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PRESSEKONFERENZ/1024: Kanzlerin Merkel und der Ministerpräsident der Republik Albanien, 08.07.2015 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz in Albanien - Mittwoch, 8. Juli 2015
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem Ministerpräsidenten der Republik Albanien, Rama

Sprecher: Bundeskanzlerin Angela Merkel, Ministerpräsident Edi Rama

(Die Ausschrift des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultanübersetzung)


MP Rama: Guten Tag! Ich möchte Bundeskanzlerin Merkel meinen Dank dafür aussprechen, dass sie heute zu dem ersten bilateralen Besuch eines deutschen Kanzlers in Albanien hier bei uns ist. Wir alle wissen, wie viele Angelegenheiten und wie viele Menschen Ihre Zeit in Anspruch nehmen möchten. Die tiefe Griechenland-Krise, aber auch die Krisen innerhalb der Europäischen Union, die Flüchtlingsproblematik, die jeden Tag wichtiger wird und eine europäische Antwort verlangt, terroristische Bedrohungen, Erderwärmung usw.: Was auch immer und wie groß das Anliegen sein mag, alle wollen die Meinung der Kanzlerin hören, denn sie ist wichtig.

Natürlich ist es für uns besonders wichtig, dass sie inmitten dieser Angelegenheiten ihr Interesse nicht nur an uns, sondern auch an regionalen und geopolotischen Angelegenheiten zeigt. Es ist ebenfalls sehr wichtig für uns, dass die Kanzlerin auch angesichts der Geschichte unsere Bemühungen und unsere Schwierigkeiten versteht, die nötigen Veränderungen auf dem Weg aus der grauen Diktatur zu einer europäischen Demokratie zu leisten.

Wir hatten heute wieder ein hervorragendes Gespräch in einer freundschaftlichen und vertrauensvollen Atmosphäre, wie sie die Kanzlerin zu schaffen weiß. Sie hat mir die Gelegenheit gegeben, offen und zuversichtliche über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen. Es war das dritte Mal innerhalb eines Jahres, dass ich diese Gelegenheit hatte. Ich glaube, dass dies eine Tatsache ist, die sehr wichtig für unsere Zusammenarbeit, aber auch für den Willen ist, diese Partnerschaft zu stärken.

Frau Bundeskanzlerin, im Namen der Albaner möchte ich Ihnen meinen herzlichen Dank für die Unterstützung aussprechen, die Sie und Deutschland Albanien gegeben haben, um Teil eines wirtschaftlich starken Europas zu werden, eines Europas, das zusammenhängt und als wichtigste Wertegemeinschaft, die wir kennen, politisch vereint ist. Auch in diesen Tagen der Unruhen ist es sehr wichtig, dass wir uns immer die Lebenswichtigkeit der Europäischen Union vor Augen halten.

Die Frau Bundeskanzlerin hat einen ausgesprochen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass wir die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union auf ein anderes Niveau bringen. Das ist wichtig für Frieden und Wohlstand in unserer Region. Ihre Initiierung des Berliner Prozesses im letzten August im Bundeskanzleramt hat zum ersten Mal in der Geschichte der Länder dieser Region alle Regierungschefs dieser Länder zusammengeführt, hat alles beschleunigt und hat die Epoche einer neuen Zusammenarbeitsära eröffnet. Hier lag die Zukunft auch ein bisschen gefangen in der Vergangenheit.

