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INTERVIEW/022: Berufsstand und Beteiligung - Die richtigen Fragen? Johanna Meyer-Lenz im Gespräch (SB)


Geschichte entschleiern - Gegenwart entschlüsseln

Interview am 8. Februar 2014 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme



Die Historikerin Dr. Johanna Meyer-Lenz lebt, forscht und lehrt in Hamburg, bis 2012 auch als Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialgeschichte, Gender- und Körpergeschichte und Medizingeschichte.

Am Ende des zweitägigen Workshops "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus", der am 7. Februar 2014 in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und am 8. Februar 2014 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stattfand, zog Johanna Meyer-Lenz im Gespräch mit dem Schattenblick ein Fazit der Tagung.

In einer Stuhlreihe sitzend - Foto: © 2014 by Johanna Meyer-Lenz

Johanna Meyer-Lenz
Foto: © 2014 by Johanna Meyer-Lenz

Schattenblick: Hat die gestrige Podiumsdiskussion Ihre Erwartungen erfüllt oder überwogen letzten Endes doch die Momente des Mißfallens?

Johanna Meyer-Lenz: Die Podiumsdiskussion war vor allem unzureichend in bezug auf die Frage, welchen Wert die Euthanasieforschung für das Bewußtsein der heutigen Historiker, Ärzte und der Psychiatrie hat bzw. wo die Anknüpfungspunkte zur gegenwärtigen Situation zu suchen sind. Als Politologin hat Ingrid Schneider den Horizont sehr weit geöffnet und die Auseinandersetzung mit der Euthanasie als positiv für die demokratische Entwicklung bewertet. Darauf folgte das Statement des Kulturwissenschaftlers Christoph Schneider von der Gedenkstätte Hadamar, wobei er dem Ganzen eine merkwürdige Wendung gegeben hat. So berichtete er, daß er bei Projekttagen mit Schülern in der Gedenkstätte am ersten Tag nach der Führung dort zunächst die Historie aufarbeitet, um am nächsten Tag mit ihnen gemeinsam zu überlegen, welche Konsequenzen man daraus für die Gegenwart ziehen könnte.

Er hat sich an dem Begriff der Selektion orientiert, der durchaus auch in der gegenwärtigen Gesellschaft von Relevanz sei, denn hier ließen sich gewisse Parallelitäten aufzeigen. Um den Zusammenhang zu veranschaulichen, nannte er drei Akteure, nämlich die Ärzte, die Frauen und die Psychiatrie. Ärzte und Frauen ordnete er in einen Nutzen- und Interessenzusammenhang ein, wobei er die Frauen als Nutzerinnen und die Ärzte als Anbieter der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik mit dem Ziel des optimierten Kindes (Elisabeth Beck-Gernsheim) bezeichnete. Seine Darstellung des Szenariums war sehr negativ, zumal er im Zusammentreffen von Medizin und Gesellschaft - einmal zugespitzt gesagt - im Grunde eine Euthanasie in anderer Form erkennt.

In dem Moment lief für mich die Diskussion in eine völlig falsche Richtung, denn diese Argumentation befand sich plötzlich auf der Seite der Fundamentalisten und Abtreibungsgegner in den USA, ebenso auf der der katholischen Kirche. Es kann aber doch nicht sein, daß man z. B. diese beiden Akteure, die Frauen und die Ärzte mit den Begriffen der Täter aus der NS-Zeit kriminalisiert. Aus diesem Grund hatte ich auch mein Schlußstatement abgegeben, um vor Kurzschlüssen dieser Art zu warnen. Was sich Frauen in der politischen Auseinandersetzung nach 1968 nach langem Ringen erkämpft haben, was Ärzte in der Pränatalmedizin hochverantwortungsvoll leisten und was heute einem demokratischen Regelungsprozeß unterworfen ist, darf nicht mit der Euthanasie des NS-Staats in einen Topf geworfen werden. Das wird den komplexen Prozessen nicht gerecht, das ist nicht nur gefährlich, sondern wäre auch bedauerlich, weil im Rahmen der Konferenz ansonsten viele spannende Vorträge und Einsichten geboten wurden.

