne selbstbestimmt leben, aber nicht mehr allein. Sie brauchen ein Gegengewicht und sagen, so einen kleinen Teil, um Gottes willen nicht zu viel, aber so einen kleinen Teil meiner wunderbaren, zunehmenden freien Zeit will ich mich über meine Familie hinaus für fremde Menschen engagieren. Was auf den ersten Blick wie ein Wunder anmutet, erweist sich bei näherer Überprüfung als ein ganz normaler Folgeprozeß der aktuellen Veränderungen in der Gesellschaft. Diese Entwicklung ist seit 30 Jahren empirisch ziemlich gut gesichert und scheint zunächst nicht weiter aufregend zu sein. Spannend wird es jedoch, wenn man die Konsequenzen in Betracht zieht: Es eröffnet sich die Chance, einen Teil des Helfens vom Markt loszumachen und im Sinne nachbarschaftlicher Aktivitäten in die Sphäre menschlicher Normalität umzuinterpretieren.

Soweit man dies historisch erforschen kann, war in früheren Epochen die denkbar größte Krise in einer Familie der Tod eines Familienmitglieds. Dann drohte die Gefahr, daß die Angehörigen in ihrer Trauer so gelähmt waren, daß sie handlungsunfähig wurden. In dieser Situation bedurfte es zwingend eines zweiten konzentrischen Kreises von Menschen, die der betroffenen Familie recht nahe standen, aber doch auch die erforderliche Distanz hatten, als Nachbarn ohne emotionale Lähmung einzugreifen und zu sagen, hört mal wieder zu, kommt mal auf den Boden zurück. In diesem Sinn kann man die Nachbarschaft als den Beginn der sozialen Kultivierung menschlicher Beziehungen bezeichnen. Diese Kultivierungsprozesse hängen eng mit den Begräbnisritualen zusammen, da man dabei so etwas wie Nachbarschaft braucht. Es war etwas Normales, deswegen hat sich niemand etwas dabei gedacht, und dann hat es auch funktioniert.

SB: Sie sind ja mit 80 Jahren das schöne Beispiel eines Menschen, der nach wie vor ein sehr aktives Leben führt und zudem Konzepte entwickelt, wie das auch für andere machbar ist.

KD: Jeden zweiten Tag bin ich irgendwo auf Achse und reise in irgendeine Stadt, in irgendein Dörfchen. Schön ist es, daß ich in letzter Zeit vermehrt in Dörfer eingeladen werde. Was man in Städten nur sehr abgehoben und vermittelt sagen kann, das erlebt man in Dörfern unmittelbar. Dort ist zwar der Widerstand erst einmal besonders groß, weil das für die Dorfbewohner alles total fremd und bescheuert klingt. Der Glaube, daß das Helfen nur den Professionellen, die es gelernt haben, vorbehalten sei und alle anderen keine Ahnung davon hätten, ist tief eingeschliffen. Aber wenn dann der Groschen fällt, finden die Menschen großen Gefallen daran, daß es ihnen durchaus möglich und erlaubt ist, mit den Mitteln der Selbsthilfe den Lebensweg dementer Mitbewohner zu begleiten.

Daß ohnehin etwa 70 Prozent aller dementen Menschen in und von ihren völlig laienhaften Familien betreut werden, wird in aller Regel ausgeblendet. Als größte Hürde erweist sich der Irrtum, daß es nur Profis erlaubt sei, den Hilfebedarf im Dorf abzudecken. Diese Auffassung zu perforieren, wird im Laufe der Zeit immer leichter gelingen, da diese Entwicklung mit Händen zu greifen ist. Solche Gespräche finden oft in Kneipen oder rudimentären Bürgerhäusern statt, und es macht so viel Spaß und gibt so viel Mut, an die Ausbaufähigkeit der Bürgerbeteiligung zu glauben.

