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INTERVIEW/042: Pränataldiagnostik - der Methode geschuldet ...    Markus Dederich im Gespräch (SB)


Gespräch am 16. Juni 2018 in Essen


Bei der Jahrestagung 2018 des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, die zum Thema "Was hat die UN-Behindertenrechtskonvention mit Pränataldiagnostik zu tun?" vom 15. bis 17. Juni in Essen stattfand, hielt Prof. Dr. Markus Dederich den Vortrag "Monster, Krüppel, ExpertInnen in eigener Sache - zur Geschichte des Behinderungsbegriffes". Er ist Professor für Allgemeine Heilpädagogik an der Universität zu Köln mit den Arbeitsschwerpunkten Pädagogische Anthropologie und Ethik, Inklusion und Disability Studies sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Mensch, Ethik, Wissenschaft (IMEW) in Berlin. Im Anschluß an seinen Vortrag beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Markus Dederich
Foto: © 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Sie lehren Heilpädagogik an der Universität zu Köln. Was hat Sie dazu bewogen, sich diesem Fachgebiet zuzuwenden?

Markus Dederich (MD): Das habe ich mich auch häufig gefragt. Ich glaube, in der Tiefe hängt das damit zusammen, daß ich als Kind acht Jahre in Brasilien gelebt habe. Das war für mich insofern eine prägende Zeit, als so etwas wie Fremdheit, mit Menschen konfrontiert zu werden, die anders aussehen, die anders sprechen, die anders leben, die vielleicht teilweise auch anders fühlen, die von anderem Temperament sind, nichts Ungewöhnliches war. Ich habe dort große Armut gesehen, und daher rührt wohl auch mein Interesse an der Frage: Gleichheit - Verschiedenheit, Vertrautheit - Fremdheit, Zugehörigkeit - Nichtzugehörigkeit, was verbindet Menschen trotz der Unterschiede und was trennt Menschen trotz der Gemeinsamkeiten? Das ist der biographische Hintergrund meines Interesses am Fachgebiet.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag angesprochen, daß in der Zeit der Sklavenhaltung der Blick auf den "andersgearteten" Menschen in hohem Maße von den Produktionsverhältnissen geprägt war. Inwieweit müßte man diese Frage der ökonomischen Verwertung des Menschen auch bei der Behindertenproblematik mit einbeziehen?

MD: Ich denke, das muß man auf jeden Fall mit einbeziehen. Es gibt ja eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen wie insbesondere Wolfgang Jantzen, der früher an der Universität Bremen lehrte und das als erster sehr konsequent gemacht hat. Er hat ein Verständnis von Behinderung entwickelt, das darauf hinauslief zu sagen, Behinderung sei "Arbeitskraft verminderter Güte". Menschen mit Behinderung leisten im gesellschaftlichen Produktionsprozeß weniger als andere - so lautete jedenfalls die weitverbreitete Überzeugung -, und genau das definiert ihren Status. Ich glaube zwar nicht, daß man jeden Aspekt der Erfahrung von Menschen mit Behinderungen daran festmachen kann, halte das aber schon für einen ganz wesentlichen Faktor, wenn man beispielsweise das durchschnittliche Einkommen von Menschen mit und Menschen ohne Behinderung vergleicht. Ich habe in meinem Vortrag auf das englische Wort "Disability" hingewiesen, weil im englischsprachigen Diskurs sehr deutlich gemacht wird, daß es zum Teil um ökonomische Kriterien geht, anhand derer Menschen betrachtet, vermessen, bewertet und eingeordnet werden.

SB: Müßte man die Behindertenproblematik nicht noch viel stärker anhand der sozialen Frage diskutieren, weil die Handlungsmöglichkeiten in hohem Maße von den Lebenszusammenhängen bestimmt werden?

MD: Absolut. Man kann das überhaupt nicht voneinander trennen. Natürlich haben z.B. sehbeeinträchtigte Menschen Probleme mit dem Sehen und die Taubheit läßt sich auch als individuelle Beeinträchtigung bestimmen. Aber man schneidet viel zu viel weg, wenn man soziale und gesellschaftliche Faktoren ausblendet. Die muß man immer mitdenken, und natürlich spielt auch die Politik eine große Rolle.

SB: Sie gaben zu bedenken, daß es sehr schwer ist, aus heutiger Sicht frühere Epochen angemessen zu beurteilen, weil man nicht weiß, wie die Menschen damals gedacht, gefühlt, gelebt haben. Dennoch stellt sich die Frage, ob behinderten Menschen zwar auch in früheren Zeiten das Leben nicht leicht gemacht wurde, es aber möglicherweise soziale Zusammenhänge gab, die sie stärker integrierten, als dies heute der Fall ist.