SB: Daß Vergangenheit aufgearbeitet werden müsse, um zu verhindern, daß sie sich wiederholt, ist eine gängige Betrachtungsweise. In diesem Sinn muß man sich jedoch fragen, wie man Vergangenheit greifbar machen kann, damit die Bewältigung für die Menschen von heute eine gültige Relevanz bekommt.

JML: Das ist eine herausfordernde Frage. Ich denke, in dem Sinne können wir es nicht bewältigen. Als Historikerin habe ich die Erfahrung gemacht, daß man sich diesem Zivilisationsbruch immer wieder neu stellen und mit Blick auf die Euthanasie fragen muß, was ganz genau abgelaufen ist. Das heißt, die Täter, Fakten und überhaupt das gesamte Umfeld müssen zunächst sachlich faktisch gut gesichert sein, erst dann fangen die Fragen an. Wie kam es beispielsweise dazu, daß eine Gruppe von Tätern aus Psychiatrie und Ärzteschaft im Fürsorge- und Gesundheitskomplex eine so effiziente Tötungsmaschinerie, die fast alle gesellschaftlichen Bereiche - darunter die Psychiatrie, das Militär, sogar die Marine, insbesondere die sozialen Institutionen - umfaßte, in Gang bringen konnte, um Menschen auszusondern und in den Tod zu schicken? Und wie hat das auf seiten der Täter so reibungslos, sogar bis in die Nachkriegszeit hinein funktioniert? Es gilt z. B. bei den Medizinern zu hinterfragen, was Forschungsinteresse und Karrieremotivation war, was der Machtfülle der Position geschuldet war und wie das miteinander in der NS-Euthanasie verquickt war.

Diesen Fragen muß sicherlich bis in die feinsten Verästelungen hinein nachgegangen werden. Dies betrifft insbesondere den Komplex der Facheliten, wie er in der Medizin relativ bruchlos in die Nachkriegszeit übergegangen ist. Der springende Punkt bei der Euthanasie ist, daß sie eine gefährliche Utopie bleibt, da Beeinträchtigungen oder Behinderungen von Menschen jeglicher Gesellschaft inhärent sind. Das muß man akzeptieren und die Gesellschaft muß sich entsprechend ethisch, moralisch, demokratisch orientieren, sie als einen Teil ihrer selbst integrieren. Diese Lehre können wir aus der Euthanasie ziehen. Wir als Historiker müssen immer wieder zurückfragen, wo die Weichen in die falsche Richtung gestellt worden sind.

Blick auf Gedenkstele und Mauer mit Gedenktafel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Internationales Mahnmal der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Daß bestimmte Berufsstände Problemlösungen logistisch durchdringen, zeichnet offenbar die deutsche Mentalität aus. Dennoch ist die Frage der Täterschaft nicht leicht zu klären. Entweder waren alle daran beteiligt und man schweigt darüber, oder eine konkrete Gruppe von Personen wird schuldig und der Rest freigesprochen. Welche Position sollte man Ihrer Ansicht nach in diesem Widerstreit beziehen?

JML: Ich glaube, dieses Verhalten ist nicht nur typisch deutsch. Wenn man sich die Geschichte des Gesundheitssystems der USA anschaut, entdeckt man in den 20er und 30er Jahren sehr starke Bestrebungen, den Volkskörper mit entsprechenden Maßnahmen gesundzuerhalten. Solche Tendenzen gab es übrigens auch in Schweden und Frankreich. Man muß bei der Frage von Opfer und Täter sicherlich unterscheiden zwischen denjenigen, die tatsächlich an verantwortlicher Stelle Entscheidungen getroffen haben. Auf jeden Fall betrifft es alle, die bei der "T4-Aktion" in der Kanzlei des Führers beteiligt waren, und auch jene Ärzte, die hauptverantwortlich in dieser Tötungsmaschinerie mitgewirkt haben. In diesen Bereichen wußten alle, worum es ging. Der sogenannte Irrtumsvorbehalt, der ihnen nach 1945 zu einem Freispruch verholfen hat, ist eine Rechtskonstruktion. Im Grunde haben sie sich alle auf die Ermächtigung des Führers berufen, wissend, daß es keine gesetzliche Grundlage gab.

