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BUNDESTAG/9075: Heute im Bundestag Nr. 1222 - 04.11.2019


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 1222
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Montag, 4. November 2019, Redaktionsschluss: 17.46 Uhr

1. Entlastung von Angehörigen umstritten
2. Wertgrenze bei Nichtzulassungsbeschwerde


1. Entlastung von Angehörigen umstritten

Arbeit und Soziales/Anhörung

Berlin: (hib/HAU) Die von der Bundesregierung mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz (19/13399) geplante Entlastung von Kinder und Eltern, die gegenüber Beziehern von Sozialhilfe unterhaltsverpflichtet sind, stößt beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und mehreren Sozialverbänden grundsätzlich auf Zustimmung. Kommunalvertreter kritisierten bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montag hingegen, die Aufhebung des Unterhaltsrückgriffs - Eltern und Kinder mit einem jeweiligen Jahresbruttoeinkommen von bis zu einschließlich 100.000 Euro sollen künftig nicht mehr unterhaltspflichtig sein - führe zu einer Entsolidarisierung der Familie. Zudem würden die entstehenden Kosten einseitig zu Städten und Gemeinden verlagert.

Neben der Änderung bei der Unterhaltspflicht enthält der Gesetzentwurf weitere Vorgaben, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Diese sollen, sofern sie im Eingangsverfahren oder Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig sind, künftig auch einen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten. Außerdem soll die Projektförderung für eine unabhängige Teilhabeberatung dauerhaft sichergestellt werden. Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten, sollen künftig mit einem Budget für Ausbildung gefördert werden, wenn sie eine nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) oder nach dem Gesetz zur Ordnung des Handwerks (HwO) anerkannte Berufsausbildung erwerben wollen.

DGB-Vertreter Ingo Schäfer begrüßte während der Anhörung ausdrücklich den Verzicht auf den Unterhaltsrückgriff ebenso wie das geplante Budget für Ausbildung. Letzteres sei ein hilfreiches und wichtiges Instrument, um jungen Menschen mit Behinderung den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt und damit einer selbstständigen Sicherung der eigenen Existenz zu ermöglichen, sagte Schäfer.

Ines Verspohl vom Sozialverband VdK Deutschland sagte, die geplante Regelung, unterhaltsverpflichtete Kinder gegenüber pflegebedürftigen Eltern zu entlasten, entspräche den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag und müsse konsequenterweise für alle Sozialleistungen gelten. Sie sorge zudem auch für gesellschaftliche Gerechtigkeit, sagte Verspohl. Manche Familie habe drei Pflegefälle, für die sie derzeit aufkommen müssten, andere keinen. "Diese Aufgabe muss die gesamte Gesellschaft schultern, nicht einzelne Familien", sagte sie.

Antje Welke von der Bundesvereinigung Lebenshilfe hält den Grundsatz "ambulant vor stationär" durch die Neuregelung bei der Unterhaltspflicht nicht für gefährdet. Aus ihrer Sicht ist "keine Sogwirkung hin zu stationärer Pflege" zu befürchten. Die verhältnismäßig hohe Grenze von 100.000 Euro sei angemessen, befand sie.

Kathrin Völker von der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen begrüßte das geplante Budget für Ausbildung. Allerdings ziele es ausschließlich auf die Erstausbildung am Übergang von der Schule in den Beruf ab. Auch Menschen mit Behinderungen die schon länger in Werkstätten sind, sollte der Zugang zur Berufsausbildung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch das Budget für Ausbildung ermöglicht werden, forderte Völker.

Da das im Bundesteilhabegesetz enthaltene Budget für Arbeit "zu kurz gesprungen" sei, begrüße er das geplante Budget für Ausbildung, sagte Christoph Beyer von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen.

Harry Hieb vom Netzwerk für Inklusion, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz sieht in dem Gesetzentwurf hingegen "ein weiteres Beispiel für die Missachtung der UN-Behindertenrechtkonvention und der Empfehlungen des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen". Zentrales Anliegen des Angehörigen-Entlastungsgesetzes sei die Entlastung Angehöriger von Pflegebedürftigen und Eltern volljähriger behinderter Kinder hinsichtlich des Einkommenseinsatzes, "nicht jedoch der Menschen mit Behinderungen selbst", wodurch das Ziel eines gleichen Lebensstandards in immer weitere Ferne rücke, kritisierte er.

Aus Sicht von Andreas Krampe vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge ist es durch das Gesetz möglich, mit einem "vergleichsweise überschaubaren finanziellen und rechtlichen Mittelansatz" einen bedeutsamen Zugewinn an sozialer Sicherheit für die Bevölkerung zu erzielen. Die Kosten für die Kommunen bezifferte er mit etwa 70 Millionen Euro jährlich.