Das nächste Treffen in diesem Prozess, das in unserer Region wieder eine Zusammenarbeit schaffen wird, wird im kommenden August in Wien stattfinden. Wir haben von unserer Seite alles dafür geleistet und haben Fortschritte gemacht, die bis vor einigen Jahren undenkbar waren - auch für die Optimisten unter uns. Wir haben die ersten beiden Ministerpräsidenten-Besuche mit Serbien ausgetauscht und wir sind fest entschlossen, gemeinsam mit unseren serbischen Nachbarn diesen Weg zu gehen und dem guten Beispiel von Deutschland und Frankreich zu folgen, um unsere Zusammenarbeit zu stärken und immer weiter zu kooperieren - im bilateralen, aber auch im regionalen Bereich. Wir haben uns auch das deutsch-französische Modell im Jugendaustausch vor Augen genommen, um gemeinsam mit unseren serbischen Freunden eine Perspektive der Zusammenarbeit von jungen Mädchen und Jungen zu schaffen. Wir haben natürlich auch einen gemeinsamen Willen, das, was uns historisch trennt, unsere historische Vergangenheit, beiseite zu lassen, nach vorne zu schauen und für die Region das zu leisten, was Deutschland und Frankreich für die Zukunft von Europa geleistet haben.

Wir werden mit einer optimistischen Bilanz nach Wien fahren und wir sind hoffnungsvoll, dass wir gut gearbeitet haben. Wir werden noch mehr arbeiten, um weiterhin die Unterstützung der Frau Bundeskanzlerin auf diesem Weg zu bekommen. Genauso wichtig wie die Unterstützung von Deutschland ist aber auch die Unterstützung der Europäischen Union. Die Europäische Union wurde auf der Grundlage der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit gegründet, und unsere ganze Region ist Zeuge davon, wie wichtig dies ist und wie groß die Anziehungskraft der Europäischen Union für unseren gemeinsamen Weg ist, den wir mit unseren Reformen gehen und auf dem wir nach vorne schauen. Es ist wichtig und es ist klar, dass die Europäische Union den Balkan braucht, genauso wie der Balkan die Europäische Union braucht. Ohne diese große Anziehungskraft werden es die Balkanländer nicht schaffen, ihre Alpträume der Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Unser Friede, den wir bis jetzt geschafft haben und vor dessen Erreichung wir blutige Flüsse überquert haben, hat nur einen gemeinsamen Nenner: Europa. Es ist ein europäischer Friede unter Völkern, die aus den Balkankriegen kommen und die durch schwierige Reformen - politische Reformen, Integrationsreformen - und auch durch ein gemeinsames Friedensprojekt darauf beharren, Teil eines gemeinsamen Europas zu werden. Wir alle wissen so gut wie kein anderer, dass niemand außer uns diese Reformen und diese Schritte leisten kann, um endlich Teil der Europäischen Union zu werden. Aber natürlich muss in unserer gemeinsamen Geschichte auch Europa seinen Beitrag dazu leisten, indem es diesen Prozess nicht als "business as usual" ansieht; denn unsere schwierige Zeit aufgrund der anderen Grundlagen erlaubt uns nicht, unsere gemeinsame Zukunft als etwas von der Vergangenheit Getrenntes zu sehen.

Was die Flüchtlingsproblematik betrifft, so teilen wir Ihre ernsthafte Sorge. Wir wissen und uns ist klar, dass die Albaner kein Asylrecht in der Europäischen Union haben. Das ist aber eine Angelegenheit, die nicht nur als Sicherheitsproblem angesehen wird - hier haben wir natürlich eine große Zusammenarbeit nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit den anderen europäischen Ländern -, sondern auch als soziales Problem, das durch wirtschaftliche und soziale Unterstützung der EU für unser Land erleichtert werden kann. Unsere Hoffnung auf den Arbeitswillen und auf die Zusammenarbeit der Europäischen Union wird uns natürlich helfen; eine Unterstützung in diesem Bereich würde uns weiterhin stärken.