Ich bin in der Diskussion auch von meinen vielen psychiatrischen Kollegen und Freunden ausgetrickst worden, indem sie mein Anliegen, Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten aus den Heimen zu holen, zu einer Vision erklärten. Dabei habe ich es 17 Jahre lang mit angestrengter handwerklicher Arbeit bewiesen, daß es möglich ist. Da nützt es nichts, ein Buch darüber zu schreiben, wenn es mangels Leserschaft wieder eingestampft wird. Seitdem habe ich verstanden, daß es den Angehörigen des Berufsstands viel leichter fällt, ihre eigenen Interessen zu wahren und alles totzuschweigen, was dem entgegensteht.

Mit verschränkten Armen im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Nicht Visionär, sondern handwerklicher Praktiker

Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Könnte man den Begriff Vision nicht auch als Aufruf zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse oder als gesellschaftlich durchzusetzende Utopie auffassen?

KD: Mir wird oft entgegengehalten, ich stachle die Bürger dazu auf, durch Unterstützung von Fremden Arbeit zu leisten, die eigentlich Aufgabe des Staates sei. Auf diese Weise trüge ich zum Abbau des Sozialstaates bei. Ich habe das selbst lange so formuliert und sehe durchaus die darin angesprochene Gefahr, weshalb man furchtbar aufpassen muß. Inzwischen bin ich jedoch der Überzeugung, daß diese Auffassung eine unglaublich zerstörerische Wirkung hat. Ich habe meinen denkerischen Horizont überwiegend aus der kritischen Theorie von Adorno, Horkheimer und Habermas geschöpft. Rückblickend glaube ich heute, daß sie sich keinen Gefallen damit getan haben, im Grunde schon die Position des Gegners einzunehmen, indem sie davor warnten, dem Staat die Arbeit abzunehmen.

Ich bin zu sehr handwerklicher Praktiker und habe den ehemaligen Psychiatrieinsassen die Wohnung renoviert und Altmöbel gekauft, damit sie gebrauchsfertig wird. Wir mußten ja für 435 Menschen mit eigener Hand solche Wohnmöglichkeiten schaffen. Die in der Klinik Tätigen sagten, ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber ich bin auf meiner Station so überlastet, daß ich keine Minute Zeit habe, mich auch noch um diese chronisch Kranken zu kümmern. Wir waren so anderthalb Ärzte und anderthalb Sozialarbeiter, kein Psychologe, die waren sich viel zu schade dafür. Wo kämen wir denn hin, uns für diese winzige subversive Gruppe zu verausgaben! Also mußten wir gegen die ganze Anstalt kämpfen, um unser Vorhaben durchzusetzen. Es war ein Kampf auf Hauen und Stechen, und ich war glücklich, wenn es ein, zwei, drei, vier ABMler gab, die überdies vom kaufmännischen Leiter bezahlt wurden und dazu beitrugen, wenigstens die wichtigsten Dinge gemeinsam zustande zu bringen.

Das könnte man an jedem anderen Landeskrankenhaus oder Bezirkskrankenhaus genauso machen, wobei ich inzwischen weiß, daß das nicht nur für die Psychiatrie, sondern auch für die Pflegeheime gilt. Ich halte es für erwiesen, daß eine heimlose Gesellschaft möglich ist. Früher hätte ich das selber für unmöglich gehalten, doch habe ich mit eigener Hände Arbeit bewiesen, daß es durchführbar ist.

SB: Was würden Sie aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrung älteren Menschen empfehlen, um handlungsfähig zu bleiben, vielleicht etwas Neues zu wagen und vitalisierende Potentiale zu erschließen?

KD: Als Arzt würde ich dafür sorgen, daß sie sich furchtbar anstrengen, um wenigstens das Notwendigste zum Betreiben ihrer Wohnung und dem Einkaufen von Lebensmitteln beizutragen. Von sich aus macht das natürlich kein Mensch. Alle glauben an diese wunderbare Ideologie, daß es so etwas wie einen wohlverdienten Ruhestand gibt. Ich habe doch so viel malocht, daß ich jetzt ausruhen muß. Dabei liegt auf der Hand, daß Menschen daran sterben, keine Aufgabe mehr zu haben. Obgleich das jeder Grundschüler erkennen könnte, es ist wahnsinnig schwer, den Leuten diese Ideologie auszutreiben. Aber das ist möglich, wenn man es hinreichend intensiv will. Eigentlich stellt man eine ziemlich trostlose Diagnose, aber wir Menschen sind nun mal so und sagen, wenn es heute nicht kommt, kommt es sicher irgendwann.