Schwieriger wird es auf der Ebene der Krankenhäuser. Ich kenne die Akten des ersten Kindereuthanasie-Prozesses in Hamburg und weiß daher, daß die Ärztinnen und Ärzte Bescheid wußten. Nur die wenigsten haben sich geweigert mitzumachen. Darunter war auch eine katholische Ärztin, der aber nichts passiert ist. Man mußte dennoch Mut haben, um nein zu sagen. Alle anderen haben sich diesem System angepaßt. Auch auf der Schwesternebene haben sich einige nicht einbinden lassen, während die Mehrheit mitgemacht hat, weil sie sich in der Befehlskette dazu gezwungen fühlte. Es gab Schwestern, die geweint und Empathie gezeigt haben, als sie vom Mord an den Kindern hörten.

Auch die Eltern wußten nicht immer, was mit ihrem Kind geschah. Manche hatten es mit einem Gefühl der Erleichterung abgegeben, andere hatten aufgrund ihres medizinischen Laienwissens wirklich die Hoffnung, daß dem Kind etwas Gutes widerfahren würde. Die Eltern im Zuge der Euthanasie getöteter Kinder in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar z. B. sind zweimal verhört worden, weil der Ermittlungsrichter sichergehen wollte, daß sie bei ihren Aussagen bleiben. Eine ganze Reihe von Eltern hat getrauert und ausgesagt, nicht gewußt zu haben, was mit ihrem Kind geschehen sollte; hätten sie es gewußt, dann hätten sie es nicht hergegeben.

Die Leiter der Gesundheitsbehörde Hamburg und die einzelnen Angestellten der Gesundheitsämter wußten sehr genau, worum es ging. Sie waren über die Situation informiert und angehalten worden, Schweigen zu bewahren. Unter den Fürsorgerinnen gab es sicherlich welche, die das zu verhindern versucht haben, aber die meisten standen ganz auf der Seite des Faschismus und haben sich in der Rassenhygiene als Botschafterinnen der Volksgemeinschaft verstanden. Daß davon so wenig nach außen gedrungen ist, hat meines Erachtens damit zu tun, daß über das Morden hinweggeschwiegen wurde. Die Hochschätzung, die den Ärzten von seiten der Bevölkerung entgegengebracht wurde, hat sicherlich dazu beigetragen, daß insbesondere die Kindereuthanasie relativ geheim abgelaufen ist.

Für die anderen Formen der Euthanasie gilt das nicht in dem Maße, schon deshalb, weil es von seiten der Kirchen Protest dagegen gegeben hat wie zum Beispiel vom Bischof aus Münster. Letztlich kam es aber zu keinem großen Aufstand. Die Tötungsmaschinerie ist daraufhin nicht mehr offiziell, sondern inoffiziell als deregulierte Euthanasie weitergeführt worden. Die SS war daran beteiligt, auch an der Zusammenstellung der Züge. Die Bevölkerung hat die Züge jedenfalls nicht angehalten oder sie, wie beispielsweise die französischen Gewerkschafter vom Widerstand, vorab gesprengt.

Inschrift 'Euer Leiden, euer Kampf und euer Tod sollen nicht vergebens sein!' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Inschrift der Gedenkstele des Internationalen Mahnmals
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wenn ein Psychiater aus heutiger Perspektive die damaligen Verbrechen kritisiert, müßte er sich im Grunde genommen auch die Frage nach der eigenen institutionellen Tätigkeit stellen. Inwieweit ist er im Rahmen der vorherrschenden Denkweise davor gefeit, Verbrechen dieser Art zu rechtfertigen oder gar an ihnen teilzunehmen?