Wir sind so fest dazu entschlossen wie nie zuvor, unseren Weg der Reformen fortzuführen. Die Europäische Kommission hat uns auch zu unseren Fortschritten beglückwünscht. Wir wünschen uns kein Geschenk und auch keine Reduktion oder Ermäßigung - nicht nur, weil wir uns darüber im Klaren sind, dass in jedem Schritt internationale Wahrheit gesprochen werden muss und wir die Standards erfüllen müssen, sondern vor allem auch, weil wir uns darüber im Klaren sind, dass der Integrationsprozess kein Prozess ist, den Albanien nur deshalb erfüllen soll, weil Brüssel es verlangt, sondern dass es ein Prozess ist, den Albanien erfüllen soll, weil es sehr wichtig ist und weil die Zukunft unserer Kinder es von uns verlangt.

Frau Merkel, die Abbildung des Händeschüttelns im Hintergrund ist das Werk eines großen Zeitgenossen, Thomas Demand. Er hat sich dazu bereiterklärt, seine Werke in dem Raum im ersten Stock auszustellen, der in Zukunft das Zentrum für Offenheit und Dialog sein wird. Dieses Werk, das hier ausgestellt ist, wird zum ersten Mal in Albanien ausgestellt. Es heißt "Sign" und führt auf die Szene eines Workshops zurück, in dem ein Zeichen für die Weltausstellung 1939 erstellt wurde. Das Händeschütteln symbolisiert noch heute die Partnerschaft zwischen den Völkern. Natürlich ist dieses Zeichen immer noch unvollständig, das Werk ist unvollständig; es spricht über die Hoffnung, aber auch über die Übelkeit, die uns zu schaffen gemacht hat.

Ich danke Ihnen vielmals für das Händeschütteln, für die Partnerschaft zu Deutschland als größter Geldgeber in Albanien und als großer Unterstützer auf unserem ganzen Weg vom Kommunismus bis heute. Ich möchte Ihnen versichern, dass die Albaner niemals Ihre freundschaftliche Hand zu dieser Zeit, die für Europa so komplex ist und die auch für Albanien so wichtig ist, vergessen werden.

Vielen Dank! - Ich gebe Ihnen nun das Wort.

BK'in Merkel: Herzlichen Dank, Herr Ministerpräsident, lieber Edi Rama! Ich freue mich, dass ich heute das Versprechen einlösen kann, das ich gegeben habe, dass ich nach Tirana, nach Albanien kommen würde - ich tue das sehr gerne. Ich habe schon beim Herfahren gesehen, dass sich viele Menschen an der Straße gefreut haben. Das zeigt, dass wir eine sehr gute und breit angelegte Zusammenarbeit haben und dass es sehr gute Beziehungen zwischen unseren Ländern gibt.

Ich freue mich natürlich, dass wir die Pressekonferenz heute in diesem symbolhaften Raum abhalten können; denn dieser Raum steht für den Weg, den Albanien seit Anfang der 90er-Jahre bis zum heutigen Tag gegangen ist. Dies ist ein Ort, an dem Dialog geführt werden soll, an dem kontrovers diskutiert werden soll. Wenn man weiß, wie viele Jahre lang Albanien nicht diese Möglichkeit hatte - die Älteren im Land werden sich daran erinnern -, dann erkennt man, dass das ein großer Fortschritt ist.

Natürlich haben wir über die verschiedenen Themen gesprochen, vor allen Dingen erst einmal über die bilateralen Beziehungen. Ich glaube, wir haben gerade in der wirtschaftlichen Kooperation Möglichkeiten, noch mehr zu tun. Wir werden heute auch noch an einem Business-Forum teilnehmen, das durch Staatssekretär Baake vom Bundeswirtschaftsministerium geleitet wird. Ich denke, Ihre Anstrengungen und die Anstrengungen der albanischen Regierung hin zu einem verlässlichen Rechtssystem sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig; denn deutsche Investoren sind immer dann interessiert zu kommen, wenn sie sich auf feste und transparente Rahmenbedingungen verlassen können.