MD: Ich bin kein Fachhistoriker, weshalb meine Aussagen mit der entsprechenden Vorsicht bewertet werden müssen. Es gibt aber Hinweise, und darüber hat auch Klaus Dörner geschrieben, daß es zumindest bei bestimmten Behinderungen so zu sein scheint, daß beispielsweise im 17. Jahrhundert in ländlichen Regionen ein Mensch mit Down-Syndrom, der die Kindheit überstand, viele alltagsrelevante Tätigkeiten verrichten konnte und sozial integriert und zugehörig war. Gemeinschaftsgefüge waren ungeachtet aller Probleme stabiler, so daß diese Menschen besser mitgenommen werden konnten. Heute gibt es soziale Gemeinschaften kaum noch.

SB: Im NS-Staat kam es zu einer großen Welle der Vernichtung sogenannten unwerten Lebens. Dies war jedoch von der Ideologie her offenbar keineswegs ein Ausnahmefall. War es gewissermaßen wissenschaftlicher Standard auch in anderen Ländern, die Rassefrage aufzuwerfen?

MD: Das war definitiv der Fall. Diese eugenischen und sozialdarwinistischen Denkmuster waren weit verbreitet. Die Idee, Sterilisationsprogramme aufzulegen und in der Gesellschaft zu implementieren, gab es praktisch in allen westlichen Ländern Europas und in Nordamerika. Das wurde überall diskutiert und war in den Wissenschaften hoch akzeptiert.

SB: Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Psychiatrie ausgebaut wurde, gab es neben personeller Kontinuität viele Elemente des alten Denkens, die in dieser Institution fortbestanden.

MD: Über die Psychiatrie im engeren Sinn kann ich seriös nichts sagen, da dies nicht mein Feld ist. Ich kann aber sehr wohl sagen, weil es gut dokumentiert ist, daß es nach 1945 ein hohes Maß an Kontinuität in vielen Institutionen gab. So war in den 1950er Jahren im Bundesjustizministerium ein hohes Maß der Beschäftigten in den höheren Rängen vordem in der NSDAP gewesen. Das galt auch für viele andere Bereiche, etwa die deutsche Lehrerschaft und das System der Behindertenhilfe. Dort waren bis in die 60er Jahre Leute tätig, die Funktionen im NS-Staat hatten und sich später nicht radikal von der eugenischen Ideologie distanziert haben.

SB: In den frühen 80er Jahren machte die deutsche Krüppelbewegung diese politisch inkorrekte Bezeichnung für Menschen mit einer Körperbehinderung zu ihrem Kampfbegriff. Welchen Sprachgebrauch würden Sie heute für angemessen und sinnvoll erachten?

MD: Je nachdem, welches Publikum man vor sich hat, sollte man seine Wortwahl bedenken. Wenn ich von "Idioten" oder "Krüppeln" spreche, verwende ich sie als historische Begriffe, die in einer bestimmten Phase der Geschichte gängig gewesen sind. Es gibt Studierende, die dann große Augen machen, das moralisch bedenklich finden und von mir fordern, ich müsse mich jedesmal wenn ich sie in meiner Vorlesung verwende, explizit von ihnen distanzieren. Ich denke, es ist wichtig, unmißverständlich zu sein und deutlich zu machen, wie ich das auch in meinem Vortrag getan habe, in welchem Zusammenhang ich sie verwende. Ich benutze sie auch deshalb als historische Begriffe, weil sie damals zum Teil anders konnotiert waren als heute. Zum anderen sollten wir meines Erachtens einen sehr behutsamen Umgang mit Begriffen pflegen, weil diese häufig diskriminierend, abwertend Gruppen bildend sind. Ein hohes Maß an sprachlicher Sensibilität ist wichtig.

Ich habe allerdings auch manchmal den Eindruck, daß der Sprachgebrauch in eine Art politische Korrektheit kippt, wenn bestimmte Dinge gar nicht mehr zur Sprache gebracht und benannt werden können oder sollen, weil sie nicht in anerkannte Denkschemata oder politische Bewertungsraster passen. Das finde ich mitunter schwierig. Es ist auf jeden Fall ein Balanceakt, zu dem auch gehört, daß man immer sehr sorgfältig unterscheiden muß, inwieweit man einen Begriff als einen historischen oder beschreibenden benutzt, ob als moralisch aufgeladenen oder wertenden Begriffs - das muß man einfach immer berücksichtigen. Sprache ist definitiv ein sensibles Thema, gerade wenn es um soziale Problemlagen geht.