JML: Das ist sehr schwierig zu beantworten. Die anwesenden Psychiater und Experten auf der Konferenz haben diesen Punkt sehr unterschiedlich bewertet. Einer verwies darauf, daß wir heute eine andere gesetzliche Grundlage und auch Patienten sich verändert haben, individuelle Persönlichkeiten sind und sich in dem Sinne nicht so einfach psychiatrisieren lassen, daß sie in eine Maschinerie gehen und alles weitere dem Arzt überlassen. Ich glaube, da ist auch viel optimistisches Denken dabei. Ich würde eher auch andersherum fragen: Wie sieht der Alltag in den psychiatrischen Krankenhäusern und Abteilungen heutzutage aus? In erster Linie hängt das vom Chef oder der Krankenhausleitung ab, das heißt, es gibt solche und solche. Allerdings sollte man bedenken, daß Situationen eintreten können, in denen nicht individuell auf den Patienten eingegangen werden kann und die Therapie nach Schema F erfolgt. Beispielsweise wenn Geld und Ressourcen fehlen, so daß die entsprechende Einrichtung zu wenig Personal hat und die Mitarbeiter sich daher nicht die Zeit nehmen können, auf jeden einzelnen Patienten in Hinblick auf Medikation und Behandlung im notwendigen Umfang einzugehen. Oder weil die Krankenkassen die auf den einzelnen abzustimmende Behandlung nicht bezahlen. Dabei denke ich im besonderen an den Pflegebereich älterer Menschen, wo einiges im argen liegt.

SB: In Belgien und in den Niederlanden wird, wenngleich unter dem Vorwand einer angeblichen Selbstbestimmung, aus Sicht vieler Kritiker Euthanasie praktiziert. Wie bewerten Sie diese Art von Tötungslegalismus, der durch die Hintertür eingeführt wird?

JML: Wenn wir uns die dahinterstehende Philosophie anschauen, die vieles in die Selbstverantwortung des einzelnen legt, dann wird dem Menschen aufgrund von Erwägungen, die bereits im Nationalsozialismus unter die Bevölkerung gestreut wurden, wie zum Beispiel: Bin ich noch ein ökonomisch nützlicher Mensch und werden meine Krankheiten und mein Leiden in dieser Welt noch akzeptiert? im Grunde nahegelegt, sein Leben vorzeitig zu beenden. Diese Diskurse führen dazu, daß eine solche Art der Euthanasie freigegeben wird oder man zumindest Regeln für sie aufstellt, damit sie von Menschen in Anspruch genommen werden kann. Für mich thematisiert die Frage von Leben und Tod ein hohes, aber auch fragiles Gut, so daß man sich immer fragen muß, ob derjenige, der frei über seinen Tod entscheidet, wirklich eine völlig freie Entscheidung trifft oder nicht doch von diesen utilitaristischen Diskursen beeinflußt worden ist.

SB: Wenn jemand Organspender wird, muß man sich natürlich auch fragen, in welchem Lebensabschnitt er diese Entscheidung getroffen hat. Fragt man einen jungen Menschen, dann wird er vielleicht antworten: "Wenn ich nicht mehr so fit bin wie heute, könnt ihr die lebenserhaltenden Geräte ruhig abschalten." Möglicherweise würde er als alter Mensch ganz anders entscheiden. Wie sollte man mit dieser Diskrepanz in den Entscheidungen umgehen?

JML: Die Frage ist, ob man seine Organe im Alter noch braucht, je nachdem, wie wertvoll sie dann noch für die Medizin sind. Aber abgesehen davon handelt es sich hier in der Tat um eine komplizierte und komplexe Frage. Nach dem heute geregelten Verfahren kann der Eingriff vorgenommen werden, wenn jemand tot ist, also keine Gehirnströme im EEG darstellbar sind und damit der sogenannte Hirntod eingetreten ist. Die Neurologen, die letztlich darüber entscheiden, machen sich die Sache nicht einfach und überlegen sehr genau, ob der Organspender wirklich nicht wieder aus dem Koma erwachen und sein Bewußtsein wiedererlangen wird. An dieser Frage scheiden sich jedoch die Geister. Die Befürworter der Transplantationsmedizin halten es für wichtig, Organe wie Herz und Niere für Menschen zu entnehmen, die wirklich darauf angewiesen sind. Ich habe neulich mit einem Kardiologen gesprochen, der mir händeringend erklärte, in einem Dilemma zu stecken. Auf der einen Seite weiß er um die Patienten, die dringend ein Organ benötigen, und auf der anderen Seite führt die Debatte oft dazu, daß das Organ dann eben doch nicht gespendet wird. Andererseits war der Hamburger Neurochirurg Rudolf Kautzky der Ansicht, daß ein Mensch, solange er atmet und Lebenszeichen hat, noch lebt. Vor dieser Frage muß man absoluten Respekt haben.