Das, was hier mit der Schaffung eines neuen Rechtssystems geleistet wird, verdient allergrößte Hochachtung und ist auch Teil des Beitrittsprozesses, Teil des Weges vom Kandidatenstatus hin zur Eröffnung der ersten Kapitel. Wir versuchen Albanien auf diesem Weg zu unterstützen. Wir haben über die Schwierigkeiten gesprochen, ein ganz neues Rechtssystem aufzubauen. Ich denke aber, Albanien hat hier die besten Erfahrungen aus ganz Europa zusammengenommen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen und die organisierte Kriminalität und die Korruption zu bekämpfen.

Ich bin mir ganz sicher, dass wir vielfältige Möglichkeiten haben, die Wirtschaftsbeziehungen auszubauen. Da gibt es den Bereich des Tourismus, da gibt es den Bereich der Stromversorgung, da gibt es den gesamten Bereich der Telekommunikation - um nur einige Beispiele zu nennen. Wir werden uns, soweit die Politik das kann, auch dafür einsetzen, dass hier noch mehr Kontakte entstehen.

Wir haben darüber gesprochen, dass die Jugend Perspektiven braucht, und haben in diesem Zusammenhang auch über das Flüchtlingsproblem gesprochen. Albanien hat Kooperationen zum Beispiel mit dem Bundesland Baden-Württemberg über den Aufbau eines beruflichen Bildungssystems, also des dualen Bildungssystems. Ich werde mit Ministerpräsident Kretschmann auch noch einmal darüber sprechen, ob wir hier noch mehr tun können. Wir haben auch darüber gesprochen, dass wir in den Berufen, die in Deutschland Mangelberufe sind, die legale Zuwanderung nach Deutschland noch bessern regeln müssen, zum Beispiel, indem wir deutlich machen, was für Bildungsabschlüsse etwa bei Krankenschwestern gefordert sind. Die Frage ist also: Wie kann man die Legalität hier wirklich voranbringen? Denn wir sind uns einig: Albanien ist kein Land, für das in Deutschland Asylanträge anerkannt werden; deshalb muss das immer wieder gesagt werden. Aber mit Blick auf die Berufe, in denen Deutschland Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer braucht, kann Albanien natürlich auch ein Land sein, aus dem Menschen legal zur Arbeit zu uns kommen.

Wir haben dann über die Region gesprochen. Ich freue mich, dass wir mit unserer Westbalkankonferenz einen guten Stein ins Wasser geworfen haben. Daraus entsteht eine Vielzahl von Initiativen. Ich werde auch in Wien wieder dabei sein, wenn die zweite Balkankonferenz stattfindet.

Wir haben aber auch darüber gesprochen, dass es jetzt Projekte, Initiativen und Vorstellungen im Bereich des Jugendaustausches, aber auch im Bereich der Verkehrsverbindungen gibt. Jetzt wird es darauf ankommen, dass auch etwas zu sehen ist, das heißt, dass wir im Rahmen von Public-Private Partnership EU-Gelder und private Gelder vernünftig zusammenbringen, damit dann auch sichtbare Erfolge erreicht werden. Denn wir wissen: Wenn es Verkehrsverbindungen gibt und wenn es menschliche Verbindungen gibt, dann wachsen die Länder auch zusammen.

Wir unterstützen sehr Ihre Bemühungen, zusammen mit Ministerpräsident Vuci'c Besuche auszutauschen in einem Bereich, in dem das viele Jahre lang so nicht möglich war und in dem es natürlich immer noch Spannungen gibt, die aber durch Gespräche schrittweise überwunden werden können. Wir schätzen auch sehr Ihre Rolle in Bezug auf die Behandlung von schwierigen Situationen in Mazedonien, genauso wie in Bezug auf den Prozess im Kosovo. So müssen wir die Dinge hier Schritt für Schritt voranbringen. Da will ich ganz deutlich sagen: Dies wird nach meiner Einschätzung nur dann gelingen, wenn die europäische Perspektive der Länder auf dem westlichen Balkan nicht nur auf dem Papier existiert, sondern wenn sie Realität wird.