Die Dänen haben ja auch sehr lange gebraucht, um schließlich im Parlament ein Gesetz zu verabschieden, das einen befristeten Baustopp für Altenpflegeheime vorsieht. Damals haben alle geschrien, das geht doch gar nicht, das verstößt gegen die unternehmerische Freiheit in einer Marktgesellschaft! Gegen große Widerstände wurde diese gesetzliche Regelung herbeigeführt, wobei der Zusatz "befristet" eine Vorsichtsmaßnahme war, damit die Verfassungsrichter das nicht gleich wieder kippen. Und siehe da, das war der entscheidende Schritt, mit dem die Dänen diesen Schwenk herbeigeführt haben. Es entstand eine Notlage, da nach einiger Zeit Heimkapazitäten fehlten, worauf sich die Verantwortlichen etwas anderes ausdenken mußten, was sie dann auch getan haben. Deswegen steht Dänemark heute, was die Altenpflege angeht, an Nummer eins in Europa.

SB: Glauben Sie, daß auch die deutsche Politik bereit wäre, eine derartige Entwicklung zu unterstützen?

KD: Denken Sie nicht, daß ich je einen Bundespräsidenten, eine Bundeskanzlerin oder einen Bundesgesundheitsminister ausgelassen hätte! Ich habe sie alle mit diesen Ideen konfrontiert, aber mir dabei stets eine blutige Nase geholt. Die Eingebundenheit in bestimmte Interessenlagen ist bei solchen Verantwortlichen einfach zu groß.

SB: Kann man nicht auch eine sozialpolitische Ratio der Kostenersparnis ins Feld führen, die solche Veränderungen plausibel machen würde?

KD: Das beste Beispiel ist unsere Aktion in Gütersloh, bei der wir für diese 435 Menschen eine Kostenvergleichsrechnung erstellt und dabei eine Ersparnis von 50 Prozent ermittelt haben. Die Verantwortlichen bei unserem Träger, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, schienen jedoch nicht in der Lage zu sein, zumindest wirtschaftlich zu denken, weil sie zu sehr in die traditionellen Vorstellungen eingebunden waren. Deswegen finde ich es natürlich auch so hilfreich, daß es inzwischen doch die eine oder andere Strategie gibt, wie man die marktbedingten Interessen unterlaufen kann. Das schönste mir bekannte Beispiel ist das sogenannte regionale Budget, das man auf die gesamte Medizin übertragen könnte. Dabei handeln die Verantwortlichen für eine Region mit den Kostenträgern ein Budget aus, das für drei, fünf, sieben Jahre eine Finanzierungsgrundlage schafft. Diese bemißt sich am Ergebnis des letzten oder vorletzten Jahres, wobei ein gewisser Spielraum gelassen wird. Ansonsten gibt es nur eine Vereinbarung über das Ziel, das man in dem betreffenden Zeitraum erreichen will. Ein Schwerpunkt bei den Zielvorgaben ist die Definition, in welchem Umfang man die bislang stationär durchgeführte Unterbringung ambulantisieren kann.