SB: Welche Erfahrungen machen Sie als Hochschullehrer bei der Vermittlung solcher Themenfelder, auf denen die Studierenden mit existentiellen Problemen von Menschen mit einer Behinderung konfrontiert werden?

MD: Wir bilden in erster Linie Sonderschullehrer aus, die alle eine Affinität zu diesem Thema haben. Ich beobachte allerdings in der Sonderpädagogik den Trend, daß eine historische und politische Auseinandersetzung mit dem Thema sowie eine soziologische Reflexion kaum noch stattfinden. Ich habe manchmal den Eindruck, daß eine Art Technologisierung und teils auch Psychologisierung der Pädagogik stattfindet, die ich sehr kritisch sehe.

SB: Könnte das damit zusammenhängen, daß der ursprünglich positiv besetzte Begriff der Selbstverantwortung zunehmend als eine Bezichtigung und Schuldzuweisung gegen den einzelnen gekehrt wird?

MD: Das ist definitiv so. Das Verständnis von Verantwortung hat sich verändert. Mir ist unbehaglich dabei, weil eine politische Agenda dahintersteckt, die mir nicht gefällt. Wenn jemand sagt, ich übernehme die Verantwortung für das, was ich tue, kann ich dem nur zustimmen. So muß es ja auch sein. Aber in der Kopplung mit dieser politischen Agenda, derzufolge Menschen selbst dafür verantwortlich sind, wenn sie sozial ungleich behandelt oder benachteiligt werden, finde ich das schwierig.

SB: Früher war die Vorstellung, eine Veränderung der Verhältnisse herbeizuführen, stets eine kollektive, und kaum jemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß er dies allein bewältigen müsse.

MD: Ich glaube, da hat sich auch einiges verändert. Ich erlebe meine Studierenden nicht als unengagiert, aber sie sind meines Erachtens in ihrem Denken und Handeln nicht so grundsätzlich wie es viele unserer Generation gewesen sind. Sie sind heute pragmatischer orientiert und engagieren sich eher mal hier und mal da punktuell und wechseln häufiger die Felder.

SB: Wenn eine Frau in der Schwangerschaft mit der Prognose einer mutmaßlichen Fehlbildung des Fetus konfrontiert wird, muß sie in sehr kurzen Fristen eine Entscheidung zu treffen, die man selbst in einer sehr viel längeren Bedenkzeit kaum abschließend klären könnte. Ist diese Situation für einen Menschen allein lösbar?

MD: Für einen Menschen allein ist das ausgesprochen schwer. Es gibt empirische Studien, die das in Form von Interviews untersucht haben. Viele Frauen oder auch Paare, die das durchlebt haben, sagen ja auch, daß Unterstützung, Gespräche, die Möglichkeit, seine Ängste und Sorgen zu artikulieren, sehr wichtig sind. Der Zeitdruck ist natürlich ein Problem, da ein möglicher Abbruch der Schwangerschaft um so riskanter wird, je später er erfolgt. Heute sind Frühgeburten bereits ab der 20. bis 22. Schwangerschaftswoche außerhalb des Mutterleibes lebensfähig. Es sind ja nur ganz kurze Fristen gegeben. Und dieser Druck macht die Problematik noch größer, als sie ohnehin schon ist. Neue Technologien schaffen neue Handlungsoptionen und zugleich Entscheidungszwänge. Die erweiterten Optionen werden gerühmt, doch dann kommt eine Diagnose, und plötzlich finde ich mich in einen Entscheidungszwang hineingestellt. An dieser Stelle kann von Selbstbestimmung im Grunde keine Rede sein. Daraus gibt es kein Entkommen, es sei denn, man würde den Einsatz der Technologien verbieten, was natürlich auch keine Lösung wäre.

SB: Sie haben die Sicht auf Menschen mit einer Behinderung in Ihrem Vortrag offenbar auch emotional berührt behandelt. Wenngleich es eine wissenschaftliche Darstellung war, wirkte sie doch nicht wie die trockene Abhandlung eines bloßen Sachverhalts.

MD: Das liegt daran, daß mich das Thema interessiert und berührt. Es geht dabei um grundsätzliche Fragen. Ich ringe mit den Antworten, weil es meines Erachtens um Probleme geht, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Für die Betroffenen ist das existentiell, und das haben Sie wohl aus meinem Vortrag herausgehört. Außerdem mag ich lebensnahe Wissenschaft lieber als eine allzu distanzierte, das spielt wohl auch eine Rolle.

SB: Herr Dederich, vielen Dank für dieses Gespräch.


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2. September 2018


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