Wir haben hier nach dem Beitritt Kroatiens einige Erfolge erzielt. Serbien hat den Kandidatenstatus und steht relativ kurz vor der Eröffnung eines neuen Kapitels. Albanien hat einen Aktionsplan, nachdem es vor etwa einem Jahr Kandidat geworden ist. Dieser Aktionsplan wird sehr ambitioniert abgearbeitet, und dann wird man auch dazu kommen, dass ein Kapitel eröffnet wird.

Da ich höre, dass manch einer sagt "Die wollen das auf der europäischen Seite alles verzögern", darf ich Ihnen sagen: Es ist in unserem eigenen Interesse, dass wir unsere Versprechung, dass die Länder auf dem westlichen Balkan eine europäische Perspektive haben, auch wahrmachen und diese Perspektive realisieren; denn das hat etwas mit unserer Glaubwürdigkeit zu tun. Auf Ihrer Seite hat das natürlich etwas mit der Erfüllung von Bedingungen zu tun, aber ich habe hier festgestellt, dass daran sehr hart gearbeitet wird.

Insofern wünsche ich Erfolg bei all den schwierigen Bemühungen für Ihr Land, aber vor allen Dingen für die Menschen im Land. Sie haben wirtschaftlich zum Teil noch eine sehr harte Zeit. Gerade die Jugend braucht eine Perspektive. Deshalb ist gerade die Frage unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit eine zentrale Frage. Wir haben eine staatliche wirtschaftliche Zusammenarbeit über unser Entwicklungsministerium. In diesem Rahmen sind Anfang dieser Woche sechs Verträge unterzeichnet worden. Ich kann hier heute auch ankündigen, dass eines der Projekte die Verbesserung der energetischen Situation in den Wohnheimen des Universitätscampus in Tirana ist. Wir werden hier Gelder einsetzen, um die Lebensbedingungen der Studentinnen und Studenten zu verbessern. Ich glaube, das ist ein kleiner, praktischer Schritt, an dem Menschen auch sehen, dass etwas passiert, was ihre persönliche Lebenssituation verbessert. Das sind ja dann auch die Projekte, die sozusagen in der realen Lebenssituation der Menschen lebendig werden.

Herzlichen Dank für den freundschaftlichen Empfang und für unsere Gespräche!

Frage: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Albanien ist seit einem Jahr Beitrittskandidat, und während dieser Zeit ist von der Regierung eine Handvoll von Reformen unternommen worden; auch die Außenpolitik hat in dieser Hinsicht Bemühungen geleistet. Denken Sie, dass es nun Zeit ist, einen Termin dafür zu setzen, dass wir weiter gehen?

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Rama, plant Ihre Regierung, diesen Prozess noch einmal zu erweitern und zu beschleunigen?

BK'in Merkel: Es werden in diesem Zusammenhang jetzt keine Zeitpunkte gesetzt, sondern man geht eigentlich immer nach der Erfüllung von bestimmten Zielen vor. Das heißt, der Kandidatenstatus wurde verliehen, als ein bestimmtes Arbeitsprogramm abgearbeitet war. Dann war klar: Nicht gleich am nächsten Tag wird das erste Kapitel eröffnet, sondern erst einmal musste noch ein Aktionsplan vorgelegt werden. In diesem Aktionsplan gibt es Prioritäten - wir haben darüber gesprochen -, und nicht ich, sondern die Europäische Kommission entscheidet, ob und wann etwas erfüllt ist.

Ich nenne als eine dieser Prioritäten einmal die Erneuerung des Rechtssystems. Soweit ich das verstehe, ist das etwas, was große Fortschritte gemacht hat, aber es ist eben noch nicht vollständig umgesetzt. Das heißt also, die Europäische Kommission wird jetzt auf die Umsetzung warten, und manchmal wartet sie auch darauf, ob das Ganze nun funktioniert - manches steht zwar als Gesetz auf dem Papier, aber die Frage ist, ob es in der Praxis auch wirklich funktionsfähig ist.