Nur das wird vereinbart, während sämtliche anderen Kontrollmechanismen gestrichen werden und damit die bürokratische Dokumentationspflicht weitgehend entfällt, die jedem Menschen den Spaß an der Arbeit total verleidet. Der Kontrolldruck schwindet, und man hat nicht nur das Gefühl, selbst entscheiden zu können, auf welchem Wege man die Ziele erreichen will, sondern verfügt auch über eine empirische Grundlage. Man kann sich beispielsweise überlegen, ob chronisch Kranke auch in einer eigenen Wohnungen zurechtkommen und es ihnen dabei qualitativ besser geht. Das Entscheidende ist, daß man dann nicht mehr nach dem profitabelsten Patienten schielen muß und wieder so beginnt, wie man das einst in der Ausbildung gelernt hat: Man fängt immer mit dem Bedürftigsten an, der die Hilfe am dringendsten braucht. Das ist wieder erlaubt und macht den Betroffenen unglaublich viel Spaß, weil sie diese Freiheit wiedergefunden haben.

Untersucht man diese Entwicklung empirisch, kommt man zu einem sonderbaren Ergebnis. Während es beispielsweise in Bayern und Baden-Württemberg nur ein oder zwei solcher Ansätze gibt, werden sie in Schleswig-Holstein von den Krankenhausträgern flächendeckend in sämtlichen psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern praktiziert. Itzehoe hat damit angefangen, dann kamen Heide und Flensburg-Eckernförde und seit einiger Zeit auch Geesthacht, im Landkreis Herzogtum Lauenburg, hinzu. Das läuft überall und hat einen unglaublich animierenden Effekt. Es gibt auch einen Landkreis, der das vom Sozialhilfekostenträger her praktiziert, nämlich Husum in Nordfriesland, was einmalig in Deutschland ist. Als so etwas für ganz Hessen durchgeführt werden sollte, opponierten die Lobbys der Wohlfahrtsverbände massiv. Da sie ihre Existenz von den Heimen bestreiten, haben sie dafür gesorgt, daß die Planungen wieder zurückgepfiffen wurden. Nicht so in Nordfriesland, wo eine engagierte Sozialdezernentin dafür sorgt, daß das wunderbar läuft.

In Geesthacht hatte die psychiatrische Abteilung ursprünglich mit 60 Betten die 185.000 Einwohner des Landkreises zu versorgen, was gemessen an anderen Regionen schon relativ knapp ist. Man vereinbarte ein regionales Budget mit den Krankenkassen und hat inzwischen zwei von drei Stationen geschlossen. Die schon finanzierten stationären Teams wurden zu mobilen Kräften, die jetzt durch die Gegend düsen. Wo eine Krise auftaucht, setzen sie sich fest und bleiben so lange wie die Laus im Pelz der Krise sitzen, bis dieser die Luft ausgeht. Sie haben dazu eine völlig neue Philosophie entwickelt und sagen, man dürfe Menschen mit einer Krise nicht aus ihrem Umfeld herausreißen, da die Probleme immer mit den Mitspielern zusammenhängen. Um eine Krise so zu lösen, daß sie auch dauerhaft nicht wiederkehrt, müssen alle Gegebenheiten einbezogen werden. Inzwischen versorgen sie in Geesthacht nur noch mit 20 Betten diese 185.000 Menschen, was wohl ein Weltrekord ist.

Wie sich recht schnell gezeigt hat, verfahren die Krankenkassen dann auch mit anderen psychiatrischen Abteilungen auf diese Weise. Dennoch ist keines der noch vorhandenen Landeskrankenhäuser, ob Schleswig oder Neustadt, auf die Idee gekommen, es genauso zu machen. Das hängt mit der Kleinheit zusammen, die ein Sensorium fördert, daß man für einen bestimmten abgrenzbaren Bereich Verantwortung trägt. Mit ein paar Kunstgriffen oder organisatorischen Entscheidungen könnte man die Dinge in diese Richtung entwickeln und würde dann nicht mehr in der fatalen Situation sein, als Psychiater im Grunde sein Leben lang insofern kriminell zu handeln, als man ohne hinreichenden Grund Menschen ihrer Freiheit beraubt. Es gibt ja den Straftatbestand Freiheitsberaubung im Amt, derer man sich schuldig macht. Es gibt jedoch keine Öffentlichkeit oder Justiz, die bereit wäre, das so zu sehen. Das ganze Problem ließe sich unter Beachtung weniger Regeln, die man an fünf Fingern abzählen kann, lösen. Auf diese Weise könnte man unendlich viel Elend vermeiden und gleichzeitig auch noch Geld sparen.