Blick auf fensterlose Fassade mit Portal - Foto: © 2014 by Schattenblick

Haus des Gedenkens in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Bei der historischen Forschung der NS-Euthanasieverbrechen dienen Krankenakten nicht unwesentlich als Quellenmaterial, aber diese können, wie auf der Konferenz zu erfahren war, entweder manipuliert oder ideologisch beeinflußt sein. Als Historikerin müssen Sie gegenüber Dokumenten wie überhaupt gegenüber jeder Art schriftlicher Hinterlassenschaft höchste Vorsicht walten lassen, aber andererseits können auch verschiedene Sichtweisen und politische Einstellungen im eigenen Berufsstand die kritische Forschung beeinträchtigen. Wie gehen Sie persönlich mit dieser Schwierigkeit um?

JML: Indem ich alles kritisch hinterfrage. Gerade der Umgang mit ärztlichen Diagnosen ist hochkomplex und erfordert eine akribische Auseinandersetzung. Dazu bedarf es manchmal eines speziellen medizinischen Wissens und auch der Kenntnis um das Paradigma, innerhalb dessen solche Diagnosen erstellt werden wie beispielsweise in der Hirnforschung. In der heutigen Diskussion wurde Willi Baumert, ein Pathologe aus Lüneburg, angeführt, der an Gehirnen von Kindern mit Kleinwuchs geforscht hatte. In ihrem Vortrag hat die Historikerin Carola Rudnick seine Diagnose anhand eines speziellen Falls als wissenschaftlichen Auftrag ausgewiesen und zugleich gezeigt, daß die dabei verwendete medizinische Sprache der Persönlichkeit des Jungen nicht gerecht wurde.

So fehlen darin die Empathie und die Beachtung der Stärken dieses Kindes, auch, wie es in der Familie aufgenommen wurde, wie es sich entwickelt und in seinem Leben kommuniziert hat. Statt dessen zeichnet der ärztliche Bericht das Bild eines Kindes, das mit drei Jahren noch nicht laufen konnte, das stottert und bettnäßt - im Grunde alles Befunde, die damals gegen einen als normal ausgewiesenen Entwicklungsstand sprechen -, um darzustellen, daß das Kind "anormal" ist. Die sensitive und emotionale Entwicklung und Eingebundenheit in der Familie wurden nicht mit einbezogen. Das ging bis zum Fehlurteil, daß das Kind an Epilepsie litt und aufgrund der Tatsache, daß es sich widersetzte und ausreißen wollte, moralisch abgestempelt und in eine Anstalt eingewiesen wurde, wo es schließlich den Hungertod starb.

Das war eine absolute Fehldiagnose, und insofern war der Fall wirklich faszinierend, weil er gezeigt hat, daß Ärzte willkürlich über das Leben und Schicksal eines Kindes bestimmen, das mit ganz kleiner Medikation ein normales Leben in seiner Familie hätte führen können; ein Kind, das von zugewandten Geschwistern versorgt und von der Mutter geliebt, aber dann durch den Blick eines Mediziners abgesondert und dem Tode überantwortet wurde. Das ist der selektionistische Blick der schlimmsten Art. Da hilft auch kein Mäntelchen von Wissenschaft mehr; hier liegt das ganze Verbrechen unverhüllt und klar vor einem.