Jetzt weiß ich, dass viele Länder darauf warten, dass es vorangeht, und oft auch sagen: Meine Güte, warum dauert das so lange? Ich darf Ihnen versichern: Es wird nichts künstlich verzögert und es werden nicht irgendwelche Schwierigkeiten aufgebaut. Wir wollen vielmehr, dass hier Fortschritte erzielt werden, aber man definiert dafür keinen Zeitpunkt, sondern es wird von Zeit zu Zeit immer wieder bewertet, wo man steht - und ich glaube, es wird überall anerkannt, dass Albanien sehr große Fortschritte macht.

MP Rama: In Anbetracht dessen, was die Frau Kanzlerin gerade erklärt hat, und auch wenn wir uns vor Augen halten, dass wir auf unserem Arbeitstisch die ganze Liste mit den Anforderungen haben, die wir erfüllen müssen - basierend auf fünf Schwerpunkten -, möchte ich sagen: Wir haben uns vorgenommen - und das werden wir auch einhalten -, dass wir bereits Ende Herbst dieses Jahres alles erfüllen werden. Hierzu gehört auch das ganze Paket zum Rechtssystem, das jetzt an das Parlament gelangt ist, das eine der tiefgründigsten Reformen in Albanien ist. Zu diesem Zeitpunkt werden wir, denke ich, auch das Recht haben, einen Termin anzufragen, um die weiteren Verhandlungen zu beginnen. Ich bin mir sicher und zuversichtlich, dass das ein Prozess ist, der bei uns liegt und der für uns wichtig ist. Alles, was wir machen, sind nicht bloß Aufgaben, die wir erfüllen, weil Brüssel es von uns verlangt; es sind vielmehr Aufgaben, die unserer Modernisierung und unserer Demokratisierung dienen.

Ich bin mir sicher: Sobald wir das alles erfüllt haben, wird die Frau Kanzlerin die erste sein, die uns unterstützen wird, um diese Verhandlungen zu beginnen.

Frage: Herr Ministerpräsident, in Europa diskutiert man im Moment weniger über Erweiterungen als über ein mögliches teilweises Auseinanderbrechen mit Blick auf Großbritannien, mit Blick auf Griechenland. Auch die Lösung bestimmter Probleme - zum Beispiel in der Flüchtlingsthematik - ist durch die Größe der Europäischen Union nicht gerade leichter geworden. Für wie glaubwürdig halten Sie denn überhaupt die europäische Perspektive, die Ihnen da geboten wird?

Frau Bundeskanzlerin, können Sie sagen, ob Sie nach den Eindrücken, die Sie hier jetzt gewonnen haben, in Deutschland darauf hinarbeiten werden, Albanien zum sicheren Herkunftsland erklären zu lassen?

MP Rama: Zunächst einmal denke ich, dass die Perspektive der Europäischen Union keine getrennte Perspektive ist; sie ist nicht getrennt in Länder, die Teil davon sind, und solche, die es werden wollen, sondern es ist eine gemeinsame Perspektive. Ich glaube auch, dass die Integration des Westbalkan in die Europäische Union nicht nur etwas ist, was wir brauchen, sondern auch etwas ist, was die Europäische Union braucht, und zwar als ein Friedensprojekt, als ein Projekt, das Wohlstand, aber auch Sicherheit schafft; denn ich denke nicht, dass es in der Europäischen Union jemanden gibt, der eine Grenze der Konfliktlösung auf der anderen Seite der Adria sehen will. Ich denke, es gibt keinen, der den Balkan - der heute unter den besten Bedingungen steht - als eine eigene Zone belassen möchte. Insofern: Wir alle haben einen gemeinsamen Nenner, und das ist Europa. Aber wenn wir das Morgen vergessen und das Wort hier verlieren, dann ist das nicht nur schlecht für unsere Kinder, sondern dann ist das auch schlecht für Ihre Kinder. Das würde eine Tragödie nicht nur für den Balkan sein, sondern für ganz Europa.