Im Arbeitszimmer - Foto: © 2013 by Schattenblick

Elend vermeiden und dabei noch Geld sparen?
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Folgt daraus, daß auch Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung weder erforderlich noch zu rechtfertigen sind?

KD: Wir haben in Gütersloh nicht weniger als andere Kliniken mit Zwangseinweisungen gearbeitet. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Umgang mit akut Kranken, und wenn man es wie die Geesthachter macht, kommt man gar nicht mehr in die Verlegenheit, jemanden zwangsweise aufzunehmen. Man geht zu den betreffenden Menschen hin und versucht, vor Ort eine Lösung zu finden. Hingegen handelt man sich mit der Institutionalisierung akut Kranker das Problem ein, daß man nicht zu knapp zwischendurch Zwangseinweisungen braucht.

Als ich damals das Wort "Home Treatment" zum ersten Mal gehört habe, dachte ich, das sind totale Spinner, die ihren Visionen nachhängen. So einen Schweinkram fange ich gar nicht erst an, weil dabei bestimmt wieder die Kaputtesten durch die Ritzen fallen und man auf ihre Kosten Reformfortschritte feiert. Das ist mir zu riskant, da traue ich mich nicht ran. Aber mein Freund und Schüler Matthias Heißler hat das in Geesthacht durchgesetzt, wobei er zunächst klein anfangen mußte, weil ihm anfangs noch kein regionales Budget zur Verfügung stand. Er definierte alle drei Stationen in zu führende Haushalte um. Kam jemand mit seiner Wahnpsychose, einem Alkoholdelir oder einer Pflegedemenz, fragte man ihn zuallererst: Was willst du tun, damit wir morgen zu essen haben? Das hält keine Schizophrenie, keine Depression und kaum eine Demenz lange aus, man kommt in Bewegung und dann gewöhnt man sich daran. Am Ende spielen alle mit, auch wenn manche zuerst sagen: Ich habe doch meine Krankenkassenbeiträge, dann kann ich hier doch einen anständigen Hotelservice erwarten. Aber das halten sie nicht durch.

SB: Glauben Sie nicht, daß das Helfensinteresse der Menschen untereinander von einer ganz anderen Seite bedroht sein könnte? Es findet eine weitreichende Ökonomisierung des Gesundheitswesens statt, die das Selbstbestimmungsrecht in eine Verpflichtung zur Selbstsorge verwandelt. Der einzelne wird bezichtigt, an seiner körperlichen oder seelischen Misere selbst schuld zu sein, weil seine Lebensführung angeblich falsch war. Daraus resultieren versicherungstechnische Eingriffe, darüber hinaus aber auch regulatorische Zwänge. Richtet man den Blick nach Belgien oder in die Niederlande, so wird dort älteren Menschen schon mit 70 empfohlen, ihr Leben zu bilanzieren und zu erwägen, vielleicht doch lieber freiwillig abzutreten. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen, die in Widerspruch zu dem Entwurf stehen, den Sie propagieren?

KD: Sie sprechen zu Recht Prozesse wie die Euthanasie an, die so lange existieren, wie es Menschen gibt. Das verstärkte sich in der Epoche der Industrialisierung, und ich habe mir herausgenommen, die Nazizeit als den radikalen Gipfelpunkt der Industrialisierung zu interpretieren. Indessen hat man zu allen Zeiten versucht, möglichst wenig Geld für das Soziale auszugeben, weshalb ich es im Vergleich der historischen Epochen als unfair empfinde, das heute zu dramatisieren oder zu emotionalisieren. Was sich gegenwärtig allmählich verändert, ist der Umstand, daß es nicht mehr nur den Mainstream - pro Euthanasie, pro aktive Sterbehilfe, pro Verknappung -, sondern auch die entgegengesetzte Mentalität gibt, und zwar nicht nur als Wunschdenken und Vision, sondern empirisch greifbar. Nun kommt es darauf an, ob es uns gelingt, Spuren davon im ganz normalen Alltag zu entdecken und den Menschen bewußt zu machen.