Bei den anderen Fällen handelte es sich in der Sprache der damaligen Zeit um Idiotie, Mikrozephalie, Makrozephalie, Littlesche Krankheit und Mongolismus. Diese Diagnosen sind aufgrund der Kenntnisse der 30er und 40er Jahre erstellt worden, von denen man heute weiß, daß sie teilweise irrtümlich oder falsch sind, weil man damals nicht das diagnostische Wissen und die Instrumente hatte, das heutzutage verfügbar ist. Bei diesen Diagnosen geht es um zerebrale Befunde, die aber das Kind selber nicht als Menschen in den Blick nehmen, der innerhalb der Gesellschaft ein vollwertiges Mitglied ist, Bürgerrechte besitzt und daher nicht ausgesondert werden darf.

Aufschlußreich sind auch die Zusammenhänge, in denen damals geforscht wurde. Mengele mit seinen Zwillings- und Farbforschungen beschritt teilweise Irrwege der Medizin, die schon zur damaligen Zeit als solche bekannt waren. Menschen Farben in die Augen zu spritzen, ist ein völlig abwegiges Verfahren. Diese Ärzte haben eine absurde Phantasie entwickelt, weil sie mit den Patienten, die ihnen völlig ungeschützt ausgeliefert waren, machen konnten, was sie wollten. Auch das muß der Historiker bzw. die Historikerin kritisch erforschen, und dazu brauchen wir Mediziner, die Fachkenntnisse besitzen und mit uns kooperieren. Das muß disziplinübergreifend sowohl mit der Psychiatrie als auch mit der Neurologie gemacht werden.

SB: Selbst wenn man mit der Thematik in großen Zügen vertraut war, wirkte doch beispielsweise der Vortrag über die Verbrechen der Nationalsozialisten in Polen regelrecht erschütternd. So waren einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung erst nach zehn Minuten bereit, darüber zu sprechen. Wie gehen Sie als Historikerin mit dem ganzen Ausmaß des Schreckens und der Repression um und auf welchem Wege kann man anderen Menschen diese Forschungsergebnisse vermitteln, ohne daß sie reflexhaft die Augen vor den grauenhaften Exzessen des NS- Vernichtungsapparats verschließen?

JML: Mir ging es gestern genauso. Allein die Faktizität, daß 200.000 Menschen in relativ kurzer Zeit aus Kliniken abtransportiert und auf gräßlichste Art hingerichtet wurden, indem man an ihnen neue technische Methoden wie die sogenannten Vergasungswagen ausprobiert hat, ist unvorstellbar. Ich glaube, daß zunächst die Ebene des Gefühls und auch der Empörung darüber, was Menschen anderen Menschen mit einem terroristischen Regime im Rücken antun können, zugelassen werden muss.

Mit der nötigen Distanz stellt man sich dann als Historiker z. B. die Frage, wie diese mörderische Maschinerie funktioniert hat und welche Umstände dazu beitrugen, daß innerhalb kurzer Zeit ganze Kliniken leergeräumt werden konnten. Denn zweifelsohne waren die Täter gut vorbereitet. Umgekehrt zeigt sich daran, wozu Macht und Herrschaft, wenn sie mißbraucht werden und keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, in kurzer Zeit fähig sind.

Um solche Dinge für die Zukunft zu verhindern, muß man wissen, warum sie funktioniert haben. Aber die entscheidende Frage ist: Wie übertrage ich dieses Wissen in die Gegenwart, ohne auf den Kurzschluß einer im Kern verfehlten Parallelisierung hereinzufallen? Denn auch in der Gegenwart gibt es menschenverachtende terroristische Regime, die man nicht akzeptieren, aber in ihrer Wirkung und Struktur offenlegen muß. Rußland ist ein gutes Beispiel dafür, weil es nach außen Tschetschenien und Georgien unterdrückt und mit der Homosexuellendebatte im Inneren dafür gesorgt hat, daß die gleichgeschlechtliche Liebe in Rußland offiziell verboten ist. Ein anderes Beispiel ist die Ukraine mit ihrem Oligarchensystem. Wo immer man hinschaut, ob in Afrika, Europa oder augenblicklich in Syrien, überall findet man Systeme der Unterdrückung, die global funktionieren. Allmählich kommt man jetzt hinter die Herrschaftsmechanismen beim NSA-Skandal. Es gibt vieles, das man heute mit scharfen Augen beobachten muß.