Auf der anderen Seite - um ehrlich zu sein -: Ich weiß, dass wir als Balkanländer ein bisschen altmodisch erscheinen, da wir unbedingt in die Europäische Union wollen - es gibt ja andere, die aus der Europäischen Union heraus wollen. Ich verstehe das, aber wir denken, wir wollen lieber altmodisch sein als Teil einer antieuropäischen Welle zu werden und so aus der Geschichte zu treten. Wir wollen das nicht und wir wollen nicht in eine fragwürdige Richtung gehen. Ich denke auch, dass es trotz der ganzen Unannehmlichkeiten von heute immer ein reflektierendes Moment im Hinblick auf die Frage gibt: Ist Europa eine gute Kraft oder eine schlechte Kraft? Ich denke, ich weiß die Antwort, und ein Bestandteil meiner Antwort ist auch die Frau Bundeskanzlerin.

Was die Flüchtlingsproblematik betrifft, so ist dies eine Angelegenheit, die immer wichtiger wird und die auch immer auf eine gemeinsame Antwort wartet. Wir können dazu aber zwei Dinge sagen.

Erstens. Wir arbeiten mit Deutschland, aber auch mit anderen Ländern eng zusammen, um alles zu unterstützen und alles daranzusetzen, um zu verhindern, dass die Albaner (als Flüchtlinge) in die europäischen Länder reisen. Wir verlangen von Deutschland auch das, was Sie gerade gefragt haben, also die Einstufung als sicheres Herkunftsland. Auf der anderen Seite haben wir mit der Frau Bundeskanzlerin aber auch darüber gesprochen, dass wir parallel dazu den Menschen eine Perspektive geben müssen. Das muss zum einen eine politische Perspektive sein, die in der Eröffnung der Verhandlungen besteht. Das ist natürlich unser Hauptziel und das würde auch die Behauptung verneinen, dass die Europäische Union die Albaner nicht haben will, weil sie keine Christen sind. Zum anderen wird aber für junge Albaner auch die Perspektive eröffnet, als ausgebildete Fachkräfte nach Deutschland zu reisen - sei dies im Krankenpflegebereich oder auch in anderen Bereichen.

Das ist unser Weg, und daran werden wir gemeinsam mit Deutschland und auch mit anderen Ländern der EU arbeiten. Es gibt hier aber keine einfache Antwort, vielmehr ist die Antwort komplex. Es geht also sowohl um mehr Zusammenarbeit für Sicherheit als auch um mehr Zusammenarbeit für Wirtschaft.

BK'in Merkel: Wir haben ja über die Frage der Flüchtlinge von albanischer Seite gesprochen. Hierzu gibt es auch eine sehr enge Zusammenarbeit des albanischen Innenministers mit dem deutschen Innenminister, Thomas de Maizière. Von albanischer Seite hätte man nichts dagegen, wenn Albanien sicheres Herkunftsland würde. Die Bundesregierung - zumindest ich persönlich - hätte auch nichts dagegen, es muss nur politisch durchsetzbar sein. Das bedarf auch der Zustimmung der Bundesländer.

Wir haben uns jetzt für einen anderen Weg entschieden, weil wir ja praktisch handeln wollen - und das hat in unseren Gesprächen auch eine Rolle gespielt -: Je schneller ein Asylantrag bearbeitet wird, umso weniger gibt es den Effekt, dass die Menschen erst einmal Arbeitsangebote bekommen und in einer Kommune unterkommen. Das ist ja Teil der Verabredung, die Bund und Länder jetzt über die veränderte Behandlung der Asylanträge durchführen werden. Ich glaube, das wird seinen Effekt entwickeln.