Die Vertreter von Städtetag und Landkreistag gehen hingegen von deutlich höheren Kosten aus. Zudem sei von einer erheblichen Nachfragesteigerung nach stationärer Pflege auszugehen, sagte Regina Offer vom Deutschen Städtetag. Das dämpfende Element der Selbstverantwortung und der familiären Solidarität werde deutlich geschwächt, betonte Johann Keller vom Deutschen Landkreistag. Er gehe davon aus, dass mit Kosten in Höhe von etwa einer halben Milliarde Euro zu rechnen sei.

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2. Wertgrenze bei Nichtzulassungsbeschwerde

Recht und Verbraucherschutz/Anhörung

Berlin: (hib/MWO)Ein Gesetzentwurf, der die Funktionsfähigkeit des Bundesgerichtshofs (BGH) gewährleisten soll, und damit verbundene Anträge der Fraktionen von FDP und Grünen haben am Montag im Fokus einer Öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz gestanden. Acht Sachverständige aus Praxis und Wissenschaft nahmen Stellung zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (19/13828), mit dem unter anderem die bislang in einer befristeten Übergangsvorschrift festgelegte Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden in Zivilsachen in Höhe von 20.000 Euro dauerhaft in der Zivilprozessordnung (ZPO) festgeschrieben werden soll.

Während die Praktiker die vorgesehene Entfristung überwiegend begrüßten, sahen die Rechtswissenschaftler das Vorhaben kritisch und sprachen von einem Systembruch. Fragen der Abgeordneten betrafen vor die Argumente für und wider eine Wertgrenze, die Möglichkeiten, Berufungsverfahren zu verbessern und die Notwendigkeit einer ZPO-Reform. Der Entwurf sieht außerdem eine weitere Spezialisierung der Gerichte in Zivilsachen, Maßnahmen zur Verfahrensstrukturierung sowie Änderungen zur Steigerung der Effizienz im Zivilprozess vor.

Die BGH-Präsidentin Bettina Limperg erklärte, die Vorlage setze im Grundsatz das um, was der BGH seit Jahren nachdrücklich befürworte. Würde die Wertgrenze nicht festgeschrieben und liefe wie geplant Ende dieses Jahres aus, hätte der dann eintretende Arbeitsmehranfall unvermeidlich den Kollaps des BGH zur Folge. Dies ließe sich weder durch eine Aufstockung der Senate noch durch andere Maßnahmen wie die Einrichtung eines weiteren Zivilsenats auffangen. Das bereits bestehenden Fallaufkommen würde sich bei Auslaufen der Wertgrenze mehr als verdreifachen, legte Limperg anhand von Fallzahlen der vergangenen Jahre dar. Sie fügte hinzu, aus den für die Festschreibung der Wertgrenze sprechenden Gründen lehne sie zugleich die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde in Familiensachen ab, wie sie im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens gefordert werde.

Christian Tombrink, Richter am Bundesgerichtshof und Vorsitzender des Vereins der Bundesrichter und Bundesanwälte beim Bundesgerichtshof, verwies darauf, dass sich die mit der wiederholten Befristung verknüpfte Erwartung sinkender Eingänge beim BGH in Zivilsachen nicht bestätigt habe. Hieraus folge, dass nicht nur die Entfristung der Wertgrenze und ihre Übernahme in die ZPO, sondern auch ihre Anhebung auf zumindest 30.000 Euro geboten sei, um die anhaltend hohen Eingangszahlen für Nichtzulassungsbeschwerden wieder in Richtung auf das frühere Maß zurückzuführen. Auch Tombrink sprach sich gegen die Eröffnung der Nichtzulassungsbeschwerde in Familiensachen aus.

Der Deutsche Richterbund befürwortet nach den Worten seines Vertreters Peter Fölsch, Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck, die unbefristete Beibehaltung der streitwertmäßigen Beschränkung der Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH. Damit könne eine effiziente Erfüllung der Aufgaben des Gerichts als Revisionsinstanz und den Erhalt der Arbeitsfähigkeit des Gerichts dauerhaft sichergestellt werden. Auch Hendrik Schultzky, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg, stimmte einer Entfristung zu. Im derzeitigen Rechtsmittelsystem seien gleichwertige alternative Regelungen, die eine Überlastung des Bundesgerichtshofs verhindern, nicht ersichtlich. Eine bessere Lösung sei erst bei einer grundlegenden Überarbeitung des Rechtsmittelsystems im Rahmen einer umfassenden ZPO-Reform zu erwarten. Die Schaffung weiterer Spezialkammern und -senate und die vorgesehenen Länderöffnungsklauseln begrüßten sowohl Schultzky als auch Fölsch.

Lothar Schmude von der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) plädierte ebenfalls für eine dauerhafte Festschreibung der Wertgrenze für Nichtzulassungsbeschwerden und den Ausbau der Spezialisierung der Landes- und Oberlandesgerichte. Weitere Vorhaben des Entwurfs wie die unverzügliche Anbringung des Ablehnungsgesuchs sehe die BRAK jedoch kritisch. Er bedauerte, dass deren Bedenken und Anregungen nicht im Regierungsentwurf berücksichtigt worden seien.