SB: Die Frage, ob das, was früher war, wieder geschehen könnte, ist also irreführend. Vielmehr müßte man sich fragen, mit welchen neuen Begriffen, Kategorien und Sichtweisen, die von den meisten Menschen ahnungslos übernommen und verinnerlicht werden, heutzutage Repressionen jeglicher Art einen Legitimationsstatus erhalten.

JML: Ja, diese Art der Repression findet im Grunde genommen heimlich in der Gesellschaft statt, weil wir sie als solche gar nicht bemerken. Sie sind sozusagen in die Normalität eingefaßt und bringen trotzdem abstruse Dinge hervor. Man denke da nur an die Lampedusa-Flüchtlinge oder die Systeme, die sich in Afrika entwickelt haben und an deren Zustandekommen Europa zum Beispiel durch die Durchsetzung bestimmter Wirtschaftsfaktoren mitverantwortlich dafür ist, daß es so ist, wie es ist. Das bestimmt auch unseren Alltag. Wir verstehen uns als Rechtsstaat, aber was wir importieren und essen, schafft anderswo Leid. Auch dadurch, wie wir mit dem Klima umgehen.

Heute morgen konnte man im Vortrag erfahren, daß dadurch, daß man den Behinderten im NS-Staat nicht den vollen Essens- oder Pflegesatz, sondern nur 40 Prozent davon zugestand, über 2 Millionen Reichsmark eingespart wurden, was in heutiger Währung noch viel mehr wäre. Dieses Geld ist in ein Museumsdorf gesteckt worden. Das heißt, die Häuser, die man dort aufgebaut hat, sind materialisierter Tod der anderen. Man muß die Zusammenhänge sehen und verstehen.

SB: An dieser Stelle menschlicher Begegnung stellt sich die Frage: Wer lebt von wem?

JML: Richtig, wenn ich lebe und meine Bedürfnisse stille, muß ich mich fragen, auf wessen Kosten ich das eigentlich mache und wie das strukturell in den Regularien meines Alltags vermittelt ist. Diesen Reflexionsprozeß müßte man eigentlich immer machen, was ich aber nicht immer tue. Menschen sind eben widersprüchlich.

SB: Frau Meyer-Lenz, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.

Vortrag mit Auditorium - Foto: © 2014 by Schattenblick

Veranstaltungssaal im Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnote:

Bisherige Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/008: Berufsstand und Beteiligung - Die im Schatten sieht man nicht ... (SB)
BERICHT/010: Berufsstand und Beteiligung - Alte Schuld runderneuert (SB)
BERICHT/011: Berufsstand und Beteiligung - Erprobt, verbessert, Massenmord (SB)
BERICHT/012: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (1) (SB)
BERICHT/013: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (2) (SB)
BERICHT/015: Berufsstand und Beteiligung - Zwänge, Schwächen, Delinquenzen (SB)
BERICHT/016: Berufsstand und Beteiligung - Schreckenskumpanei (SB)
INTERVIEW/015: Berufsstand und Beteiligung - Spuren der Täuschung, Christl Wickert im Gespräch (SB)
INTERVIEW/016: Berufsstand und Beteiligung - Archive, Forschung und Verluste, Harald Jenner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/017: Berufsstand und Beteiligung - Deutungsvielfalt großgeschrieben, Michael Wunder im Gespräch (SB)
INTERVIEW/018: Berufsstand und Beteiligung - Dammbruch Sterbehilfe, Astrid Ley im Gespräch (SB)
INTERVIEW/019: Berufsstand und Beteiligung - Vernichtungslogik, Krieg und Euthanasie, Friedrich Leidinger im Gespräch (SB)
INTERVIEW/021: Berufsstand und Beteiligung - Januskopf der Praxis, Wolfgang Erhardt im Gespräch (SB)

13. Mai 2014