Insofern arbeiten wir hier genau auf einer Linie; wir sind uns hier vollkommen einig, wie man ja eben an den Worten des Ministerpräsidenten gehört hat. Ich finde es auch gut, dass wir sehr offen darüber sprechen können. Denn es kann ja nicht sein, dass man auf der einen Seite einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellt und es auf der anderen Seite Asylanträge in Deutschland geben soll, die genehmigt werden. Die Anerkennungsquote ist ja auch verschwindend klein. Insofern hat die Praxis gezeigt, dass man eigentlich von einem sicheren Herkunftsland sprechen kann.

Frage: Meine Frage richtet sich sowohl an die Kanzlerin als auch an den Ministerpräsidenten.

Frau Bundeskanzlerin, es ist klar, wie sehr Sie den Balkan unterstützen; das haben Sie auch auf der Westbalkankonferenz gezeigt. Alle Länder der Region haben aber bereits gemeinsame Projekte für die wirtschaftliche Unterstützung erarbeitet. Gibt es ein konkretes wirtschaftliches Projekt, das Sie unterstützen wollen, oder bleibt es dem Schicksal dieser Länder überlassen, diese Projekte zu verwirklichen?

Wenn wir darüber sprechen: Die Wirtschaft in Albanien ist eine Wirtschaft, die direkt von der Griechenland-Krise betroffen wird. Gibt es hierzu einen wirtschaftlichen Plan?

Vielleicht noch eine letzte Frage: Alle Regionen haben einen Leader. Sie sind natürlich die Regierungschefin von ganz Europa. Sehen Sie, dass es auch auf dem Balkan einen solchen Leader gibt, also jemanden, der alles zusammenführt? Denn es scheint, als gäbe es von Ihrer Seite aus eine Präferenz. Ist Herr Rama oder ist Herr Vuci'c der Leader auf dem Balkan?

BK'in Merkel: Es gibt weder einen Leader in Europa, der für alles zuständig ist - es gibt natürlich den Kommissionspräsidenten und den Ratspräsidenten, und ansonsten gibt es Regierungschefs und Präsidenten der einzelnen Länder. So ist das hier im westlichen Balkan auch, und das ist auch vernünftig so. Deshalb veranstalten wir auch eine Westbalkankonferenz.

Es gibt konkrete Projekte: Es gibt Projekte des Jugendaustauschs, es gibt Projekte für Autobahnen, also Verkehrsprojekte, zum Beispiel entlang der ionischen Küste - das ist ein sehr spannendes Projekt. Wir haben darüber gesprochen, dass wir jetzt zur Realisierung kommen müssen. Die Komplikation besteht noch darin, die europäischen Gelder, die es durchaus gibt, mit privaten Geldern zusammenzubringen. Gerade mit Blick auf die Konferenz im August werden wir noch einmal darüber sprechen, wie wir jetzt auch Signale der Umsetzung setzen können.

Meine Botschaft heißt also: Auch wenn es nicht einen gibt, der für alle Länder verantwortlich ist - das wäre gegen die Demokratie -, so kann es doch eine gute Kooperation geben, aus der dann auch sehr gute Projekte entstehen.

Ich will vielleicht noch einen Satz zur vorherigen Frage sagen: In Deutschland - das will ich den Menschen in Albanien sagen - leben vier Millionen Muslime, und wir leben gut zusammen. Die Idee, wir würden Albanien nicht in der Europäischen Union haben wollen, weil hier Muslime leben und bei uns mehr Christen leben, ist also völlig falsch. Wir haben ein sehr, sehr gutes Miteinander in Deutschland und haben dafür auch viel Kraft eingesetzt - auch was die Integration von Migrantinnen und Migranten anbelangt. Da muss man also keine Sorge haben.

Mittwoch, 8. Juli 2015

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem
Ministerpräsidenten der Republik Albanien, Rama, am 8.7.2015
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/07/2015-07-09-merkel-rama.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2015

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