Wolfgang Schwackenberg als Vertreter des Deutschen Anwaltvereins betonte die Notwendigkeit einer endgültigen Lösung für die Nichtzulassungsbeschwerde. Die dauerhafte Einführung einer Streitwertgrenze von 20.000 Euro stelle jedoch eine dramatische Rechtsmittelverkürzung dar und sei untauglich, erklärte er. Sollte sich die Belastung des BGH als tatsächlich zu groß erweisen, könne die adäquate Antwort hierauf nur sein, strukturelle Änderungen des Verfahrens beim BGH und eine Kapazitätserweiterung zu schaffen. Zudem sei es unverständlich warum das Gebiet des Familienrechtes und das der Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit insgesamt einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht zugänglich gemacht wird.

Argumente gegen eine Verstetigung der Wertgrenze kamen auch von den beiden eingeladenen Rechtswissenschaftlern. Reinhard Greger von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erklärte, mit der ZPO-Reform von 2001 habe der Gesetzgeber ein schlüssiges, auf die zügige Herstellung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zugeschnittenes Rechtsmittelsystem geschaffen. Die Nichtzulassungsbeschwerde von einer Beschwerdesumme abhängig zu machen, sei ein gravierender Bruch dieses Systems gewesen. Nicht zu verstehen sei, dass der damals als Interimslösung hingenommene Systembruch jetzt durch Übernahme in die ZPO verewigt werden solle. Vertretbar erscheine allenfalls eine Herabsetzung auf 5.000 Euro.

Beate Gsell, Lehrstuhl-Inhaberin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hält die Wertgrenze für ungeeignet, eine Überlastung des Bundesgerichtshofes dauerhaft zu verhindern. Sie sollte deshalb nicht perpetuiert werden, erklärte sie. Bereits vielfach sei zurecht darauf hingewiesen worden, dass die aktuelle Ausgestaltung des Zugangs zur Revision in Zivilsachen strukturell problematisch sei. Die Nichtzulassungsbeschwerde werde von den Parteien eingelegt, um die Korrektur einer als unrichtig empfundenen Entscheidung zu erreichen, die an öffentliche Revisionszwecke gebundene Revision stehe dafür aber in der Regel nicht zur Verfügung.

Gsell und Limperg nahmen auch Stellung zu dem Antrag der Grünen für ein Gesetz, mit dem der strategischen Verhinderung der Revision entgegengewirkt werden soll (19/14027). Mit Verweis auf eine fehlende höchstrichterliche Endentscheidung des BGH im "Diesel-Skandal" heißt es in dem Antrag, es scheine einer gezielten Prozessstrategie der Volkswagen AG zu entsprechen, Berufungsurteile und erst recht eine ungünstige Grundsatzentscheidung des BGH durch ein für den jeweiligen Prozessgegner günstiges außergerichtliches Vergleichsangebot zu verhindern. Gsell erklärte, angesichts des Missstandes prozesstaktischen Abwendens höchstrichterlicher Grundsatzurteile sollte der BGH zur Verwirklichung der öffentlichen Revisionszwecke ermächtigt werden, über Grundsatzfragen auch dann zu entscheiden, wenn es infolge Zurücknahme des Rechtsmittels nicht mehr zu einer Entscheidung über den Rechtsstreit kommt. Sie empfahl die Einführung eines effektiven auf Leistung gerichteten kollektiven Gruppenklageverfahrens.

Limperg erklärte, sie teile die Wahrnehmung dass ein Revisionsverhinderungsverhalten dazu geeignet ist, insbesondere in Verbraucherrechtsstreitigkeiten Grundsatzentscheidungen gezielt hinauszuzögern. Dies sorge nicht nur für eine unnötige Rechtsunsicherheit in Sachverhalten mit Breitenwirkung, sondern auch für Frustration bei den Senaten des BGH, die ihrer Kernaufgabe nicht nachkommen könnten. Es sei deshalb zu erwägen, einen Musterfeststellungsantrag zumindest im Revisionsverfahren zu schaffen.

Mit ihrem zweiten Antrag wollen die Grünen mit Blick auf Zivilprozesse die Verfahren und Abläufe effektiv gestalten (19/14028). Die FDP plädiert in ihrem ersten Antrag (19/14038) dafür, die Nichtzulassungsbeschwerde auch bei kleinen Streitwerten zuzulassen und die Wertgrenze bei der Nichtzulassungsbeschwerde wieder abzuschaffen. Der zweite Antrag der Fraktion (19/14037) sieht vor, Zivilprozesse zu modernisieren, und fordert ein leistungs- und wettbewerbsfähiges Verfahrensrecht. Dieser Antrag wurde von mehreren Sachverständigen unterstützt.

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Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 1222 - 4. November 2019 - 17.46 Uhr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2019

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