Was die Menschen bisher vielleicht nur durch so ein Grummeln im Bauch tun, weil sie es nicht besser wissen, können sie sich bewußt machen und auf diese Weise auch auf Dauer fortführen. Das ist meines Erachtens eine vollständigere Sicht des Gesamtprozesses, in dem wir uns befinden. Ich selbst habe früher ja auch geklagt, der Sozialstaat wird schon wieder abgebaut, die armen psychisch Kranken und Behinderten werden immer schlechter gestellt und dafür werden Panzer gekauft und all solche Schweinereien. Das ist jedoch keine vollständige Sichtweise.

SB: Sie haben selbst in Ihrem Buch "Irren ist menschlich" in einem historischen Abriß die Frage aufgeworfen, ob es in Zukunft nicht den total verfügten Menschen geben wird. Heute sind Menschen über datenelektronische Prozesse in einem sehr großen Ausmaß fremdbestimmt und neuen Zwängen der Verfügbarkeit ausgesetzt. Biopolitische Verwertungsinteressen forcieren den Zugriff bis in die physische Substanz. Angesichts solcher Entwicklungen könnte man den Eindruck gewinnen, daß selbst die positiven und wünschenswerten Seiten des menschlichen Umgangs miteinander instrumentalisiert werden.

KD: Man muß furchtbar aufpassen, daß man alle diese Dinge vollständig sieht. Ich habe den überwiegenden Teil meines Lebens selber so gesellschaftskritisch einseitig gedacht. Inzwischen haben meine Frau und ich Kurt Vonnegut gelesen. Er hat, glaube ich, 30 Bücher geschrieben, ist seit Jahrzehnten ein Bestseller in Amerika und zu Hause bei uns beiden der absolute Star. Vonnegut wurde im Zweiten Weltkrieg als 16jähriger eingezogen, kam bei der Ardennen-Offensive sofort in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurde nach Dresden gebracht, weil es dort so schön friedlich war. Er bestaunte die Pracht der Stadt und dachte, die Heimat meiner Vorfahren ist viel schöner als dieses stinkige Amerika. Dann legte er sich schlafen, und in dieser Nacht kam der verheerende Luftangriff. Am anderen Morgen lag alles in Schutt und Asche, was er am Vortag noch bestaunt hatte. Dann mußten die Kinder all die Leichen ausbuddeln. Das hat ihn zum Schreiben gebracht, was in seiner Familie sonst niemand tat. Er hat es durchgehalten, und in all seinen Büchern tauchen Facetten dieses Erlebnisses auf. Auch gibt es Millionen andere Stellen, an denen er die Wirklichkeit dessen, was heutzutage passiert, kritisch beleuchtet. Seine Philosophie mündet, jedenfalls für meine Frau und mich, in den einen Satz - da kann man sich die 30 Bücher auch ersparen, obwohl sie ein reines Lesevergnügen sind -, ach, wir wissen eigentlich so wenig vom Leben, daß wir nicht wirklich wissen können, was die gute und die schlechte Botschaft ist. Das hat bei mir eingeschlagen wie eine Bombe und mich aus dieser apokalyptischen Sichtweise herausgeholt. Und seither versuche ich, das vollständig zu sehen.

SB: Herr Dörner, wir bedanken uns für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnote:

Die vorangegangen beiden Teile des Interviews mit Klaus Dörner im Schattenblick unter
INFOPOOL → PANNWITZ → REPORT:

INTERVIEW/005: Irren ist menschlich - Sturmzeit in der Psychiatrie, Klaus Dörner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/006: Irren ist menschlich - Kritikbewegt, reformbeflügelt, konstruktiv ... Klaus Dörner im Gespräch (SB)

10. Februar 2014